ZEIT für X
Alte Schiffe an einem Strand

Die Kohlenstoffwende: Dekarbonisierung in der Industrie

09. Oktober 2025

Die deutschen Klimaziele sind ehrgeizig: Bis 2045 sollen Industrie­branchen wie Stahl, Zement oder Chemie praktisch keine Treib­haus­gase mehr ausstoßen. Für Sektoren, die traditionell zu den größten Emittenten zählen, ist das eine gewaltige Aufgabe. Doch mitten im Ruhrgebiet beginnt der Wandel.

Ein Beispiel steht in Duisburg: das vom Bundes­wirtschafts­ministerium geförder­te Forschungs- und Real­labor für die klima­freundliche Produktion von Stahl. H2Stahl heißt das Großprojekt, bei dem Industrie und Forschungs­partner den Umbau der Eisen- und Stahl­produktion erproben. Herzstück ist ein Verfahren, das die klassische Hoch­ofen­technik ersetzen soll. Während Hochöfen mit Kohle betrieben werden und das Eisenerz einschmelzen, funktionieren die neuen Direkt­reduktions­anlagen mit Gas und perspektivisch mit grünem Wasserstoff. In der Anlage wird dem Eisen­erz bei rund 1.000 Grad Celsius der Sauer­stoff entzogen (Reduktion), sodass „direkt reduziertes Eisen“ entsteht, der sogenannte Eisen­schwamm (DRI). In einem zweiten Schritt schmilzt ein neu entwickelter DRI-Ofen den porösen Schwamm zu Roheisen ein. Der Vorteil: Wenn Wasserstoff eingesetzt wird, entsteht dabei Wasser­dampf statt CO2. Damit wird ein Prozess dekarbonisiert, der bislang fast 30 Prozent der Treib­haus­gas­emissionen der deutschen Industrie verursacht.

Während viele deutsche Stahlhersteller bereits an Direkt­reduktions­anlagen bauen, liefert das Duisburger Real­labor parallel die notwendigen Daten für deren Anwendung. „Die Pilot­anlagen stecken voller Mess­technik, um die ablaufenden Reaktionen zu erforschen und damit der Industrie das notwendige Wissen zum Betrieb der eigenen Groß­anlagen an die Hand zu geben“, sagt BFI-Geschäfts­führer Michael Hensmann. Da noch nicht genügend grün erzeugter Wasserstoff für die Direkt­reduktion zur Verfügung steht, testen die Forschenden zum Beispiel gerade, wie sich Mischungen aus Erdgas und Wasser­stoff einsetzen lassen. Um die Transformation voranzutreiben, bereitet die Versuchs­­anlage die Industrie auch auf Zwischen­lösungen vor.

Weiterverwendung von CO2

Doch Dekarbonisierung bedeutet nicht nur weniger CO2 auszustoßen. Es geht auch darum, den Kohlenstoff sinnvoll zu nutzen. Roh Pin Lee, Professorin für Dekarbonisierung und Transformation der Industrie an der Branden­burgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg, formuliert es so: „Die angestrebte Transformation ist im Prinzip eine Kohlen­stoff­wende, also der Weg zu einem intelligenten und nach­haltigen Umgang mit Kohlen­stoff.“ Gemeint ist damit eine Kreis­lauf­wirtschaft, die Kohlen­stoff nicht einfach entweichen lässt, sondern zurück­führt und nutzbar macht.

Die angestrebte Transformation ist im Prinzip eine Kohlen­stoff­wende, also der Weg zu einem intelligenten und nach­haltigen Umgang mit Kohlen­stoff.

Prof. Dr. Roh Pin Lee, Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg

Um abgeschiedenes CO2 aus der Industrie in die Wertschöpfungs­kette zurück­führen, laufen deutschland­weit mehrere Forschungs­projekte. Eines davon ist das vom Bund seit rund zehn Jahren ­geförderte Groß­forschungs­projekt Carbon2Chem, in dem Industrie­unternehmen der Stahl-, Chemie- und Energie­branche mit zahl­reichen Universitäten und Forschungs­instituten zusammen­arbeiten. Im Fokus steht die Umwandlung von Hütten­gasen der Stahl­produktion in wertvolle chemische Vorprodukte, unter anderem für Kraftstoffe, Kunststoffe oder Düngemittel.

Studenten der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg bei einer vom Lehrstuhl für Dekarbonisierung und Transformation (DTI) organisierten Fachexkursion im Zementwerk CEMEX in Rüdersdorf.
© RP Lee Studenten der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg bei einer vom Lehrstuhl für Dekarbonisierung und Transformation (DTI) organisierten Fachexkursion im Zementwerk CEMEX in Rüdersdorf.

Stahlschrott klimaneutral recyceln

Auch Recycling gehört zu den Schlüssel­strategien, um den Ausstoß von Treib­hausgasen in der Industrie zu senken. In der Stahl­branche entscheidet die Qualität des eingesetzten Schrotts über Erfolg oder Misserfolg. Das VDEh-Betriebs­forschungs­institut erprobt daher gemeinsam mit Partnern aus Recycling­wirtschaft und Stahl­industrie neue Verfahren – gefördert vom Land Nordrhein-Westfalen. Eine neuartige Kamera­technik soll winzige Kupfer­rück­stände und andere Störstoffe im geschredderten Material aufspüren. Kupfer gilt als eines der größten Hindernisse bei der Wieder­verwertung von Stahl­schrott, da es zu Rissen und Falten bei der Weiter­verarbeitung führen kann. Sind die Stör­stoffe dagegen weit­gehend entfernt, lässt sich der Stahl­schrott als Beimischung zu Eisen­schwamm auch im neuen DRI-Ofen einschmelzen – mit grünem Strom sogar weitgehend CO2-frei. Ziel der Forschungs­arbeit ist es, diesen Weg zur klima­neutralen Produktion weiter zu optimieren.

Wenn der Bedarf an Schrott für eine grüne Stahl­produktion steigt, könnten alte Schiffe interessant werden. Nach­haltiges Schiffs­recycling ist ein aktuelles Thema für Forschung und Experten. „In der Regel denken die Menschen beim Thema Dekarbonisierung in der Schiff­fahrt vor allem an betriebs­bedingte Emissionen, nicht jedoch an die Energie und Ressourcen, die in den Schiffbau fließen“, so Henning Gramann, der Inhaber von Green Ship Recycling Services. Im Durch­schnitt sind die rund 60.000 Schiffe der Welt­handels­flotte über 22 Jahre alt, bei einer üblichen Lebensdauer von 25 bis 30 Jahren. Grob geschätzt sind in diesen Schiffen zwei bis drei Milliarden Tonnen Stahl verbaut. „Hinzu kommen mehrere Tausend, die kleiner sind, außerdem Forschungs- und Marine­schiffe.“

Für Gramann ist klar: Schiffe sind „Ressourcen­banken“, die helfen können, CO2 zu reduzieren. Er verfolgt daher das Ziel, „die Ressourcen im Loop zu behalten“. Ein Ansatz ist das Forschungs­projekt RECAB, das bis 2027 läuft. Im Mittel­punkt steht die Entwicklung nach­haltiger Passagierkabinen, die sich wieder­verwenden lassen. Mit an Bord sind die Meyer Werft, mehrere Forschungs­institute und auch Hennig Gramann selbst: Sein Unternehmen arbeitet an der voll­ständigen Erfassung aller Materialien, die beim Rückbau gewonnen und in den Kreislauf zurückgeführt werden können.

Die angestrebte Kohlenstoffwende entscheidet sich in den nächsten Jahren in der Umsetzung. Maßgeblich tragen dazu der zügige Umbau der Stahl­industrie, geschlossene Kohlen­stoff­kreis­läufe und sauberer Schrott für hochwertigen Stahl bei.