
Ade, Babyboomer – tschüss, Wissen?
ZEIT RedaktionWenn erfahrene Mitarbeiter gehen, geht auch ihr Know-how verloren. Um ihre Expertise zu retten, braucht es die richtige Kultur und Checklisten. Und vielleicht hilft sogar künstliche Intelligenz
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.
In der Produktion ist es manchmal wie im Leben generell: Je mehr Möglichkeiten sich bieten, umso mehr kann man falsch machen. Zum Beispiel beim Unternehmen apra-norm aus Mehren in der Vulkaneifel, Spezialist für Elektronikgehäuse. Wenn dort eine Pulverbeschichtungsanlage bestückt wird, dann kommt es auf jedes Detail an: Welche der 17 Farben passt am besten? Welche Fläche wird beschichtet, welche Menge Pulver braucht die Maschine? Wie hängt man die Schaltschränke so auf, dass das Pulver bestmöglich aufgetragen wird? In welcher Reihenfolge müssen die Gehäuse auf die Reise geschickt werden, damit sie sich später nicht stauen?
Das alles ist eine Wissenschaft für sich. Und wie im richtigen Leben hilft: Erfahrung. Doch bei dem Mittelständler mit seinen 450 Beschäftigten wissen nur drei Mitarbeiter, wie man die Maschine optimal bestückt. Wenn sie ausfallen oder in Rente gehen, dann hat apra-norm ein Problem, das vielen Firmen droht: Es fehlt an Expertise. Wann immer es geht, schauen sich andere Kollegen deswegen die Kniffe ab. Doch so leicht ist das nicht. „Man benötigt bis zu drei Jahre, um das gesamte Produktspektrum verstanden zu haben“, sagt Stefan Meffert, der Chef und Gesellschafter des Familienunternehmens. „Die Zeit hat man heute nicht mehr.“
Und so wagt der 60-Jährige etwas Neues, das auch anderen Firmen helfen könnte: In seiner Firma arbeitet nun künstliche Intelligenz (KI) mit. Die routinierten Mitarbeiter haben über mehrere Monate über ein Tablet eingegeben, warum sie die Gehäuse in einer bestimmten Anordnung aufgehängt haben. Eine Kamera hat zugesehen. Dazu kamen Daten aus der Maschinen- und Auftragssteuerung von apra-norm. So trainiert, spielt das Programm nun Vorschläge aus, wenn es ans Beschichten geht: „Einige Kollegen profitieren so von dem Wissen, das andere eingegeben haben“, sagt Meffert.
Es ist ein neuer Ansatz für ein altbekanntes Problem: Wenn versierte Fachkräfte ein Unternehmen verlassen, geht mit ihnen auch Fach- und Erfahrungswissen. Bis 2036 erreichen nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes fast 13 Millionen Menschen in Deutschland das Renteneintrittsalter. Die Notwendigkeit wächst, den Kompetenzverlust zu kompensieren.
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Gerade mittelständische Firmen fordert das: Sie sind kleiner als Konzerne, für manche Aufgaben gibt es eben keine ganze Abteilung – sondern nur die eine Fachfrau oder den einen Fachmann. Viele dieser Mitarbeiter haben sich über die Jahre zu Expertinnen und Experten entwickelt. Sie bringen das Bauchgefühl für die Bedienung der Maschinen mit, das Fingerspitzengefühl für die Kunden. „Viel Wissen kann man nur über die Zeit im Job erwerben“, sagt Nicole Ottersböck vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) in Düsseldorf, „da kann man nicht mal eben 30 Jahre Berufserfahrung aufholen.“ Zudem werde das Wissen oft nicht dokumentiert. In ihren Vorträgen fasst Ottersböck diese Entwicklung pointiert so zusammen: „Ade, Babyboomer – tschüss, Wissen“.
Mittelständler suchen deshalb nach Wegen, das relevante Wissen zu sichern – und auf die nächste Mitarbeitergeneration zu übertragen. Dabei zeigt sich: KI kann tatsächlich eine Rolle dabei spielen, wichtige Kompetenzen zu konservieren. Im ersten Schritt helfen aber auch banalere Strategien.
Vorausdenken statt hinterherrennen
Der Wissenstransfer kommt im Alltagstrubel oft zu kurz. „Im Grunde fällt einem bei jeder Trennung im Nachhinein ein, was man noch hätte besprechen, abstimmen, übertragen sollen“, sagt Stephan Höhn. Der 57-Jährige leitet den Internetprovider CBXnet aus Berlin, der Kommunikationslösungen für andere Mittelständler konzipiert und betreibt. Das 15-köpfige Team muss technisch auf der Höhe sein – jeder Abgang schmerzt.
Daher hat sich Höhn die Checkliste Wissenssicherung der Industrie- und Handelskammer (IHK) Berlin vorgenommen. Sie hilft dabei, das geschäftsrelevante Wissen zu identifizieren, die richtige Dokumentationsform zu finden und zu entscheiden, welcher Ansprechpartner – Wissensträgerin, Wissenserwerber, Führungskraft – zu welchem Zeitpunkt gefragt ist. Höhn hat den Leitfaden in den vergangenen Monaten durchgearbeitet, um beim nächsten Abgang vorbereitet zu sein. „So kann man den Prozess ganzheitlich im Auge behalten – und sieht, wo man tiefer einsteigen muss.“
Konzipiert ist die Liste als eine Art digitaler Crashkurs. Die IHK Berlin schätzt den Mindestaufwand auf 16 Stunden. Wobei: Je mehr Zeit und Ruhe für den Austausch bleiben, desto besser. Ingo Sell, der mit seiner gleichnamigen Beratung Unternehmen wie Vattenfall, Bilfinger oder Sick AG unterstützt, setzt mindestens drei Monate an, gerne auch ein halbes Jahr. Ein willkommener Nebeneffekt: Wenn die scheidenden Mitarbeiter erleben, dass ihr Wissen gefragt ist, gehen sie mit einem guten Gefühl. „Ein solcher Wissenstransfer ist dann auch eine Anerkennung ihrer Lebensleistung“, sagt Sell.
In vielen Firmen läuft der Transfer im direkten Austausch zwischen Wissensträger und Wissenserwerber. Sell wirbt – nicht ohne Eigennutz – für eine neutrale Begleitung bei der Wissensübergabe. „Viele sind vielleicht Spezialisten in ihrem Job – aber nicht für die notwendige Vermittlung ihres Wissens“, sagt Sell. Er klärt, wie detailgetreu Abläufe beschrieben werden müssen, die für den einen Routine und für den anderen ganz neu sind. Dazu kommt: Wird der Übergabeprozess klar strukturiert, haben Termine eine höhere Verbindlichkeit und gehen seltener im Alltagsstress unter.
Dabei hat sich eine Mischung aus systematischem und vertraulichem, informellem Austausch bewährt. „Niemand schreibt in eine offizielle Dokumentation seine größten Fehler rein“, sagt Sell. Doch genau von denen kann der künftige Mitarbeiter am meisten profitieren. Der Deal: Gesprochen wird über alles, was wichtig ist – schriftlich festgehalten wird nur das, was die Beteiligten freigeben.
Sell rät auch, eine vorstrukturierte „Wissenslandkarte“ zu füllen, damit keine weißen Flecken bleiben: Nicht nur das Fachwissen, sondern auch Projekte, Netzwerke oder die Organisation der Arbeit werden abgeklappert. Dann sollten die Informationen in ein Wissensmanagementsystem übertragen werden. Das sichert das Know-how und ermöglicht es Dritten, darauf zuzugreifen. Und dieser Schritt dürfte relevanter werden. Immer wieder gehen Mitarbeiter, bevor ein Nachfolger gefunden ist. Der Fachkräftemangel verschärft dieses Problem: Schon jetzt bleiben Stellen, die Berufserfahrung voraussetzen, im Schnitt 150 Tage lang unbesetzt, meldet die Bundesagentur für Arbeit. Gelingt ein Abgang im Guten, haben ehemalige Mitarbeiter oft noch ein offenes Ohr. Bei CBXnet etwa unterstützt ein früherer Cloud-Computing-Architekt das bestehende Team auf Honorarbasis. Doch Stephan Höhn ist klar: Auf so etwas kann man nicht setzen.“
Auch Bauchgefühle weitergeben
Daher soll der KI-Kollege, der bei apra-norm erprobt wird, das Wissen der heutigen Routiniers möglichst umfangreich erfassen. Entstanden ist das Programm im Rahmen des mit Mitteln des Bundesbildungsministeriums geförderten Forschungsprojektes „KI_eeper“, eine Anspielung auf das Verb to keep – bewahren. Denn gerade das Bauchgefühl, das in vielen Arbeitsschritten relevant ist, lässt sich schwer in Schriftform übersetzen: Wie führt man ein Werkstück in eine Anlage ein? Welche Vibrationen deuten darauf hin, dass die Maschine bald Probleme macht? „Wir brauchen ein System, das im Arbeitsprozess automatisch das implizite unbewusste Wissen ermittelt, sichert und auswertet“, sagt Nicole Ottersböck vom ifaa, die das Forschungsprojekt koordiniert.
Die KI konserviert auf Basis der Mitarbeiterangaben, Daten und Sensorik jene Erfahrung, die Neulingen fehlt. Und sie macht deutlich, wie viel Kopfarbeit es wirklich im Produktionsalltag braucht. Stefan Meffert, der Chef, formuliert es so: „Im Laufe des Projektes haben die Mitarbeiter verstanden, wie komplex ihre Aufgabe wirklich ist.“
Meffert war eine Botschaft an sein Team besonders wichtig: Die Technik nimmt keine Jobs weg, sondern sorgt dafür, dass der Laden verlässlich läuft. Ganz unabhängig von der formalen Qualifikation und vom Hintergrund der Mitarbeiter – in der Pulverbeschichtung bei apra-norm werden sechs Sprachen gesprochen. Nun seien auch Skeptiker aus anderen Abteilungen neugierig geworden, berichtet Meffert. „Die haben erkannt: Oh, das ist auch was für uns.“