ZEIT für X
Eine Hand mit Megafon

Auf der Suche nach der Zuversicht

14. Oktober 2024
ZEIT Redaktion

Die Zeiten sind unsicher – und damit wie gemacht für Menschen wie den Spediteur Alexander Rose und all die Unter­nehmerinnen und Unternehmer, die es gewohnt sind, Neues zu wagen. Dabei hilft ihnen eine einfache Strategie

von Jens Tönnesmann

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.

Wenn die Zuversicht sogar bei einem Menschen wie Alexander Rose ins Wanken gerät, dann muss man sich wohl wirklich Sorgen machen. Rose, 57, leitet in Dresden die Spedition Radensleben Transporte mit 25 Leuten, seine Last­wagen sind rund um die Uhr unterwegs. In seinem Büro hängen Kunstwerke, die mit Bedacht ausgesucht sind: ein Graffito von Banksy zum Beispiel, das einen Demonstranten zeigt, der Blumen statt Steine wirft. Und auf Roses Hof parken Anfang September Lastwagen, von denen einer sofort auffällt: „Demokratie gibt’s nicht geliefert“, steht in großen Lettern auf seinen Seiten­planen, „Du musst sie wählen.“

Rose ist ein engagierter Mann: Seine Lastwagen fahren beim Christopher Street Day genauso mit wie bei der Tolerade, einer Musikparade gegen den Rechts­ruck. Sie werden zur Bühne, wenn die Dresdner Brandmauer-Initiative zur Demo für eine solidarische und welt­offene Gesellschaft ruft – auch wenn das längst nicht alle von Roses Mitarbeitern befürworten. Und der Unternehmer kann gut erklären, warum sein Engagement nicht nur moralisch geboten, sondern auch ökonomisch sinn­voll sei: Sachsen vergreist, ohne Fach­kräfte aus dem Ausland wird es für die Unternehmen schwer.

Doch der Rechtsruck im Land macht Rose auch ratlos. Einmal postete er in seinem WhatsApp-Status das Bild eines Plakats, das an der Frauen­kirche für Pluralismus und Teilhabe warb, für Meinungs­freiheit, Rechts­staatlichkeit, Demokratie. Ob er diese „Scheiß­haus­parolen“ wirklich glaube, kommentierte ein Bekannter, und Rose schrieb irritiert: „Warum dieser Hass?“

Und dann ist da die wirtschaftliche Lage: Finanziell komme seine Spedition nur noch gerade so über die Runden, sagt er. Wenn er durchs Land fahre, sehe er, dass es vielen seiner Auftrag­geber noch schlechter gehe als ihm. Die Bäcker, die über die hohen Kosten fluchen. Die Möbel­händler, die dicht­machen. Vielleicht gehen ihm sogar Aufträge verloren, weil er sich engagiert: Wie könne man seine Lastwagen nur der Antifa zur Verfügung stellen, hat ein Nutzer in eine Google-Bewertung seiner Spedition geschrieben, die stünden doch „unter Drogen“, hörten „sinnlose Musik“ und würden „anderen ihr Eigentum zerstören“.

All das beschäftigt und bedrückt Rose. Und so wundert er sich über sich selbst: „Eigentlich“, sagt er, „schaue ich doch immer nach vorn!“

Zu Jahresbeginn etwa, als in Deutschland die Landwirte und Last­wagen­fahrer auf die Straße gingen, schloss sich Rose diesen Protesten nicht an. Statt­dessen schrieb er einen Brief an seine Belegschaft, den er beim ersten Besuch des Reporters im Januar vorzeigt: Man beteilige sich nicht an der „Verschwendung von Zeit, Kraftstoff und Manpower“, an Verkehrs­behinderungen und Umwelt­verschmutzung, man setze auf „konstruktiven Dialog“. Dann schrieb Rose, er werde „alles geben“, um die wirtschaftlichen Heraus­forderungen zu meistern.

Doch im Herbst 2024 ist Deutschland so zerrissen, dass selbst die Anpacker wie er rätseln, wie es weiter­gehen soll. Bei den Landtagswahlen in Thüringen wurde die als rechts­extrem eingestufte AfD stärkste Kraft, auch in Sachsen holte sie mehr als 30 Prozent. Den Populisten hilft, dass die Ampel­koalition in Berlin tief zerstritten ist und Mühe hat, überhaupt noch Gesetzes­vorhaben oder einen Haushalt auf den Weg zu bringen. Und wenn sie über Nacht den Umweltbonus für Elektro­autos streicht, dann schütteln selbst Leute wie Rose den Kopf.

Dazu kommt die unsichere weltpolitische Lage: Der russische Angriffs­krieg in der Ukraine dauert bald 1.000 Tage, und der Krieg im Nahen Osten jährt sich am 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel, ein Ende ist nicht in Sicht. In den USA finden in wenigen Wochen die Präsidentschafts­wahlen statt, bei denen Donald Trump erneut gewählt werden könnte – der Autokraten­freund und Migranten­feind, der Nato-Skeptiker und Handelskrieger.

Klaus Wohlrabe weiß, wie sehr das die Unternehmerinnen und Unternehmer im Land verunsichert. Der Volkswirt arbeitet seit 20 Jahren beim Münchner ifo Institut, er ist der „Leiter Befragungen“. Was unter anderem bedeutet, dass er sich immer kurz vor dem Monats­ende morgens um sieben vor seinen Rechner setzt. Auf Wohlrabes Bildschirm erscheinen dann mehrere Zahlen. Sie zeigen, wie rund 9.000 Unter­nehmerinnen und Unternehmer ihre Geschäfts­lage einschätzen und welche Entwicklung sie in den kommenden sechs Monaten erwarten. Zuletzt waren beide Werte negativ, was bedeutet, dass mehr Unternehmer ihre Lage mit „schlecht“ bewerten als mit „gut“ und dass der größere Teil erwartet, dass sich ihre Lage weiter verschlechtert. Aus den beiden Werten errechnet Wohlrabe einen Mittelwert, das „Geschäfts­klima“, den das ifo Institut kurz darauf verkündet: „Wenn wir die Märkte überraschen, dann sieht man die Reaktion des Dax sofort“, sagt der Forscher.

Weil das ifo Institut der Wirtschaft schon seit vielen Jahrzehnten den Puls nimmt, erlauben Wohlrabes Zahlen Rück­schlüsse darauf, wie ernst es gerade ist. Bildet man aus den Ergebnissen zu Lage und Erwartungen zwei lange Kurven, so zeigt sich: Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine brachen erst die Erwartungen ein, dann wurde auch die Lage immer schlechter. Nun ist beides ziemlich mies. „Salopp gesagt dümpelt das Geschäfts­klima vor sich hin“, sagt Wohlrabe. Es hat sich eingeregnet.

Aber es gab auch schon stürmischere Zeiten, nach dem Beginn der Finanz­krise 2008 etwa oder bei Ausbruch der Pandemie 2020. „Verglichen damit haben wir aktuell keine tiefe Krise“, sagt Wohlrabe, „es wird wieder aufwärts­gehen.“ Zwar sei zu viel Optimismus gefährlich, denn das könne Unternehmer zu Entscheidungen verleiten, die sie später bereuen. Das Problem sei allerdings im Moment weniger fehlender Optimismus als zu viel Pessimismus: „Mir wird die Situation zu schlecht geredet“, sagt Wohlrabe, „und das kann dazu führen, dass sich die Lage tatsächlich verschlechtert.“

Womöglich befindet sich das Land also gerade jetzt an einer Gabelung: Der eine Weg führt tiefer in die Krise – der andere in Richtung Erholung. Tatsächlich mehren sich in der Wirtschaft Appelle, jetzt selbst die Richtung vorzugeben. Der Verband der Familien­unternehmer etwa hat zu seinem Jubiläum kürzlich ein Magazin voller Beiträge heraus­gebracht, die Zuversicht vermitteln sollen. Auf dem Cover ist nur ein großes, buntes Wort zu sehen: „Yes!“

Eine Botschafterin der Zuversicht ist Florence Gaub, die sich im Moment gar nicht retten kann vor Anfragen aus der Wirtschaft, so erzählt sie es. Gaub leitet den Forschungsbereich am Nato Defense College in Rom. Sie ist Politik­wissenschaftlerin und Militär­strategin und hat vor gut einem Jahr das Buch Zukunft – Eine Bedienungs­anleitung veröffentlicht. Gaub ist über­zeugt, dass der Mensch das einzige Wesen ist, das es vermag, sich eine Zukunft so detailliert vorzustellen, dass es sie auch erschaffen kann. Darüber spricht sie, wenn sie bei Versicherungen und Banken auftritt, bei Baufirmen oder auch mal bei einem Mineral­wasser­abfüller aus Bochum.

Bei solchen Terminen kann man nicht dabei sein. Aber Gaub erzählt im Gespräch mit ZEIT für Unternehmer, dass es wichtig sei, nicht nur über die Risiken nach­zu­denken und all die Probleme, die man nicht beeinflussen kann. Sondern darüber, was man im „Möglichkeits­raum“ Zukunft selbst bewirken könne. Dazu gehört für sie, alte Zukunfts­vorstellungen los­zu­lassen, die man zwar lieb­gewonnen hat, die aber überholt sind. „Wir müssen uns neu erfinden“, sagt sie, „und genau das können wir Menschen auch.“ Man dürfte nicht darauf warten, dass die Stabilität von alleine zurückkehre: „Als die Pandemie anfing, dachte ich, die Unsicherheit ist ein Tsunami, der vorbeigeht“, sagt Gaub, „inzwischen weiß ich, dass es ganz viele Wellen sind, die anhalten werden.“

Man kann diese Unsicherheit sogar messen. So zeigt der ifo-Geschäfts­klima­index, dass es Unter­nehmerinnen und Unter­nehmern heute deutlich schwerer als noch 2019 fällt, ihre Geschäfts­entwicklung vorher­zu­sagen. Die Unsicherheit spiegelt sich auch im World Uncertainty Index, der misst, wie häufig das Wort „unsicher“ in den Länderberichten der Intelligence Unit genannten Forschungsabteilung des britischen Economist auftaucht. Und die Unsicherheit zeigt sich in den Befragungen, die Janina Mütze seit vier Jahren durch­führt.

Mütze hat im Jahr 2015 in Berlin das Meinungs­forschungs­institut Civey gegründet. Das junge Unternehmen hat sich auf digitale Umfragen spezialisiert und verdient sein Geld damit, dass es Unternehmen Analysen ihrer Zielgruppen verkauft. Die 33-Jährige zeigt beim Gespräch mit ZEIT für Unternehmer mehrere Diagramme dazu, wie sich die Gefühlslage der Deutschen verändert hat; die Stichprobe basiert auf rund 10.000 Teilnehmern. Danach hat sich das Gefühl der Unsicherheit seit 2020 im Land verbreitet, aktuell verspürt sie jeder Dritte, vor vier Jahren war es nur jeder Vierte. Seit Anfang 2022 setzen sogar mehr Befragte in Mützes Umfragen einen Haken beim Wort „Unsicherheit“ als beim Wort „Zuversicht.“ Diese Gefühle lähmten die Menschen, sagt Mütze, und: „Die Gefahr besteht darin, jetzt in eine Art Schock­starre zu verfallen.“

Wie gefährlich das sein kann, hat Mütze selbst erlebt. Vor Weihnachten 2023 platzte eine fest eingeplante Finanzierung für ihr junges Unternehmen – und mit einem Mal war die Zukunft von Mütze und ihren 100 Mitarbeitern selbst sehr unsicher, kurz war sie fast wie paralysiert. Aber dann nahm sie ihr Schicksal in die Hand und suchte im Januar das Amtsgericht auf, um wegen drohender Zahlungs­unfähigkeit eine Insolvenz im sogenannten Schutz­schirm­verfahren zu beantragen. Für sie und ihren Mitgründer ging es auf einmal um alles, das machten sie auch ihren Mitarbeitern klar: „Wir haben gesagt: Wir bleiben hier, wir ziehen das durch, wir glauben an diese Firma.“

Drei Monate hatten die Gründer von da an Zeit, ihre Firma zu retten; drei Monate vergingen, in denen sie mit Geldgebern redeten und Anteile zum Verkauf anboten. Am Ende und nach vielen Gesprächen mit Investoren und Anwälten sei ihnen klar geworden, dass sie selbst investieren wollen, um mit zwei Kollegen aus dem Unternehmen und einem Wagnisfinanzierer die Mehrheit zu übernehmen. „An gewissen Punkten muss man einfach springen und dabei auch Risiken in Kauf nehmen“, sagt Mütze heute. Und: „Wir haben uns ein Ziel gesetzt und den Weg dorthin in viele kleine Schritte aufgeteilt, sonst hätten wir das nicht geschafft.“

Volker Busch hat für diese Vorgehens­weise einen Begriff parat: „Small-Step-Psychologie.“ Busch ist Facharzt an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Regensburg, und er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel Kopf hoch!. Oft muss er Gespräche mit Patienten führen, denen das schwerfällt, weil sie schwer krank sind. Busch sagt: „Zuversicht entsteht dadurch, dass ich die Aufmerksamkeit nicht auf das Drama richte, sondern auf das Gelingende und das Geschaffene.“ Er rät deswegen, jeden Abend auf­zu­schreiben, was gut geklappt hat; wenn man das einige Wochen tue, verändere sich das Denken. Busch sagt auch, man müsse sich den eigenen Gestaltungs­spiel­raum klarmachen, der sei oft größer, als man denkt. Und dann müsse man „ins Handeln kommen“. So spüre man Selbst­wirksamkeit, das Gehirn schütte den Botenstoff Dopamin aus, man schöpfe neuen Mut und neue Motivation. „Zuversicht entsteht dann, wenn man einen Schritt in die richtige Richtung geht“, sagt Busch, „er muss nicht einmal besonders groß sein.“

Alexander Rose, der Spediteur, ist da wohl ein gutes Vorbild. Als am 1. September die Wahl­lokale in Dresden schließen und die ersten Prognosen die AfD als große Siegerin der Landtags­wahlen in Sachsen und Thüringen vermelden, habe es ihn „echt ergriffen“, erzählt er. Aber es vergeht keine halbe Stunde, da fasst Rose sich ein Herz und tritt auf die Bühne auf dem Theater­platz in Dresden. Die Initiativen „Zusammen gegen Rechts“ und „Herz statt Hetze“ haben eine Kundgebung organisiert, um den Ausgang der Wahl zu verfolgen. Menschen­grüppchen sitzen in der Abendsonne, als Rose die erste öffentliche Rede seines Lebens hält. Er erzählt, wie er 35 Jahre zuvor an diesem Ort für freie Wahlen gekämpft und dann ein Unternehmen gegründet, viel gearbeitet und viel gefeiert habe, dank der neuen Freiheit. Und er sagt, er verstehe bis heute nicht, warum sich so viele Menschen trotz all der Fortschritte hinter den Rechten versammeln.

Dann richtet Rose einen Appell ans Publikum: „Bitte hören Sie Ihren Mitmenschen zu, bitte engagieren Sie sich, gestalten Sie unser Miteinander“, sagt Rose, „unter­stützen Sie die Menschen, die aus anderen Ländern kommen, die hier neu sind. Und verurteilen Sie nicht die, die mit den Neuen ein Problem haben.“ Er wirkt in diesem Moment wie der Demonstrant auf dem Bild in seinem Büro, der mit Blumen schmeißt. Alexander Rose kann gar nicht anders, als die Zukunft in Angriff zu nehmen – ganz gleich, wie verfahren die Lage ist.