ZEIT für X
Menschen stehen am ost-westdeutschen Grenzübergang

Da sind wir wieder

30. August 2022
ZEIT Redaktion

Familienunternehmer waren in der DDR fast ausgestorben. Nur manchen gelang nach der Wende ein Neuanfang. Doch heute prägen sie die Wirtschaft Ostdeutschlands.

von Jens Tönnesmann, Redakteur im Wirtschaftsressort, DIE ZEIT, verantwortlicher Redakteur, ZEIT für Unternehmer

Dreimal am Tag, um acht, um zwölf und um 18 Uhr, erinnert in der Kyffhäuser­straße in Dresden ein Glocken­turm an ein Wirtschafts­wunder. Seine Glocke läutet über dem Betriebs­gelände der Arznei­mittel­firma Apogepha, so wie sie schon in den 1930er-Jahren geläutet hat. Dass es heute noch so ist, liegt an Christian Starke und seiner Familie, die das Unternehmen durch Krieg und Krisen geführt haben. Starke ist heute 83, und mit der Geschichte seiner Firma könnte er Abende füllen. Aber er beherrscht sie auch im Stakkato. Sein Vater Johannes: im Ersten Weltkrieg verwundet, Studium durch­gehungert, die Firma aufgebaut. Dann Krieg, Bomben, fast alles kaputt; dann Wieder­aufbau und Kommunismus, Roh­stoff­mangel und Plan­wirtschaft. Der Vater stirbt 1968, sein Sohn Christian übernimmt die Firma, sie wird voll­ständig verstaatlicht – dann die Wende und Reprivatisierung. „Dann erst“, sagt Starke nach diesem Flug durch die Jahr­zehnte, „konnten wir zeigen, dass wir auch richtig Leistung bringen.“

Der Besuch bei Christian Starke und seiner Tochter Henriette ist der letzte Halt auf einer Reise zu Unternehmern in den ost­deutschen Bundes­ländern. Im Mittelpunkt steht die Frage: Wie geht es den Unternehmern 30 Jahre nach dem Mauerfall – und wie wichtig sind sie heute für die ostdeutsche Wirtschaft?

Als Wegweiser dient die aktuelle Studie zweier Historiker für die Stiftung Familien­unternehmen. Rainer Karlsch vom Institut für Zeit­geschichte München-Berlin und Michael Schäfer von der TU Dresden beschreiben darin, welche Unternehmer nach der Wende im Osten Fuß gefasst haben. Dabei unterscheiden sie im Wesentlichen drei Arten von Unternehmern: jene, die ihre Firmen aus dem Staats­besitz der DDR zurück­bekommen konnten. Solche, die Teile der volks­eigenen Betriebe (VEB) der DDR über­nahmen. Und Unternehmer, die nach der Wende in den Osten gezogen sind. Die Reise wird zu Vertretern aller drei Gruppen führen, und sie verläuft durch eine Wirtschafts­landschaft, die sich extrem gewandelt hat, wie die Studie belegt. Sie erzählt, wie sich im 19. Jahrhundert in Sachsen die Schlote von Metallverarbeitern, Maschinen­bauern und Papier­fabriken in den Himmel reckten. Sie berichtet von den Schuhfabriken Thüringens. Und sie erläutert, wie dieses einst florierende Ökosystem von politischen Unwettern durch­einander­gewirbelt wurde – bis in den Jahren nach 1945 die letzten Familien­unternehmen verschwanden, weil sie von der Sowjetunion demontiert oder vom „Arbeiter-und-Bauern-Staat“ DDR enteignet wurden. Viele andere waren in den Westen abgewandert.

„Mit diesem Aderlass ging ein ungeheurer Verlust an Unternehmer­geist und Kapital einher“, sagt der Historiker Karlsch und benennt gleich eine positive Erkenntnis: „Auch 40 Jahre Sozialismus haben es nicht geschafft, Familien­unternehmertum aus­zu­radieren, und die Reindustrialisierung nach der Wende ist vor allem Familien­unternehmern zu verdanken.“

Leuten wie Christian Starke also, um dessen Mundwinkel sich mehr Lach­falten abzeichnen, als auf der Stirn Sorgen­falten zu sehen sind. Apogepha zählt heute rund 150 Mitarbeiter und macht knapp 40 Millionen Euro Umsatz. Starke war es, der zwei Jahr­zehnte an der Zukunft seines Unternehmens arbeitete, obwohl es scheinbar keine hatte.

altes Foto einer ostdeutschen Stadt
© Apogepha

Genommen wurde die Firma Starke 1972, als die DDR auch die letzten 11.800 größeren noch privaten Betriebe verstaatlichte, darunter Apogepha. Starke wurde durch einen Betriebs­direktor ersetzt, ihm blieb nur die Forschung, auch wenn die zu DDR-Zeiten eher L’art pour l’art gewesen sei. Mit seinen Mitarbeitern entwickelte er ein Medikament gegen Blasen­beschwerden, das er beim Deutschen Patentamt in München anmeldete – obwohl das Westmark kostete und erst mal wenig brachte. „Dieser Schritt“, sagt seine Tochter Henriette Starke heute, „war die Basis für unseren Erfolg nach der Wende.“

Zunächst mussten die Starkes aber ihre Firma zurück­bekommen. Ab 1990 kümmerte sich die Treuhand um die Staats­betriebe, ihr Motto lautete: „Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam still­legen.“ In nur vier Jahren wurden Tausende Betriebe umgebaut. Die Apogepha stand auf der Kippe, ein Treuhand-Direktor hielt sie für „nicht über­lebens­fähig“, doch Christian Starke über­zeugte ihn vom Gegenteil und bekam das Unternehmen 1991 zurück. Doch damit fing die Arbeit erst an.

„Für viele Unternehmen begann ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit“, schreiben die Forscher Karlsch und Schäfer, „um bestehen zu können, mussten sie ihre Produkt­paletten ändern, Vertriebs­wege erschließen und neue Verkaufs­strategien entwickeln.“

Bitterfeld galt als Inbegriff des Untergangs

Christian Starke erkannte das schnell. Er baute einen Außendienst auf, schrieb Prospekte. Ihm half es, dass Ärzte in den neuen Bundes­ländern seine Präparate weiter verschrieben; so blieb ihm das Schicksal vieler ost­deutscher Marken erspart, die eingingen, weil die Menschen nun West­produkte vorzogen. Und er hatte schon vor der Währungs­union im Juli 1990 einen Liefer­vertrag mit einem Großhändler abgeschlossen, weshalb ihn die Reform nicht so hart traf. Denn kaum ließen sich Ost- und Westmark eins zu eins tauschen, verteuerten sich Waren aus der DDR um das Vierfache. Was den Menschen Freiheit verschaffte, drangsalierte die Unternehmen: „Nach der Währungs­union brachen in allen ostdeutschen Bundes­ländern Produktion und Beschäftigung in einem Umfang ein, der in der jüngeren Wirtschafts­geschichte ohne Beispiel ist“, heißt es in der Studie. Und in dem Chaos wurden Menschen zu Unternehmern, die damit nie selbst gerechnet hätten.

Bitterfeld-Wolfen, ein klotzförmiges Gebäude inmitten großer brachliegender Flächen. Um seine Firma herum sieht Rainer Redmann vor allem, was nicht mehr da ist. Verschwunden sind die Schlote und viele der großen Hallen, in denen zu DDR-Zeiten Tausende Arbeiter Farb- und Schwarz-Weiß-Filme der Marke Orwo herstellten. „Das hier war mal alles Film­fabrik“, sagt Redmann, der in deren Forschungs­abteilung einst neue Farbfilme entwickelte – und für den Filme bis heute alles sind.

Nach der Wende, erzählt Redmann, habe man geglaubt, dass die Filmfabrik vielleicht von Agfa aus Leverkusen gekauft werde. Doch 1994 liquidierte die Treuhand die Filmfabrik. Redmann wollte weiter­machen, schrieb ein Konzept für eine neue Film­produktion – und scheiterte. Er heuerte bei der Orwo AG an, die Reste der Filmfabrik erworben hatte, doch 1997 ging auch sein neuer Arbeitgeber pleite. „Ich dachte: Wie machst du jetzt bloß weiter?“, erzählt Redmann. „Und mir wurde klar: Es hat keinen Sinn, zu warten, bis du wieder irgendwo unter­kriechen kannst – du versuchst es jetzt auf eigenen Füßen.“

Auf eigenen Füßen stehen: Das war für ihn etwas Neues. Den Kapitalismus hatte er nur von seiner schlechten Seite kennen­gelernt. Nun wurde er zu einem jener Macher, die Teile der einstigen Staats­firmen übernahmen, in denen sie selbst gearbeitet hatten.

Rund 3000 solcher Privatisierungen zählte die Treuhand; oft kam es erst dazu, wenn die Stilllegung eines Betriebs bereits beschlossene Sache war. „Hier war schon alles abgebaut, hier lief nichts mehr“, erzählt Rainer Redmann, „und wir brauchten dringend Geld.“ Redmann steckte sein Erspartes in die neue Firma und konnte zusammen mit früheren Kollegen eine Förderung einwerben, dann kauften sie alte Geräte der Filmfabrik und das Waren­zeichen Orwo. „Plötzlich hatte ich das Gefühl: Jetzt hast du es in deiner eigenen Hand“, sagt der Unternehmer. „Aber ich hatte auch Angst: Sind unsere Produkte nach so einer langen Zeit noch verkäuflich?“

Führt Redmann heute durch die Flure seiner Firma Filmotec, dann spürt man seine Begeisterung zwischen dem musealen Charme alter Röhren­bild­schirme, Labor­wagen und Filmrollen. Etwa, wenn der 69-Jährige erzählt, wie Filmotec mit seinen 25 Mitarbeitern heute noch Schwarz-Weiß-Filme herstellt und an Archive in aller Welt verkauft, weil sie viel langlebiger sind als digitale Speicher­medien. Oder wenn er sich freut, dass nun sogar Amateur-Fotografen wieder mehr Orwo-Filme kaufen. Oder wenn er über die Zukunft spricht, in der auf seinen Schwarz-Weiß-Filmen auch digitale Daten gespeichert werden sollen. Dieses Geschäft sollen seine Nach­folger aufbauen – Redmann geht im nächsten Jahr in den Ruhestand.

Bitterfeld kennt viele solcher Unternehmer-Geschichten. Dabei galt der Ort nach der Wende als Inbegriff des Unter­gangs: Über Jahre hatte die Chemie­industrie die Umwelt zerstört, dann ging es auch mit der Wirtschaft bergab. „Wie in einem Brennglas konzentriert sich in der Kreis­stadt das ganze Desaster des DDR-Erbes“, schrieb die ZEIT 1991. Damals war kaum absehbar, dass es 30 Jahre später viel weniger stinken und dafür sogar duften würde in Bitterfeld. Und dass auch die Digitalisierung für Jobs sorgen würde.

Im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen arbeitet Stefan Müller, der in seinen Schränken besondere Schätze hütet, Hydroxycitronellal zum Beispiel, das nach Rosen duftet, oder Hydroxyambran, das nach Holz riecht. Solche Duft­stoffe stellt Müllers Firma Miltitz Aromatics in meterhohen Zylindern her und liefert sie an Parfüm- und Wasch­mittel­hersteller. Sein Vater Peter verpfändete Anfang der 1990er-Jahre seine Renten­ansprüche, um 80.000 Deutsche Mark aufzubringen und mit mehreren ehemaligen Kollegen aus den Resten eines Volks­eigenen Betriebs ein Unternehmen zu zimmern; auch west­deutsche Unternehmer investierten in das Projekt.

„Ohne Fördermittel würde es uns nicht geben“

Insgesamt spielten Geldgeber aus dem Westen nach der Wende eine wichtige Rolle. Inzwischen geht ihr Einfluss zurück, wie Zahlen der Stiftung Familien­unternehmen zeigen. So hatten 2001 noch etwa zwei von drei Familien­unternehmen mit mindestens 250 Mitarbeitern west­deutsche Eigner, 2017 war es nur noch knapp jedes dritte – und nur noch jedes zehnte dieser Unternehmen befindet sich ganz in westdeutscher Hand.

Die Müllers haben die Beteiligung aus dem Westen nie als Problem empfunden, im Gegen­teil. Stefan Müller sagt: „In unserer Firma haben West und Ost zusammen­gearbeitet, ohne dass einer übervorteilt wurde.“

Trotzdem sorgt es heute noch für Aufsehen, wenn es mal anders läuft: „’Wessi‘ lässt sich von ‚Ossi‘ schlucken“, meldete die Sächsische Zeitung im Herbst 2018, als das Unternehmen Orwo.Net Photo Dose aus Bremen aufkaufte. Orwo.Net ist ebenfalls auf dem Gelände der alten Film­fabrik ansässig, gegründet wurde das Unternehmen von Gerhard Köhler, der vor der Wende für die Staatsbank der DDR gearbeitet hatte. In Bitterfeld ist ihm gelungen, was die SuperIllu im Jahr 2015 als „Das Wunder von Wolfen“ bezeichnet hat: Orwo.Net beschäftigt heute 300 Mitarbeiter; in seinen Produktions­hallen verwandeln riesige Druck­maschinen Digital­fotos von Tausenden Kunden in Foto­bücher und andere Foto­produkte. Die Digitalisierung, sie hat dank Gerhard Köhler Wolfen noch recht­zeitig erreicht.

In den Hallen rattert es pausenlos, Mitarbeiter schieben Wagen mit Foto­büchern hin und her, und mittendrin steht, in Anzug mit Krawatte, Köhlers Nachfolger als Geschäfts­führer: Peter Warns. Der kennt viele Familien­unternehmen von innen: Er kommt aus Westfalen, hat seine Karriere bei Bertelsmann begonnen, 2003 übernahm er die Geschäfts­führung der Thüringer Spiel­karten­fabrik Altenburg, bevor er 2014 Chef von Orwo.Net wurde. „In West­deutschland pflegen Familien­unternehmer oft eine lange Tradition, da sind in Familien über Generationen unternehmerische Denk­strukturen entstanden“, sagt Warns. In Ost­deutschland sei das oft anders. Zwar habe er überall „fleißige und engagierte Leute“ kennen­gelernt. „Aber es ist oft derjenige nach der Wende Unternehmer geworden, der cleverer war.“ Als Folge will Warns einen relativ „rüden Kapitalismus“ beobachtet haben. „Man wusste ja nach der Wende: Die Leute sind in Not, man kann billig Arbeitskräfte kriegen, es gibt Fördergeld, man muss für nix was bezahlen.“

Letzteres hat auch Unternehmer aus dem Westen gelockt. Oliver Schindler zum Beispiel, ein Unternehmer in Boizenburg an der Elbe und heute ehren­amtlicher Wirtschafts­botschafter von Mecklenburg-Vorpommern. Schindler entstammt einer Unternehmer­familie, die in Karlsruhe den Süßigkeiten­hersteller Ragolds betrieb. Doch Oliver Schindler überwarf sich mit seinem Vater und versuchte sein Glück in Mecklenburg-Vorpommern, wo er fähige Mitarbeiter und bezahl­bare Gewerbe­flächen fand und wo er 40 Prozent seiner Investitionen über Fördermittel finanzieren konnte. Während Vater Schindler das Familien­unternehmen in Karlsruhe 2005 schließen musste, baute der Sohn in Boizenburg drei neue Süßwaren-Firmen auf; sie heißen Toffeetec, Sweettec und Ragolds und zählen heute 600 Mitarbeiter. Schindler sagt: „Ohne Fördermittel würde es uns und diese Jobs heute nicht geben.“

Boizenburg statt Karlsruhe: Zumindest teilweise kehrte sich nun eine Bewegung um, die nach dem Zweiten Weltkrieg nur die andere Richtung gekannt hatte. „Nie zuvor in der deutschen Industrie­geschichte gab es innerhalb weniger Jahre einen so massiven Wegzug von Unternehmen aus hoch­industrialisierten Regionen“, schreiben die Forscher Karlsch und Schäfer in ihrer Studie. Sie sind über­zeugt, das west­deutsche Wirtschafts­wunder sei damals auch den Leistungen zugewanderter Unternehmer zu verdanken gewesen. Nach der Wende allerdings kehrten einige der Unternehmen wieder zurück, darunter auch ein Mann, dem ein ganzer Ort in Thüringen zu Füßen liegt – während er sich, wie er selbst sagt, im nieder­rheinischen Kempen wohl nicht mehr auf der Straße blicken lassen könnte.

Zeulenroda-Triebes sieht aus wie eine Stadt aus Spiel­zeug­häuschen, wenn Hans B. Bauerfeind aus dem Fenster des Bauerfeind Tower blickt. Schaut er nach Süden, dann kann er den Turm der Drei­einig­keits­kirche sehen, deren Sanierung er finanziert hat. In Richtung Westen steht sein Bio-Seehotel Zeulenroda, das zu DDR-Zeiten ein Ferienheim war. Direkt unter sich kann er die Produktions­hallen seines Unternehmens sehen, das unter anderem Bandagen und Orthesen herstellt; 1100 seiner 2100 Beschäftigten arbeiten hier. Und irgendwo weit hinten, Bauerfeind zeigt auf den Waldrand, verläuft die Hohe Straße, wo sein Großvater Bruno 1929 angefangen hatte, Kompressions­strümpfe herzustellen.

Diese Wurzeln hat Hans Bauerfeind nie vergessen, auch wenn seine Familie 1949 nach Darmstadt umzog, wo sie den Betrieb neu aufbaute. 1978 zog die Firma weiter an den Niederrhein, 1991 kehrte Bauerfeind nach Zeulenroda zurück – und nahm die Arbeits­plätze mit. „Ich habe hier nicht einfach die billige Werkbank gesucht“, sagt der 79-jährige. Noch lieber als über die Vergangenheit redet er über die neuen Aktiv­bandagen seiner Firma, ihr neues Werk in Gera oder die Implantate, die er serien­mäßig aus Körperzellen züchten will. Dem Osten, glaubt Bauerfeind, gehört die Zukunft.