ZEIT für X
blaue Kristalle

Das blaue Gold vom Würmtal

30. November 2022
ZEIT Redaktion

Deutschland importiert viele wichtige Rohstoffe aus China. Das soll sich ändern. Zwei Unternehmer wittern ihre Chance – und reaktivieren in Pforzheim ein altes Bergwerk

von Leon Koss

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2021.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Gut versteckt am Ende eines kleinen Waldwegs öffnet sich ein dunkler Eingang zu jenem Ort, der Deutschland ein Stück unabhängiger vom Welthandel machen soll und womöglich Schauplatz eines der gewagtesten unternehmerischen Projekte dieser Zeit ist. Zwischen mächtigen Weißtannen verschwindet das unscheinbare Portal aus rötlichem Sandstein im satten Grün des Schwarzwalds. Es ist schwül, Vögel pfeifen, und in der Ferne hört man Autos durch das Würmtal brausen. Wenn man schnell fährt, und das machen viele hier, ist man in 15 Minuten in der Pforzheimer Innenstadt.

Auftritt zweier Männer, die viel zu warm angezogen scheinen an diesem Spätsommertag: Simon Bodensteiner und Peter Geerdts haben sich dicke Pullover übergestreift, dazu Gummistiefel und Handschuhe, sie tragen Helme mit Stirnlampen. Durch eine enge Luke hinter dem Portal quetschen sich die beiden in den Berg. Aus dem eineinhalb Kilometer langen und tiefschwarzen Stollen strömt den beiden ein kalter Wind entgegen. Jetzt stapfen die Männer weiter in den Schacht hinein. Die Felswände aus rotem Sandstein sind feucht, und es ist still. So still, dass man den eigenen Herzschlag hört und sich auf eine seltsame Art und Weise lebendig fühlt, 20 Meter tief unter der Erde, wo sonst nichts zu leben scheint. Einen Grubenplan brauchen die beiden nicht. Sie wissen genau, wie man sich in dem Stollen orientiert, kennen jede Biegung und jede Abzweigung; viele Stunden hätten sie hier schon verbracht, erzählt Bodensteiner.

Peter Geerdts weiß, was er wo zu suchen hat und wie er es bekommt. Zwei gut platzierte Hammerschläge auf einen sandigen, fußballgroßen Quarz-Brocken an der Stollenwand reichen aus. Es knackt. Der unscheinbare Stein bricht in der Mitte entzwei und offenbart, im Schein der Stirnlampen, einen blau schimmernden Schatz: Flussspat.

Ein Mineral, das auch als Fluorid bekannt ist – und für das Peter Geerdts und sein Freund Simon Bodensteiner ihr altes Leben aufgegeben haben, um etwas zu wagen, das in der Geschichte des deutschen Bergbaus nur äußerst selten vorkommt: Sie reaktivieren ein stillgeleg-tes Bergwerk. Eines der größten Flussspat-Vorkommen Europas lagert laut dem baden–württembergischen Landesamt für Geologie, Rohstoffe und Bergbau in dieser seit Jahrzehnten stillgelegten Miene. Das könnte genug sein, um für einige Jahre den deutschen Bedarf zu decken.

Der wächst und wächst. Flussspat steckt zum Beispiel als Kontaktmittel in den Batterien, mit denen Elektroautos fahren. Aber auch die Metallindustrie und die Glasindustrie sind darauf angewiesen. Die EU stuft das Mineral als kritischen Rohstoff ein und beziffert die Import-Abhängigkeit der europäischen Wirtschaft auf 66 Prozent – und China deckt mit über fünf Millionen Tonnen pro Jahr fast zwei Drittel des globalen Bedarfs.

Zwar ist die hiesige Wirtschaft noch deutlich stärker von den Importen Seltener Erden aus Fernost abhängig, so stammen beispielsweise 98 Prozent der Seltenerdmagnete, die Europa für Elektromotoren braucht, aus China. Doch anders als diese Seltene Erden ist Flussspat ein Mineral, das es in hiesigen Böden in ausreichendem Maße gibt. Es wird nur deswegen kaum noch in Deutschland abgebaut, weil China in den 1990er-Jahren den Weltmarkt mit billigem Flussspat geflutet hat. Damals stellten viele deutschen Minen ihren Betrieb ein. „Flußspatwerke werden stillgelegt“, meldete das Handelsblatt im Oktober 1996. Die Käfersteige – so heißt die Pforzheimer Grube – war nach 60 Jahren Bergbau-Betrieb nicht mehr wettbewerbsfähig, ein Käufer hatte sich nicht gefunden. Die letzte Aufgabe der Bergleute: „Demontage- und Verfüllarbeiten verrichten“.

Wirklich traurig war niemand. Flussspat, Erze, Quarze und Co. galten als Beispiel für eine gelungene Arbeitsteilung: China lieferte die Rohstoffe und der Westen die Innovationen, für die man sie brauchte. Doch heute ist Flussspat ein Beispiel für die Abhängigkeit von China, die auf diese Weise entstanden ist. Eine Abhängigkeit, die sich rächen könnte, wenn es zu weiteren Spannungen mit der oder Sanktionen gegen die Volksrepublik käme – etwa infolge des Konflikts um Taiwan.

Auch deswegen haben sich die Sichtweisen in der Politik geändert: China gilt heute nicht mehr nur als Handelspartner, sondern als ernst zu nehmender wirtschaftlicher Wettbewerber und Systemrivale. Das Auswärtige Amt arbeitet derzeit an einer China-Strategie, die ökonomisch ein Ziel in den Mittelpunkt stellt: Abhängigkeiten zu reduzieren. Im August haben Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck Kanada besucht mit dem Ziel, Abkommen für künftige Rohstofflieferungen zu unterzeichnen. Nicht unmöglich, dass einer der beiden auch irgendwann im Würmtal an dem dunklen Eingang steht.

Dort sehen Simon Bodensteiner und Peter Geerdts die politische Gemengelage als Chance. Aber auch wirtschaftlich hat sich einiges geändert, die Preise für Flussspat steigen. Das Geschäft mit dem alten Bergwerk wird also auch finanziell attraktiv, zumal ein großer Teil der Infrastruktur noch vorhanden ist. Die Schächte, Gänge und Zufahrten müssten nicht neu angelegt, sondern nur restauriert werden.

Der Plan der beiden Unternehmer klingt deswegen erst mal simpel: In zwei bis drei Jahren wollen sie beginnen, hier Flussspat abzubauen – anfangs 200 Tonnen pro Jahr, später dann mehr. Doch auch wenn die Mine bereits existiert, betreten die beiden Neuland. Seit Jahrzehnten wurde in Deutschland kein Bergbau-Projekt in dieser Größe mehr realisiert. Und natürlich ist das Projekt ökonomisch riskant. Bisher haben die beiden nach eigenen Angaben eine halbe Million Euro in ihr neues Unternehmen, die Deutsche Flussspat GmbH, investiert – vor allem aus ihrem Privatvermögen. Einen Teil haben sie bei Freunden und Bekannten eingesammelt.

Für den Anfang reicht das noch. Das Kapital fließt zurzeit vor allem in die kostspieligen Probebohrungen – der Bohr-Meter kostet um die 500 Euro. Und die Unternehmer finanzieren ein Gutachten zum Zustand des Stollens und für die chemischen Auswertungen der Bodenproben. Sie müssen Experten bezahlen, um die Sicherheitsvorkehrungen bewerten zu lassen – und sie verbessern, wo es nötig ist. Das alles, bevor die erste Tonne Flussspat das Bergwerk verlässt.

Selbst wenn es nach Plan läuft, dürften sich die Kosten allein in den ersten beiden Jahren auf bis zu zehn Millionen summieren, schätzt Bodensteiner. Die Unternehmer müssen also auf absehbare Zeit Investoren oder Konzerne als Partner finden.

Es drängt sich eine Frage auf: Können die beiden das?

Ein Büro im Norden Pforzheims, jetzt sitzen Bodensteiner und Geerdts in Hemd und Jackett da und erzählen ihre Geschichte. Simon Bodensteiner ist Bergbau-Ingenieur und hat für sein Alter, er ist erst 37 Jahre, eine beachtliche Karriere hingelegt. In Australien und Kanada leitete der Mann aus Nordbayern zahlreiche Bergbau-Projekte und sammelte in den Führungsetagen verschiedener Bergbau-Unternehmen wie Rio Tinto die Erfahrungen, die ihn wohl jetzt älter wirken lassen, als er eigentlich ist. Bodensteiner könne Menschen mitnehmen, sagt Geerdts über ihn: „Als mir Simon von dem Projekt erzählt hat, konnte ich mir gleich gut vorstellen, mit ihm gemeinsam etwas Neues zu wagen.“

Der 46-jährige Peter Geerdts wiederum ist Geologe und begann in der Mongolei eine Karriere, die auch ihn durch die ganze Welt führen sollte. Fünf Jahre hat der gebürtige Freiburger in mongolischen Jurten gelebt und beim Unternehmen Gobi Coal and Energy gearbeitet, bevor er Jobs in Kanada, Australien und auch Afrika übernahm. Zum ersten Mal gesehen haben sich die beiden im Jahr 2015 bei einem Branchentreff in Australien, danach begegneten sie sich immer wieder. Zwar gebe es auch mal Streit mit dem Peter, sagt Bodensteiner über seinen Partner, den könne man aber sachlich und konstruktiv austragen.

Das Nomadentum über Kontinente hinweg ist für beide Teil des Berufs. Um Bergbau-Unternehmer zu werden, brauche man vielfältige Erfahrungen, sagt Bodensteiner, weil man sich immer auf neue Projekte mit verschiedenen Begebenheiten einstellen müsse. „Da hilft es, so viel wie möglich gesehen zu haben.“ Bergbau-Ingenieure und -Spezialisten blieben selten in Deutschland, weil man dort die neuesten Techniken gar nicht mehr erleben könne. Die meisten ziehe es ins Ausland – besonders nach Australien und Kanada. „Dahin also, wo Bergbau wirklich noch betrieben wird.“

Das könnte sich nun ändern. In Deutschland wollen die beiden „ein wirklich eigenes Projekt umsetzen“, wie Bodensteiner es formuliert. In Peter Geerdts habe er den perfekten Partner gefunden. So ist der Geologe Geerdts vor allem für die wissenschaftlichen Vorprüfungen zuständig, während sich der Ingenieur Bodensteiner um die Organisation und Koordination der Firma kümmert. Fünf Angestellte unterstützen sie dabei; wenn die Mine einmal arbeitet, soll das Team auf etwa so viele Köpfe wie vor der Schließung in der Käfersteige anwachsen; damals waren es 40 Bergleute.

Doch bis sie in zwei Jahren mit einem Probeabbau beginnen können, müssen noch etliche Prüfungen durchgeführt, Genehmigungen eingeholt und Investoren gewonnen werden. Besonders wichtig seien die umwelttechnischen Prüfungen, sagt Bodensteiner. Man entnehme Proben des Grubenwassers und fertige aufwendige Karten vom Gelände an: „Ein Projekt von dieser Größe in Deutschland umzusetzen braucht Zeit.“ Seit Jahrzehnten sei in der Region kein Bergbau gestartet worden, für die zuständigen Behörden sei also alles neu. „Das bedeutet viel Arbeit“, sagt Bodensteiner, „und das muss man schon auch irgendwo wollen.“

Bisher fehlte es an diesem Willen. Die Käfersteige bei Pforzheim ist ja eigentlich kein Geheimtipp, und im Laufe der vergangenen Jahre haben verschiedene Unternehmen den Stollen unter die Lupe genommen. Aber niemand hat zugeschlagen. „Everybody wants to be third“, sagt Bodensteiner dazu und lacht. Übersetzt bedeutet das: Viele schauen lieber erst mal zu, während die ersten ins kalte Wasser springen, bevor sie hinterherhüpfen. Geerdts und Bodensteiner wagen den Sprung jetzt – und haben sich den Zuschlag von der Forstverwaltung für eine 25-jährige Nutzung des Grundstücks gesichert. Wie viel sie für die Pacht genau zahlen, wollen die beiden Unternehmer nicht verraten. Nur so viel: Wenn die Förderung des Flussspats beginnt, erhöht sich die Pacht mit der Fördermenge; das Land verdient also mit.

Die Käfersteige kennen die beiden jetzt im Detail. Am Ende des Stollens klafft ein Schacht, durch den bis vor 25 Jahren Flussspat gefördert wurde. Auf verschiedenen Etagen wurde das Mineral aus dem Gestein gesprengt und anschließend über ein Aufzugsystem nach oben transportiert. Eigentlich reicht der Schacht 190 Meter in die Tiefe – doch wer heute die Taschenlampe hineinhält, sieht schon nach nur 30 Metern Wasser. Nach der Stilllegung ist der Schacht fast komplett mit Thermalwasser vollgelaufen, also Wasser mit einer Temperatur von mehr als 20 Grad. Das gilt es jetzt abzupumpen und anschließend aufzubereiten, um mögliche Giftstoffe herauszufiltern. „Langfristig planen wir“, sagt Geerdts, als er am Aufzugschacht in die Tiefe blickt, „die Wärme des stetig nachkommenden Thermalwassers zu nutzen, man könnte damit zum Beispiel den Nachbarort Würm beheizen.“

Das wäre ein weiteres Argument für das Projekt, das auch Skeptiker umstimmen könnte. „Der Bergbau hat in Deutschland keinen guten Ruf“, erklärt Bodensteiner. Viele Menschen würden nur an die Umweltschäden denken, die aufwendigen Renaturierungsmaßnahmen und die Unfälle, die sich unter Tage ereignen können. Und Geerdts sagt: „Wenn ich jemandem in Deutschland erzähle, dass ich im Bergbau arbeite, bekomme ich eigentlich durchweg negative Reaktionen.“

Die beiden finden ihr Projekt aber eigentlich ziemlich umweltfreundlich – und viel verträglicher als die Bergwerke in China. Geerdts sagt: „Die Standards, die wir in Deutschland haben, zwingen uns, Bergbau grün zu denken.“ Zum einen existiert der Stollen ja schon, es müssten also nur sehr wenige Eingriffe in die Natur vorgenommen werden. Zum anderen peile man einen „zero surface footprint“ an, werde also an der Oberfläche keine Spuren hinterlassen. Der Flussspat soll nicht nur unter Tage abgebaut, sondern auch dort vom übrigen Gestein getrennt und aufbereitet werden. „So müssen wir nicht tonnenweise Material aus dem Bergwerk transportieren, das wir eigentlich nicht brauchen“, sagt Simon Bodensteiner. Flussspat ist außerdem nicht giftig. Zumindest der Start-upler sieht keine Gefahr, dass er Gewässer in der Umgebung in Mitleidenschaft zieht.

„Die wohl größte Herausforderung für uns sind die Fledermäuse“, sagt Bodensteiner. Nachdem das Bergwerk vor über 20 Jahren stillgelegt wurde, hat man eine kleine Luke offen gelassen. So haben sich Fledermäuse auf den ersten Metern des Stollens niedergelassen – die Tiere sind streng geschützt. „Wir sind mit zahlreichen Spezialisten, auch Naturschützern, im Gespräch, um sicherzustellen, dass unsere Tätigkeiten mit dem Fledermausschutz in Einklang stehen.“

Jetzt wollen die beiden Unternehmer behutsam auf die Menschen in Pforzheim zugehen und ihre Pläne öffentlich machen. Noch wissen nur wenige Eingeweihte von dem Projekt – darunter der Oberbürgermeister von Pforzheim, der CDU-Politiker Peter Boch. Eine Woche nach dem Grubenbesuch sitzt Simon Bodensteiner mit dem Stadtchef in einem kleinen Konferenzraum im sechsten Stock des Pforzheimer Rathauses. Boch sagt, er stehe hinter dem Projekt und könne nachvollziehen, wie der Planungsaufwand und die bürokratischen Hürden die Unternehmer fordern: „Willkommen in meiner Welt.“

Bodensteiner ist heute hier, um Peter Boch auf den neuesten Stand zu bringen. Es geht um die Fledermäuse und das Grubenwasser. Boch sichert Bodensteiner Unterstützung zu, will helfen und zum Beispiel bei den Stadtwerken von der Idee berichten, das Thermalwasser aus der Käfersteige zur Wärmeversorgung zu nutzen. Es wird klar: Der Bürgermeister sieht in dem Projekt eine Chance für seine Stadt, deren finanzielle Situation angespannt und deren Haushalt defizitär ist. Er wittert neue Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und Sichtbarkeit.
Nach dem Gespräch, draußen vor dem Rathaus, eine letzte Frage an den Bergbau-Unternehmer Simon Bodensteiner: Ob er nicht trotz des Rückhalts von der Stadtspitze unruhig ist angesichts dieser enormen Investitionen in ein Projekt, für das es keine Blaupause gibt? „Natürlich bin ich nervös“, sagt Bodensteiner. Er überlegt. „Aber wir verwirklichen uns hier einen Traum“, sagt er dann, „und das ist das Risiko wert.“