Digitalisierung Leuchtturm: Nicht kleben geblieben
ZEIT RedaktionLeuchtturm: Das waren mal die mit den Briefmarkenalben. Doch das Geschäft dümpelte vor sich hin. Also fingen die Brüder Axel und Max Stürken an zu experimentieren
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.
Dieser eine Satz, der hat sich eingebrannt bei Axel Stürken. Er hat ihn mal in den Buddenbrooks gelesen, diesem epochalen Generationenroman von Thomas Mann über die Familie Buddenbrook und den Zerfall der Handelsdynastie. Und er hat ihn nie wieder vergessen: „Wenn das Haus fertig ist, dann kommt der Tod.“
Der Satz ist eigentlich ein arabisches Sprichwort, doch er passt perfekt ins Unternehmertum: Wer sein Produkt nicht erneuert, wer sein Geschäftsmodell nicht restauriert, wer nicht weiter streicht und anbaut und flickt, der wird eines Tages verschwinden. „Wir sind überzeugt: Es gibt nichts, was ohne Veränderung auf Dauer erfolgreich sein kann“, sagt Gesellschafter Max Stürken. Schon gar nicht das Geschäft, das er und sein heute 58-jähriger Bruder Axel Stürken vom Vater übernommen haben: eine Produktion für Briefmarkensammelalben.
2024 klingt das antiquiert, und schon 1992, als Axel Stürken ins Unternehmen einstieg, war es kein hippes Geschäft. Mit dem Aufkommen der E-Mail legten immer weniger Sammler die immer seltener gebrauchten Briefmarken fein säuberlich in Alben ab. Das spürten sie auch bei Leuchtturm. Eine Zeit lang glich die Firma die weniger verkauften Alben durch höhere Preise aus. Doch spätestens als der heute 54-jährige Max Stürken 1998 ebenfalls in die Firma kam, war beiden Brüdern klar: „Wir müssen uns verändern. Sonst gibt es uns eines Tages nicht mehr.“
Was in den darauffolgenden 25 Jahren passierte, ist eine Renovierungsgeschichte im besten Sinne, in der die Brüder die Firma nicht nur erhalten haben. Nein, sie haben ihr zu neuer Größe verholfen. Leuchtturm besteht heute aus acht Marken statt nur einer, hat mehr als 500 Mitarbeiter und machte im vergangenen Jahr 100 Millionen Euro Umsatz. Wie haben die Brüder das geschafft?
Phase 1: Einfach mal machen
Für Leuchtturm beginnt die Transformation auf einem kleinen Hügel in Geesthacht, Schleswig-Holstein. Neben den großen Backsteingebäuden der Firma stehen eine Kirche und Hunderte Wohnhäuser. Schon das ist ungewöhnlich: Inmitten eines Wohngebiets hat die Firma seit 1956 ihren Sitz, und dort empfangen Max und Axel Stürken in der gläsernen Kantine. Beide haben ein schmales Gesicht, eine Brille, graue, nach hinten gekämmte Haare, tragen einen Blazer mit Einstecktuch über einem dezenten Pullover und Hemd, dazu Chelsea-Boots. Lediglich bei der Uhr gehen sie verschiedene Wege: Max trägt eine moderne Smartwatch, der ältere Bruder Alex eine analoge.
Schon als Jugendliche haben sie in der Firma gejobbt, damals war alles noch überschaubarer. Dort, wo früher die Kantine war, ist heute beispielsweise nur noch ein Gang, der zu einem Hochregallager führt. 8.000 Paletten passen dort hinein und zeigen, was für ein riesiges Unternehmen Leuchtturm heute ist. Als ihr Vater sie in den Neunzigerjahren in die Firma holte, war davon keine Rede. Stattdessen standen sie vor einer der wichtigsten Veränderungen im Familienunternehmen überhaupt: einem Generationenwechsel.
Viele Unternehmer scheuen sich davor, die Firma weiterzugeben, weil zahlreiche Konflikte aufploppen können. Jan-Philipp Ahrens, Professor an der Universität Mannheim und Leiter der Interdisziplinären Forschungsgruppe Familienunternehmen, sagt: „Nachfolge ist die Achillesferse der Familienunternehmen.“ Immerhin seien die Stärken eines Familienunternehmens die Stabilität und Kontinuität, geprägt durch wenig Wechsel in der Geschäftsführung. Mit der Übergabe an die nächste Generation kann das schnell wegbrechen. Die „Neuen“ wollen schließlich eigene Ideen mitbringen, was in der Firma zu Unruhe führen kann. Der Wechsel berge aber auch große Möglichkeiten: „Der Start einer neuen Generation bietet die einmalige Chance, die alte Langfristigkeit durch eine neue Basis zu ersetzen und so das Unternehmen für weitere 50 Jahre sattelfest zu machen“, sagt Ahrens. „Wenn man es richtig macht.“
Vor ebenjener Herausforderung stehen in den kommenden Jahren viele Familienunternehmen in Deutschland, wie eine Auswertung der Stiftung Familienunternehmen zeigt. Demnach geben in den kommenden Jahren mehr als 40 Prozent aller Eigentümerinnen und Eigentümer die Verantwortung für das eigene Unternehmen in die Hände ihrer Kinder. Immer mehr liebäugeln mit einem Verkauf. Als Gründe geben sie die multiplen Krisen und fehlende Finanzierungsmöglichkeiten an. Kurzum: Viele sehen nicht mehr so viel Perspektive in ihrem Geschäft.
Bei Stürkens war das ja nicht anders. Doch sie stiegen nicht aus, sondern gingen einen Weg, auf dem sie gestalten konnten. Zunächst holte Axel seinen Bruder dazu, weil er sicher war: Transformation gelingt besser zu zweit. Zusammen machten sie eine Bestandsaufnahme. Auf der Habenseite fanden sie eine völlig solide Firma mit 160 Mitarbeitern, rund 20 Millionen D-Mark Umsatz, einer Million D-Mark Gewinn und einen Vater, der sie machen ließ. Das war hervorragend. Auf der Sollseite hingegen mussten sie verbuchen, dass das Geschäft dahindümpelte und ihnen keine ausreichende Zukunft bot. Wer will in 40 Jahren schon noch Briefmarkenalben kaufen?
Etwas Neues musste her. Glücklicherweise war es die Zeit des ersten Internet-Hypes, alle sprachen vom E-Commerce, von Revolution. Davon ließen sich die Brüder anstecken, entwarfen kurzerhand Torquato, einen Onlineshop für Premiumartikel, die es sonst nirgendwo gab. Dazu zählen heute Verkaufsschlager wie Galoschen für eisige Tage oder ein handgefertigter Kamin-Anpuster. Im Oktober 2000 ging der Onlineshop in Rekordzeit live und verkaufte dann: nichts. Drei Tage dauerte es, bis die erste Bestellung eintraf, wirklich viele wurden es in den Folgemonaten nicht. Bis Ende 2000 machte der Shop gerade einmal 50.000 D-Mark Umsatz.
Die Brüder hätten die Flinte ins Korn werfen können. Sie hätten voller Panik immer mehr Geld investieren können. Doch sie suchten und erkannten das Problem: Niemand fand sie im Internet. Also kauften sie massenweise Adressen und verschickten Kataloge, um die Leute auf sich aufmerksam zu machen. Ein Jahr später lag der Umsatz bei einer Million D-Mark. „Wir haben dabei viel gelernt, was bei anderen Ideen dann wichtig wurde. Deswegen sind wir große Fans davon, möglichst viel selber zu machen und wenig einzukaufen, so bleibt das Know-how im Haus“, erzählt Axel Stürken.
Phase 2: Widerstände überwinden
Der wahre Durchbruch der Brüder kam allerdings erst ein Jahr später und so analog um die Ecke wie die Uhr am Handgelenk von Axel Stürken. Es war die Zeit der Euro-Euphorie. 16 Länder führten gleichzeitig Münzen ein, die auf der einen Seite identisch, auf der anderen aber unterschiedlich aussahen. Die sammelaffinen Stürkens witterten sofort eine Geschäftschance: „Es war klar, dass Euromünzen unter Sammlern ein heißes Ding werden“, sagt er heute. Na ja, zumindest den Brüdern war es klar. Als sie überlegten, ob sie 5.000 oder 10.000 Münzsammelalben bei ihrem Lieferanten vorbestellen und an Händler schicken sollten, sagte ihr Vertriebsleiter skeptisch: „Wenn Sie meinen, dass Sie die verkaufen können, bitte schön.“ So erzählen es die beiden heute.
Auch sonst gab es viele Widerstände in der Firma, die lange von einem Produkt lebte und bei der die Absprachen eingespielt, die Abläufe eingebrannt waren. „Die alten Prozesse zu durchbrechen, kann schwierig sein“, sagt der Forscher Jan-Philipp Ahrens. „Aber wer ein Unternehmen in die nächsten Jahre führen will, muss visionär und durchsetzungsstark sein. Gerade wenn alle sagen: ›Das geht nicht‹, muss man es erst recht machen.“
So wie die Stürken-Brüder. Sie setzten sich gegen die langgedienten Mitarbeiter durch, kauften die große Menge – und dann ging der Euro-Collector durch die Decke. Innerhalb eines Jahres verkauften sie eigenen Angaben zufolge sagenhafte 500.000 Stück, zumeist über das von den Briefmarkenalben etablierte Händlernetz. Aber auch große Kaufhausketten wie Kaufhof erwarben für sechsstellige Beträge Euro-Collectoren bei Leuchtturm. Nach kurzer Zeit verstummten die kritischen Stimmen.
Phase 3: Innovation etablieren
Die zusätzlichen Einnahmen aus dem Euro-Collector hatten einen unvergleichlichen Effekt: Sie schufen Spielräume. Plötzlich war die Firma nicht mehr solide mit Tendenz zur Bedeutungslosigkeit, sondern schlagkräftig. Die Stürken-Brüder nutzten den zeitlichen und finanziellen Spielraum und experimentierten ab 2005 mit neuen Produkten und Geschäftsideen. Da gab es beispielsweise das sogenannte Privatarchiv, ein besonders hübsches Ordnersystem mit edlen Aktenordnern, in denen die Menschen ihre wichtigen und unwichtigen Dokumente ablegen sollten. Die potenziellen Kunden zeigten daran kein Interesse: zu teuer, zu unnütz.
Oder die Aktentasche. Das war eine Schultertasche, mit der man Aktenordner durch die Gegend transportieren konnte. Ein Flop. Oder das digitale Fotoalbum. Das sollte ein Produkt werden, bei dem man Bilder von einer Digitalkamera mittels einer mitgelieferten Software zusammenstellen und auf speziellen Albumseiten ausdrucken konnte. „Online-Angebote wie Cewe gab es damals noch nicht“, sagt Max Stürken. Zwei Jahre und einen fünfstelligen Betrag investierten sie, nur um zu merken: In der Zwischenzeit gab es diese Online-Anbieter leider doch. „Das haben wir dann komplett wegschmeißen müssen, inklusive aller Entwicklungskosten und allem“, sagt Axel Stürken heute. „Das tat finanziell schon weh.“
Doch wenn sie heute daran zurückdenken, wollen die Stürkens kein Experiment missen. Aus allen haben sie etwas gelernt. Mal, dass ein Produkt ein Problem auch lösen muss. Oder dass es einzigartig sein muss. Oder dass man manchmal etwas schneller sein muss. Und manchmal klappt dann auch etwas.
Ebenfalls 2005 holten sie Philip Döbler ins Unternehmen, der später zum Geschäftsführer aufsteigen sollte. Zusammen nahmen sie sich vier Jahre Zeit, um „Leuchtturm1917“ als Schreibwarenmarke zu entwickeln. Die Stürken-Brüder machten damals, so erzählen sie es, gerne handschriftliche Notizen und hofften, dass es vielen anderen auch so gehen könnte. Also erfanden sie ein Notizbuch in A4-Überformat, in dem Nutzer ihre Notizblätter einfach verschwinden lassen konnten. Sie brachten die Bücher in verschiedenen Farben heraus. In Zeiten von schwarzen Kladden ein Novum und ein Erfolgsgarant.
Heute ist die Notizbuchsparte, zu der auch Journals oder Kalender zählen, mit einem Anteil von 40 Prozent der wichtigste Umsatzbringer. Weitere 25 Prozent kommen aus dem Sammelzubehör der Marke Leuchtturm. Der Onlineshop Torquato kommt auf 23 Prozent und die restlichen Marken auf etwa 14 Prozent des Umsatzes. Und die guten alten Briefmarkenalben? Machen nur noch sieben Prozent aus.
Aus einer Produktionsfirma ist über die Jahre ein Handelshaus geworden, das weltweit agiert. Im Lager zeigen die Stürkens Kisten, die in die USA, nach Usbekistan oder Polen gehen. Für Jan-Philipp Ahrens, der sich das Unternehmen etwas genauer angeschaut hat, ist es ein Paradebeispiel. „Innovation gelingt in Familienunternehmen oft mit wenig Input, aber man muss viel experimentieren“, sagt er. „Am besten funktionieren neue Geschäftsmodelle, wenn sie eine Nische besetzen und diese dann international skalieren“, urteilt Ahrens. „Das ist hier über den Onlinehandel geschehen.“
Und die Brüder? Sind durchaus zufrieden damit, wie es sich entwickelt. Dass sie sich getraut haben, dass sie die Veränderung gemeistert haben. Dass es so gekommen ist, ist aber nicht nur mit Zeit, Glück und Mut zu erklären. Nein, es liegt auch daran, dass die Brüder die Verantwortung nicht allein tragen mussten. Die Aufteilung der Themen hilft, den Überblick nicht zu verlieren. Max kümmert sich eher um den Vertrieb, Axel um Produktentwicklung und Marketing, wichtige Entscheidungen treffen sie gemeinsam. „Dass wir das als Brüder zusammen machen, ist vielleicht unsere größte Stärke“, sagt Axel zu Max. Ein kurzer Blick zum anderen, und beide nicken sich zu.