Härtetest für Ehrgeizige
ZEIT RedaktionMehr als 100 deutsche Firmen haben sich als B-Corp auszeichnen lassen. Das Nachhaltigkeitslabel gilt als ausgesprochen streng und fordert Transparenz in sämtlichen Belangen. Warum tun sich Mittelständler auch diesen Aufwand an?
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.
Wenn Dennis Kaiser zeigen will, wie er sich die Zukunft vorstellt, führt der 36-jährige Unternehmer seine Besucher in den fünften Stock eines Ortes mit großer Vergangenheit: das Johann Jacobs Haus in Bremen, benannt nach dem Gründer der bekannten Kaffeemarke Jacobs. Hier oben stapeln sich Säcke voller Kaffeebohnen aus Guatemala, Brasilien, Kenia und Äthiopien. Zwei Mitarbeiter stehen an der silbernen Röstmaschine und verpacken den Kaffee, dessen Kaffeekirschen laut Kaiser nicht nur handgepflückt sind, sondern der insgesamt besonders nachhaltig werden soll. Deshalb ist er auch besonders teuer: 60 Euro pro Kilo kostet zum Beispiel die teuerste Sorte aus Kolumbien, die nach Granatapfel, Mirabelle und Salzkaramell schmecken soll.
Wie kann man den Kunden klarmachen, dass solche Preise angemessen sind?
Schöne Absichten formulieren viele, auch der Firmenchef Kaiser: „Wir wollen all jene Menschen fair entlohnen, die in den Kaffeeursprungsländern vor Ort maßgeblich zur Wertschöpfung beitragen“, sagt er. Das Unternehmen versuche deshalb gerade herauszufinden, wie viel Geld den Kaffeeproduzenten wirklich zufließt. Künftig wolle man die Bezahlung anpassen. „Damit möchten wir sicherstellen, dass ein höherer Anteil der Wertschöpfung im Kaffeeursprung ankommt, als es heute weltweit der Fall ist“, sagt Kaiser. Im Mai hat er den ersten Nachhaltigkeitsbericht veröffentlicht. Auch darin gibt es Ankündigungen: So will Kaiser, dass Kunden bald über QR-Codes auf der Verpackung nachvollziehen können, woher der Kaffee stammt, den sie da gekauft haben.
Vieles ist Zukunftsmusik. Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen sind voll mit Zielen, die sie gerne einmal erreichen möchten. Daraus abzulesen, wie nachhaltig sie wirklich sind, ist schwer. Um zu beweisen, wie ernst er es aber meint, hat Kaiser sich um eines der anspruchsvollsten Nachhaltigkeitszertifikate beworben, die es derzeit weltweit gibt. Die Johann Jacobs Haus GmbH, die dem Urgroßneffen des Gründers der Kaffeedynastie Jacobs Kaffee gehört, soll ein sogenanntes B-Corp werden. B-Corps sollen, kurz gesagt, der Gemeinschaft nutzen.
Hinter dem Zertifikat steckt die Non-Profit-Organisation B Lab. Sie wurde 2006 in den USA gegründet, kam vor gut elf Jahren nach Europa und ist seit Ende 2020 auch in Deutschland vertreten. Die Bewegung vereint heute weltweit über 6.000 zertifizierte Unternehmen, darunter den Outdoor-Ausrüster Patagonia, die Eismarke Ben and Jerry’s und die britische Zeitung The Guardian. In Deutschland haben erst etwas über 100 Unternehmen die Auszeichnung erhalten.
B-Corps müssen sich in ihren Statuten zu gesellschaftlichem Mehrwert und ökologischer Nachhaltigkeit bekennen. Ein klassisches Aktienunternehmen ist vor allem seinen Aktionären verpflichtet. Ein B-Corp nimmt in seine Statuten auf, dass es die Interessen aller Stakeholder berücksichtigt, also etwa der Mitarbeitenden und Kunden, aber auch der Lieferanten und der Umwelt. Um das zu verankern, braucht es bei vielen Firmen eine Änderung ihrer Satzung. Das soll für Beständigkeit sorgen: Ein neuer Geschäftsführer soll es schwer haben, einfach wieder alles nach bloßem Profit zu steuern. Damit hebt sich das Zertifikat von anderen Standards wie der Gemeinwohlökonomie oder dem Deutschen Nachhaltigkeitskodex ab.
Unternehmen, die in kontroversen Geschäftsfeldern tätig sind, müssen zusätzliche Auflagen erfüllen, um zum B-Corp zu werden. Was als kontrovers definiert wird, ändert sich laufend. Die Kategorien reichen von Rüstungsprodukten über Lebensversicherungen bis hin zu Muttermilch-Substituten. Keine Chance auf eine Zertifizierung haben unter anderem private Lotterieanbieter, Finanzdienstleister in Steueroasen und Firmen, die mit Menschenrechtsverletzungen in Verbindung stehende Regierungen beliefern.
Die Firma zertifizieren zu lassen, ist nicht umsonst; die Kosten richten sich nach der Firmengröße, kleine zahlen zum Beispiel 2.000 Euro pro Jahr. Dazu kommen Kosten durch die aufwendige Vorbereitung: Die Firmen müssen zahlreiche Daten sammeln, Unterlagen einreichen, Fragen beantworten. Für jede Antwort gibt es Punkte. Wer mindestens 80 erhält, wird B-Corp. Die Median-Punktzahl liegt bei 50,9 Punkten – die meisten Bewerber fallen durch. Das aktuell führende Unternehmen ist der Naturkosmetikhersteller Dr. Bronner’s mit 206,7 Punkten. Die Antworten der Unternehmen sind öffentlich einsehbar, etwa die des Finanzdienstleisters Tomorrow mit 118,1 Punkten oder des Lebensmittelhändlers Mymuesli, der gerade so die 80 Punkte erreichte. Sensible Angaben, etwa zum Umsatz, dürfen geschwärzt werden.
Dennis Kaiser vom Johann Jacobs Haus sammelt nun schon seit drei Jahren Daten, verschickt Unterlagen, beantwortet Frage um Frage. Wie viel Prozent mehr als den Mindestlohn verdient Ihr am schlechtesten bezahlter Mitarbeiter? Welcher Anteil des Umsatzes wird gemeinnützigen Zwecken gespendet? Wie viele CO2-Emissionen verursacht das Unternehmen? Für Kaiser ist das viel Arbeit, das meiste macht der Chef des zehnköpfigen Teams selbst.
Warum all der Aufwand, um ein Siegel auf die Homepage und die Produkte zu setzen? Schließlich ist das Label in Deutschland noch weitestgehend unbekannt. Ein Grund: Kaiser ist durch den Prozess gezwungen, seine Firma systematisch zu durchleuchten, und sieht, was er zukünftig besser machen kann. „Wir haben zum Beispiel im Rahmen der Zertifizierung gemessen, dass wir mit unseren Einkaufspreisen deutlich über den gängigen Fairtrade-Preisen für Rohkaffee liegen“, sagt er stolz. Gelingt die Zertifizierung, wird Kaiser Teil eines Netzwerks und kann sich mit anderen Unternehmen austauschen, die ebenfalls nachhaltiger werden wollen. Zudem kann das Label helfen, neue Geschäftspartner zu gewinnen.
Ob das den Aufwand wert ist, kommt wohl auf die Erwartungshaltung an. Wer nur deshalb auf einen reißenden Absatz seiner Produkte hofft, der sollte sich das alles sparen. Es geht vielmehr darum, das eigene Handeln glaubhaft zu reflektieren. Die Zertifizierung setze ein Signal, dass sich sein Unternehmen wirklich um Nachhaltigkeit bemühe und nicht nur Marketing betreibe, hofft Kaiser.
Tina Müller formuliert es gegenüber ihren mehr als 220.000 Followern auf LinkedIn so: „Es geht um Haltung. Um gesellschaftlichen Mehrwert und ökologische Nachhaltigkeit und darum, wie wir handeln. Und eben nicht um Gewinnmaximierung um jeden Preis oder auf Kosten von Menschen, Tier und Umwelt.“
Müller war bis Ende 2022 die Chefin der Parfümeriekette Douglas und galt nicht gerade als Vorkämpferin für Nachhaltigkeit. Seit Oktober 2023 leitet die 55-Jährige den Schweizer Naturkosmetik- und Arzneimittelhersteller Weleda, dessen Produkte man früher vor allem in Reformhäusern bekam und der heute 2.500 Menschen beschäftigt und mehr als 400 Millionen Euro Umsatz im Jahr erzielt. Und der seit 2021 als B-Corp zertifiziert ist. Um das Zertifikat zu nutzen, muss die Firma jährlich rund 40.000 Euro an B-Corp zahlen. Wie andere Naturkosmetikhersteller, zum Beispiel der Konkurrent Kneipp, profiliert sich Weleda über ein nachhaltiges Image.
Auf LinkedIn erntete Müller mit ihrem Post vor allem Lob, ein Unternehmer schrieb aber auch: „Noch nie gehört“, dazu einen grübelnden Emoji. Warum braucht eine Marke wie Weleda, die auch vorher schon als verantwortungsbewusst galt und diverse Nachhaltigkeitsauszeichnungen erhalten hat, bitte schön noch so einen Stempel?
Anruf bei Stefan Siemer. Der Nachhaltigkeitschef von Weleda kann mit Details unterfüttern, was seine Chefin Tina Müller so plakativ in die Welt posaunt. Siemer sagt, Weleda wolle mit seiner Zertifizierung als B-Corp noch nachhaltiger werden. Die Fragebögen würden Schwachstellen im Unternehmen sichtbar machen und öffentlich Druck aufbauen, etwas daran zu ändern.
Weleda kommt derzeit auf 106,8 Punkte – also deutlich mehr als das vorgegebene Minimum von 80 Punkten. Alle drei Jahre muss der Konzern das Zertifikat wie jedes B-Corp erneuern. Weleda ist gerade mittendrin. Die Dokumentation zeigt manche Schwachstelle. So stammten zum Zeitpunkt der Zertifizierung weniger als 50 Prozent des Stroms, den Weleda verbraucht, aus regenerativen Quellen – also gab es nur 0,11 von 0,31 möglichen Punkten. Ganz leer ging Weleda bei der Frage aus, wie viel Energie und CO2 es dank Effizienzsteigerungen eingespart habe: „Don’t know“, kreuzte Siemer an. Dafür setzte die Firma einen Haken bei der Frage, ob man die eigenen Produkte an Tieren teste. „Als Arzneimittelhersteller in der Schweiz sind wir unter bestimmten Bedingungen dazu gesetzlich verpflichtet“, begründet Siemer. Das konnte Weleda auch den Zertifizierern erläutern.
Mit der Rezertifizierung will Weleda das eigene Ergebnis knacken, mindestens 110 Punkte sollen es werden. Leicht ist das nicht. B Lab passt die Fragebögen regelmäßig an und erhöht die Anforderungen. An einer Stelle wird es mit Sicherheit mehr Punkte geben: Auf die Frage, ob die Firma von jemandem geführt wird, der zu einer unterrepräsentierten Gruppe gehört, kann Siemer zukünftig „von einer Frau geführt“ ankreuzen – dank Tina Müller.
Es geht um Haltung
Tina Müller, Geschäftsführerin Weleda
Neben zahlreichen Pionieren ist unter anderem Nespresso als B-Corp zertifiziert. Das Unternehmen stand immer wieder in der Kritik, zum einen wegen der Umweltauswirkungen seiner Kapseln und zum anderen, weil es eine Tochtergesellschaft von Nestlé ist. „Nespresso ist ein eigenständiges Unternehmen mit vollständiger Kontrolle über seine Produkte und Operationen“, verteidigt sich Andrew Green, Chef von B Lab Deutschland. Und als solches sei es auch zertifiziert. „Als das bekannt wurde, gab es einen ziemlichen Aufschrei in der Community“, sagt Stefan Siemer. Er sieht die Zertifizierung von Nespresso „ambivalent“. Auf Markenebene müsse Weleda natürlich genau schauen, welche Marken noch B-Corps sind. Das Beispiel Nespresso zeige aber auch, dass Nachhaltigkeit zum Mainstream werden kann. Zudem habe der Fall dazu beigetragen, dass die Zertifizierungsstandards für B-Corps hinterfragt und angepasst wurden.
Es sind die typischen Wachstumsschmerzen, die die B-Corp-Bewegung gerade durchmachen muss. Zu welchem Preis sollte man wachsen und bekannter werden, ab welchem Punkt werden die Standards verwässert? Noch gelten B-Corps als Club mit hohen Zugangsbarrieren. Dennis Kaiser vom Jacobs Kaffee Haus hofft, bald dazuzugehören – auch wenn der Kaffee-Gourmet aus Bremen dann auf einen Kaffeekapselhersteller aus der Schweiz treffen könnte.