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Die Digitalisierung schreitet voran

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09. Juli 2024
ZEIT Redaktion

Unternehmen wie Festool investieren Zeit und Arbeit in digitale Baupläne für neue Produkte – und verschenken sie an ihre Kunden. Wie soll sich das rechnen?

von Jennifer Spatz

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“

Als Barbara Austel im April das erste Mal davon erfährt, dass ihre Firma jetzt Produkte verschenkt, da läuft das Ganze schon ein paar Wochen. Die 48-Jährige ist Aufsichts­rats­vorsitzende bei TTS Tooltechnic Systems und Festool, einem Elektro­werk­zeug­hersteller aus Wendlingen am Neckar mit 2.700 Mitarbeitern. Dort hat sich ein kleines Mitarbeiter­team zusammen­geschlossen, um 3-D-Druck-Modelle zu entwerfen und online zu veröffentlichen. Kunden können sie dort herunter­laden. Der Preis: null Euro.

Wenn Austel davon erzählt, fällt ihr ein Satz des Firmengründers Gottfried Stoll ein: „Verschenken kann ich selbst, dafür brauche ich keine Organisation!“ So habe der Großvater das einmal gesagt, erinnert sich die Enkelin. Die 48-Jährige sieht es nun etwas anders: Sie findet die Idee ihres Teams gut.

Das Unternehmen verschenkt Dateien, mit deren Hilfe sich Kunden Zubehör für Festool-Werkzeuge wie diverse Halterungen oder Führungs­schienen einfach selbst ausdrucken können – sofern sie einen 3-D-Drucker besitzen. Also ein Gerät, das etwa aus Kunststoff drei­dimensionale Gegenstände fertigen kann. Kein Zwischen­händler, kein Gang zum Fachhandel, keine Bestellung notwendig. Ein kosten­loser Download, auch „Freebie“ genannt, genügt.

Gottfried Stoll ist 1971 gestorben, fast 50 Jahre nachdem er das Familien­unternehmen gegründet hatte. Wäre er heute noch am Leben, würde er wohl fragen: Was bitte hat meine Organisation davon, die Dateien zu entwickeln und einfach zu verschenken, ohne daran einen Cent zu verdienen?

Christian Nagel von Festool kann das gut erklären. „3-D-Druck ist längst im Handwerk angekommen“, sagt der Innovations­manager. Schreiner können zum Beispiel Entwürfe für Laden­zeilen drucken und mit Kunden besprechen. Sie können Ersatzteile nach­drucken, die nicht mehr verfügbar sind, oder beschädigte Teile, die ausgetauscht gehören. Und wenn Festool kostenlos die nötigen 3-D-Modelle anbietet, kann man vielleicht neue potenzielle Kunden erreichen, die so auf die Firma aufmerksam werden – so Nagels Gedanke.

Denn neue Kunden braucht Festool, vor allem jüngere. Die Aufsichts­rats­vorsitzende Barbara Austel hat das erkannt: „Wir sind eine Traditions­marke und haben entsprechend eine eher ältere Kundschaft“, sagt die gelernte Schreinerin. „Wir wollen aber genauso für junge Hand- und Heimwerker die Marke des Vertrauens sein.“

8090 Patent­anmeldungen

gab es im Bereich 3-D-Druck im Jahr 2020, etwa siebenmal mehr als 2013

Mit dem 3-D-Druck soll das klappen – denn die neue Technologie liegt im Trend. Mit 3-D-Druckern lassen sich Gegenstände in der eigenen Werkstatt herstellen, die früher in Fabriken produziert werden mussten. Im Handwerk, in der Industrie, aber auch unter Verbrauchern: Laut einer Umfrage des Digitalverbands Bitkom kann sich jeder fünfte Deutsche vorstellen, sogar kultiviertes Fleisch aus dem 3-D-Drucker zu essen. Das kann man sich zwar nicht zu Hause ausdrucken, aber es zeigt: Die Akzeptanz wächst.

Das Prinzip hinter der Technologie ist dabei immer dasselbe, egal ob hinten ein Wandhaken oder ein Filetsteak rauskommt. Damit ein 3-D-Drucker weiß, was er tun soll, braucht er neben dem Ausgangsmaterial – also zum Beispiel Kunststoff, Silikon oder eben einer Proteinmasse – eine spezielle Datei, in der das Endprodukt gespeichert ist. Solche Dateien kann theoretisch jeder mit dem notwendigen Know-how und geeigneten Programmen erstellen. Auf Onlineplattformen wie Thingiverse oder Printables tauschen sich inzwischen Millionen 3-D-Druck-Fans weltweit über Modelle aus und laden Dateien hoch, über 700.000 davon gibt es allein bei Printables. Festool stellt dort aktuell sechs Dateien zum Download bereit. Seit Anfang April wurden sie schon etwa 2.500-mal heruntergeladen.

Manuel Siskowski berät Firmen mit seiner Agentur Enable 3-D dabei, in die wachsende 3-D-Druck-Fangemeinde einzusteigen. Er ist überzeugt: „3-D-Freebies stärken die Kundenbindung und die Markenwahrnehmung enorm.“

Klar – Siskowski verdient auch gut daran, wenn Firmen mit ihm in Workshops Modelle entwickeln, die zur Produktpalette der Kunden passen. Der Prozess dauere von der ersten Anfrage bis zum fertigen Modell mindestens sechs Monate. Die Druckdatei lasse sich dann innerhalb weniger Tage erstellen. Sie danach einfach hochzuladen, reiche aber nicht, findet Siskowski. Man muss die Nutzer darauf hinweisen, ihre Fragen beantworten und bei Bedarf Fehler in ihren Dateien ausbessern. Siskowski bietet an, sich um die Community-Pflege und die Anpassungen zu kümmern. Kosten der Flatrate: 3.000 Euro – pro Jahr und Modell.

Christian Nagel und sein Team übernehmen das selbst. Er sagt: Die Freebies zum Selbstausdrucken kämen gut an und würden dem Unternehmen neue Follower bringen. Auf allen Kanälen melden sich ihm zufolge Handwerkerinnen und Handwerker, sprechen Lob aus oder machen Vorschläge für Verbesserungen und weitere Modelle – oder weisen auf Fehler hin. Zum Beispiel bei einer Halterung zum Selbstausdrucken: „Sollen die Lochabstände unregelmäßig sein?“, will ein Nutzer auf der Plattform Printables wissen. Natürlich nicht, sagt Nagel. Der Fehler wird schnell behoben.

13%

der 3-D-Druck-Patente kommen aus Deutschland. Das zeigen Zahlen des Europäischen Patentamts

Forscher sprechen von „Open Innovation“, wenn Unternehmen ihre Kunden in die Entwicklung von Produkten einbinden. Mitunter kann die Weisheit vieler Nutzer eine Firma so eher weiterbringen als die Expertise weniger Profis.

Zumal viele Profis aus dem Spritzguss kommen und mit 3-D-Druck keine Erfahrung haben, wie der Berater Siskowski sagt. Das spiegele sich dann in den Modellen wider, die in vielen Fällen schlicht nicht druckbar sind. Das sorge dann für Frust bei den Kunden. Deswegen sollten die Firmen ihre 3-D-Modelle selbst ausgiebig testen.

Einer seiner Kunden ist das ehemalige Familienunternehmen Wiesemann 1893 aus Breckerfeld im Ruhr­gebiet, das Siskowski bis Oktober 2023 noch selbst gehört hat. Die Firma stellt Profi­werkzeuge her und vertreibt sie im Netz. Stil­prägend für die Marke sind zwei große neben­einander­stehende X. Die finden sich auch in jedem der 95 verfügbaren 3-D-Modelle. Mithilfe der Dateien kann sich die Kundschaft zum Beispiel Tisch­ständer für Schrauben­dreher oder Wandhalter für Hammer drucken.

Siskowski sagt, Wiesemann sei dank der 3-D-Druck-Dateien nicht nur bekannter geworden. Es spare so auch Geld. „Früher lag jedem Schrauben­dreher­set noch eine Halterung bei“, erzählt Siskowski. Die Verpackung sei dementsprechend größer gewesen. Um mehr Ware pro Container unter­zu­bringen, entschied sich Wiesemann dazu, die Halter zu streichen und stattdessen den Gratis­download anzubieten. Das Ergebnis: Kosten gespart, neues Produkt geschaffen, Draht zu den Kunden aufgebaut.

Genau das sind die Stärken solcher Freebies, sagt Annika Zuknik, Marketingleiterin von Schlütersche Marketing. „Gute kostenlose Inhalte zeigen sowohl Neu- als auch Bestands­kunden, dass sie hier einen glaub­würdigen und qualifizierten Partner an ihrer Seite haben.“ Noch dazu sind digitale Inhalte leicht skalierbar und haben kaum Grenzkosten. Das heißt: Hat ein Unternehmen einmal ein 3-D-Modell entwickelt, macht es finanziell keinen Unterschied, ob es zehn, tausend oder zehn­tausend Nutzer herunter­laden und verwenden.

Wer jetzt auch in das Geschäft mit den Freebies einsteigen will, sollte wie ein „Problemlöser oder Weiterbilder“ auftreten, rät Zuznik. Die Kunden brauchen eine Halterung für den Bohr­maschinen­akku? Einen Taschenträger, Gürtelhänger, Schrauben­sortierer, Kaffee­filter­ständer? Oder einfach einen Ersatz für den Hebel, der immer wieder vom Rasenmäher abbricht? Kein Problem, hier ist das Modell dazu!

Genauso lassen sich die Freebies bewerben. „Menschen geben in Suchmaschinen oft Fragen oder Probleme ein“, sagt Zuznik. „Genau auf solche Keywords können Unternehmen Anzeigen schalten.“

Doch was bei einem selbst gut funktioniert, kann natürlich auch für die Konkurrenz spannend sein. Schließlich können Mitbewerber die Datei einfach herunterladen und inspizieren.

Allgemein gilt: Selbst erstellte Dateien sind urheberrechtlich geschützt. Welche Spielregeln gelten, sind bei jeder Datei vermerkt. Festool bestimmt zum Beispiel, dass seine Dateien nirgendwo anders hoch­geladen oder verbreitet werden dürfen. Es ist Nutzern nicht erlaubt, sie zu verändern, die Dateien kommerziell zu nutzen oder das gedruckte Produkt zu verkaufen. Ein ultimativer Schutz ist das, wie bei allen digitalen Inhalten, natürlich nicht. Es handelt sich aber auch nicht um Produkte, für die Festool sonst Geld verlangen würde.

Die Aufsichtsratsvorsitzende Barbara Austel sieht das Thema Urheberrecht darum gelassen: „Patente sind wichtig, aber Unternehmen müssen auch offener werden. Wir müssen einfach damit zurechtkommen, wenn unsere Dateien auch mal weiter genutzt werden“, sagt sie. „Eigentlich fühlen wir uns eher geehrt, wenn größere Mitbewerber sich etwas von unseren Freebies abschauen“, sagt die Unternehmerin.

Ihren Innovationsmanager Christian Nagel motiviert das. Für seine Arbeit an der Werkbank hat er sich längst den Schlauch- und den Schleifer­halter ausgedruckt.