ZEIT für X
Kaum jemand will in Deutschland Start-Ups gründen
Ein Tag mit ... Anna Christmann

Sie soll das Gründen populär machen, nur entscheiden darf sie wenig. Klappt das?

14. Oktober 2024
ZEIT Redaktion

Anna Christmann ist die Start-up-Beauftragte der Bundes­regierung. Sie hat kaum Macht, aber viele Pläne für ein Land, in dem kaum jemand Firmen aufbauen will

Von Bastian Hauser

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.

Wenn man Unternehmertum wirklich fördern will, hängt viel davon ab, wie man mit den Gescheiterten umgeht. Denjenigen, die es im ersten Anlauf nicht schaffen, obwohl sie sich reingehängt und etwas riskiert haben. Die vielleicht darüber nachdenken aufzugeben – obwohl sie nun Erfahrungen gesammelt haben und im zweiten Anlauf womöglich umso wahr­scheinlicher erfolg­reich sein könnten.

An einem Abend in diesem Sommer hält Anna Christmann ganz gezielt Ausschau nach den Verlierern. Eben noch stand sie mit dem Bundes­wirtschafts­minister Robert Habeck auf einer Bühne im Berliner Westhafen, auf der Jubiläums­feier des Exist-Programms, mit dem der Staat seit 25 Jahren Ausgründungen aus der Wissenschaft fördert. Bei einem Wettbewerb haben sich 26 Initiativen beworben, um sogenannte Start-up Factories aufzubauen, die als Vorbilder für andere Wissenschafts-Start-ups dienen und besonders gefördert werden sollen. Neun Teams fliegen schon in der ersten Runde raus. Nun spricht Christmann die Gescheiterten an, macht ihnen Mut, sie sollten den Wettbewerb als Impuls sehen und es trotzdem weiter versuchen. Scheitern als Chance sozusagen.

Anna Christmann, Jahrgang 1983, ist eine Politikerin der Grünen und seit 2017 im Bundestag. Im Januar 2022 hat Habeck sie zur Beauftragten der Bundes­regierung für Digitale Wirtschaft und Start-ups ernannt. Ein Ehrenamt, das zwar keine politische Macht mit sich bringt, aber trotzdem viel Verantwortung. Denn Deutschland wäre ja ach so gerne ein Land der Gründerinnen und Gründer – nur leider ist es keines.

Zahlen zeigen das Problem immer wieder. Zum Beispiel der Gründungs­monitor der Förderbank KfW. Danach ist die Zahl der Existenzvgründungen 2023 zwar minimal auf 568.000 gestiegen. Aber das lag vor allem daran, dass mehr Menschen im Nebenerwerb selbst­ständig arbeiten. Die Zahl an Gründungen im Vollerwerb schrumpfte dagegen um acht Prozent auf 205.000. Die Experten der Bank gehen sogar davon aus, dass die Zahl 2024 weiter sinken wird.

Im internationalen Vergleich steht Deutschland deswegen schlecht da. Seit Jahren. Im aktuellen „Global Entrepreneur­ship Monitor“ bewerten die Befragten die Gründungs­bedingungen hier­zu­lande deutlich schlechter als in den meisten anderen ähnlich entwickelten Ländern. Und in kaum einem anderen Staat erwarten so wenige Menschen, dass sie in den kommenden drei Jahren eine eigene Firma starten werden. Die Deutschen würden sich zu wenig trauen, sagt Christmann. Dabei könne man doch aus dem Scheitern wahn­sinnig viel lernen! Dass diese Einstellung oft fehlt, ist ein Problem für die Wirtschaft und das Land – auch weil die Start-ups von heute der Mittel­stand von morgen seien, wie Christmann gerne betont. Und es bedeutet viel Arbeit für eine Politikerin, die für mehr Start-ups und Wagnis­kapital sorgen soll. Das merkt man, wenn man sie einen Tag lang begleitet.

Dieser Tag beginnt morgens auf einem Rollfeld, sie besucht die ILA, eine Luft- und Raum­fahrt­messe auf dem Gelände des Flughafens Berlin-Brandenburg. Koordinatorin für die Deutsche Luft- und Raumfahrt ist sie nämlich auch noch. Viele Jobs also, zu viele vielleicht, wenn schon die Gründer­szene so viel Nach­hol­bedarf hat? Christmann sieht das nicht so, für sie passen Start-ups und Raumfahrt gut zusammen.

Die 40-Jährige erklärt das so: Der Staat soll in Zukunft Dienst­leistungen – wie einen Flug ins All – einkaufen, statt selbst die Rakete zu bauen. Dabei sei es wichtig, dass es einen echten Wettbewerb gebe und der Staat zwischen mehreren Unter­nehmen auswählen könne. Firmen, die mal Start-ups waren. „SpaceX hat ja auch als Start-up angefangen“, sagt Christmann. SpaceX ist das Weltraum-Unternehmen von Elon Musk, das bereits Milliarden­umsätze erzielt und Berichten zufolge von Investoren mit 210 Milliarden Dollar bewertet wird. Man merkt schon: Die Start-up-Beauftragte denkt gerne groß.

Jetzt aber schnell weiter: vom Rollfeld zu einer Diskussions­runde, dann zu den Messe­ständen, Gespräche mit Unternehmerinnen und Unternehmern. Auch wenn der Tag eng getaktet ist, hakt Christmann die Termine nicht einfach ab. Als sie in einem Sandkasten einen recht­eckigen Klotz mit großen Rädern entdeckt, bleibt sie stehen. Und lässt sich erklären, dass das Fahrzeug zur Monderkundung genutzt werden soll. Sie schnappt sich die Fern­bedienung – einen PlayStation-Controller – und steuert den Rover durch den Sand­kasten. In den Gesprächen mit Gründerinnen und Gründern hört sie hin, fragt nach – besonders bei jenen, die vom Staat gefördert werden. „Wir müssen ja schauen, wohin unser Geld geht“, sagt sie und lacht.

Dazu muss man wissen: In Deutschland ist der Staat einer der wichtigsten Geld­geber für Gründer. Er finanziert nicht nur Ausgründungen aus der Wissenschaft, er beteiligt sich zum Beispiel auch über einen Hightech-Gründerfonds an jungen Technologiefirmen. Das hilft sicher, kann aber bei Weitem nicht ausgleichen, dass es in Deutschland mehr als in Ländern wie den USA an privatem Kapital mangelt – gerade dann, wenn Unternehmen Geld zum Wachsen brauchen.

Christmann weiß das und hat sich vorgenommen, mehr privates Kapital von institutionellen Anlegern zu mobilisieren. Sie hat die Start-up-Strategie mitentwickelt, mit der die Bundes­regierung seit 2022 gezielt die Finanzierung für Start-ups stärken will. Mit einem Zukunfts­fonds, über den die Bundes­regierung bis Ende 2030 zehn Milliarden Euro zur Verfügung stellt. Aber auch mit dem Zukunfts­finanzierungs­gesetz, mit dem Start-ups und Wachstums­firmen der Zugang zum Kapital­markt erleichtert wird, im November 2023 wurde es beschlossen. Das Gesetz sei „eine bedeutende Stärkung der Wettbewerbs­fähigkeit des Start-up-Standorts Deutschland“, versprach Christmann auf der Plattform LinkedIn.

Wie wichtig es Christmann ist, gute Bedingungen für Start-ups zu schaffen, wiederholt sie einmal mehr an diesem Vormittag in Berlin. Auf einer kleinen Bühne mit dem großen Namen „Future Lab Stage“. Christmann hört sich einige Pitches von Gründerinnen und Gründern an. Ein Start-up verwendet künstliche Intelligenz und Satelliten­bilder, um Waldbrände zu erkennen. Ein anderes möchte die Inspektion von Triebwerken weitgehend automatisieren.

Christmann hört aufmerksam zu. Sie schaut während der 30 Minuten, in denen die Gründerinnen und Gründer von ihren Plänen erzählen, nur wenige Male aufs Handy. Im Anschluss unterhält sie sich kurz mit einem der Vortragenden, muss aber schnell weiter zum nächsten Termin und packt die beiden Visiten­karten ein, die ihr noch schnell zugesteckt werden. Was aber macht Anna Christmann zur Start-up-Versteherin? Was qualifiziert sie für den Job der Start-up-Beauftragten? Müsste sie dafür nicht selbst mal etwas gegründet haben?

Nun: In Christmanns Lebenslauf sucht man auf den ersten Blick vergeblich nach eigenen unternehmerischen Erfahrungen. Nach ihrem Abitur hat sie Politik, Mathematik und Volks­wirtschafts­lehre studiert, später promovierte sie, in ihrer Arbeit ging es um direkte Demokratie. Mit 20 trat sie den Grünen bei, arbeitete schon während des Studiums für eine Landtags­abgeordnete und heuerte nach der Promotion im Stuttgarter Wissenschafts­ministerium an.

Was man erst im Gespräch erfährt: Ihre Eltern sind Unternehmer und haben mehrere Firmen gegründet. Zunächst einen Verlag, dann eine Druckerei – und mittler­weile haben die beiden eine Computer­firma. Ihre Eltern sind also mit dem digitalen Wandel gewachsen. Um das alles aufzubauen, hätten ihre Eltern viele Nächte durch­gearbeitet. An manchen Abenden habe sie geholfen, Drucksachen zu sortieren. Das mitzuerleben, sei nicht nur „wahnsinnig spannend“ gewesen. Sie habe auch gelernt, wie wichtig „Commitment“ für Gründer sei. „Bei den ganzen Problemen, die wir haben, brauchen wir Leute, die dranbleiben und Dinge aktiv voran­treiben.“ Auch deshalb sieht Christmann es als ihre Aufgabe, für mehr Risiko­freude im Land zu werben. Sie begeistere es, sich mit der Digitalisierung und neuen Technologien zu beschäftigen und mit politischer Arbeit etwas zu bewirken, „also Themen im Konkreten voranzutreiben“.

Wenn es allerdings so richtig konkret wird, dann lieber hinter verschlossenen Türen: Zum Mittagessen trifft sich Christmann mit den Chefs von drei deutschen Raumfahrt-Start-ups. Sie entwickeln und bauen kleine Raketen, die Lasten von 150 Kilogramm bis eine Tonne in die niedrige Erdumlaufbahn bringen sollen. Worum es genau geht, woran es hapert, was den Gründern fehlt – all das würde man schon gerne wissen. Aber der Reporter muss draußen bleiben.

Als Beauftragte für Start-ups hat Christmann wenig formale Macht: Sie kann sich in die Regierungs­arbeit einmischen, aber im Kabinett nicht mit­entscheiden. Stört sie das? „Ich beschäftige mich mit dieser Frage eigentlich nicht, weil ich finde, dass sie ablenkt“, sagt Christmann. Wenn sie sich mit viel Zeit für ein Thema einsetze, könne sie „viel erreichen, auch unabhängig von der formalen Position“.

Und sie ist ja auch noch Bundestags­abgeordnete, kann also über jedes Gesetz mit abstimmen. Oder über manche Personalien. So wie heute: Die AfD hat einen Kandidaten für das Amt des Bundestags­vize­präsidenten aufgestellt, Christmann will dagegen stimmen. Also ab in ihr Elektro-SUV und in Richtung Reichstag. Aber der Verkehr im Regierungs­viertel ist zäh, und die Abstimmung läuft schon. Christmann sagt, dass sie es besser fände, wenn Abgeordnete bei solchen Wahlen digital abstimmen könnten, und diskutiert mit ihrem Fahrer darüber, ob sie es noch rechtzeitig schaffen. Schließlich entscheidet sich Christmann dazu, aus dem Auto auszusteigen und die letzten paar Hundert Meter zu Fuß zu gehen. Klappt, der AfD-Kandidat kommt nicht durch, 540 Abgeordnete stimmen gegen ihn.

Im Bundestag ergreift Christmann immer wieder mal das Wort und berichtet im Plenum über die Fortschritte der Start-up-Strategie. „Start-ups haben eine hohe Priorität für diese Bundes­regierung“, verspricht die Grünen-Politikerin dann zum Beispiel, „wir haben noch viel vor.“ Innerhalb ihrer Partei gilt sie als Realo, also als kompromiss­bereite Real­politikerin. „Ich neige nicht so sehr zu den theoretischen Grund­satz­debatten, die man in der Politik ja auch führen kann“, erklärt sie. Wer sich in der Gründerszene umhört, merkt, dass viele diese Einschätzung teilen; Christmann wird als „hands-on“ und „umtriebig“ beschrieben.

Nach der Abstimmung geht es weiter zum Westhafen, zur 25-Jahr-Feier des Exist-Programms. Auf der Bühne betont sie, wie wichtig es sei, „die Barriere zwischen öffentlicher und privater Forschung aufzubrechen“.

Etwas später erscheint Habeck, er und Christmann umarmen sich auf der Bühne. Zusammen verkünden die beiden, welche der 26 Start-up Factories im Wettbewerb eine Runde weiter­kommen. Christmann gratuliert, schüttelt Hände und verteilt Urkunden. Nachdem sie einem ausgeschiedenen Team Mut zugesprochen hat, fragen die Bewerber schließlich nach einem Selfie mit der Start-up-Beauftragten. Was Christmann an diesem Abend freut: Diese Gescheiterten versprechen ihr, trotzdem weiterzumachen. Es ist diese Einstellung, die aus dem Angestellten­land vielleicht doch noch ein Gründerland machen kann.