ZEIT für X
rotes Kondom

Von wegen gerissen

09. Juli 2024
ZEIT Redaktion

Robert Richter leitet den Kondom­hersteller Ritex und hat gerade das erfolgreichste Jahr der Firmen­geschichte vermeldet. Ist das nur Glück – oder mehr?

von Niclas Seydack

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“

Und dann steht da ein Holzpenis. Robert Richter stülpt eines der Kondome, die seine Firma jährlich zu Millionen produziert, über das Modell. Fertig! Richter, 43, ist der Chef von Ritex. Er trägt einen gut sitzenden Anzug mit Krawatte, dazu fein polierte Schuhe und eine Apple Watch. Der Holzpenis ist Teil eines Paketes, das seine Firma Schulen kostenlos für den Sexual­kunde­unterricht zur Verfügung stellt. Dazu gibt es eine Broschüre, in der steht, wie Kondome vor Schwanger­schaften und vor Infektionen schützen. Auf jeder Seite zu sehen: das Ritex-Logo.

Das ist wichtige Aufklärung, na klar. Aber solche – aus Sicht von Verbraucher­schützern – werblichen Angebote an Schulen helfen Richter natürlich auch dabei, die eigene Marke in einem umkämpften Markt bekannter zu machen. Darin ist Richter ein Profi, er überlässt wenig dem Zufall. Das merkt man, wenn er darüber spricht, dass Ritex mit seinem klinischen Design eine „konservative Marke“ sei, ein „Produkt für Menschen in langen Partnerschaften“. Oder wenn er erklärt, dass Kondome sehr „preis­unelastisch“ seien, wie er sagt. Das heißt: Daran spart keiner, selbst wenn Richter die Preise erhöht. Richter sagt: „Kondome sind kein Spaß­produkt wie eine Tafel Schokolade. Man kauft sie aus Vernunft.“

Damit ist man bei den Gründen für den Erfolg seiner Firma, deren Name sich aus dem Namen der Gründer­familie und dem Haupt­roh­stoff ihrer Produkte zusammen­setzt – Richter plus Latex ergibt Ritex. Das vergangene Jahr war für die Familien­firma das erfolgreichste seit ihrer Gründung 1948. Gut 100 Millionen Kondome verkaufte Richter 2023 und dazu so viel Gleitgel, dass man einen ganzen Reisebus damit befüllen könnte. Rund 14,5 Millionen Euro setzte Ritex um, zwanzig Prozent mehr als noch 2022. Und die Schulboxen sind, man ahnt es, laut Homepage „aufgrund der enorm großen Nachfrage“ gerade vergriffen.

Eine Grundbedingung für den Erfolg ist Sicherheit. Richters Produkt nutzt den Anwendern nur, wenn es nicht kaputt geht. Das will er nun demonstrieren: Der Unternehmer drückt etwas Gleitgel aus einer Tube, reibt damit den Durchschnitts­penis aus der Aufklärungsbox und ein Kondom in XXL ein. Er drückt und schiebt und zerrt daran, um zu zeigen, wie riskant es ist, zu große Kondome zu benutzen. „Da packt mich der Ehrgeiz“, sagt er, kneift die Augen zusammen, beißt sich auf die Lippen und drückt und schiebt und zerrt, so fest er kann. Dann passiert endlich, was bei sachgemäßer Anwendung nicht passieren darf: ratsch, Richter hält sich das Kondom vor die Nase. Ein Riss!

Ritex ist nicht das einzige Unternehmen, das Kondome in Deutschland verkauft. Doch anders als die Marktführer Billy Boy und Durex oder die hippe Konkurrenz von Einhorn aus Berlin, ist Ritex der einzige Hersteller, der in Deutschland produziert. Genauer gesagt: in einem Gewerbe­gebiet am Rand von Bielefeld. Dort hängt im Foyer ein Gemälde, das die drei Generationen von Geschäfts­führern zeigt. Großvater, Vater und Robert Richter, der Sohn. Man kann die Geschichte des Unternehmens so erzählen, wie es dieses Bild andeutet: eine Familie von Glücks­kindern.

Der Firmengründer und Großvater Hans Richter stattete die 68er-Generation bei ihrer sexuellen Revolution aus. Hans-Roland Richter schützte die nächste Generation in den später Achtziger­jahren vor einer Infektion durch HIV. Und Robert Richter profitiert nun davon, dass immer weniger Frauen mit der Anti­baby­pille verhüten möchten, weil die zu spürbar in ihren Hormon­haushalt eingreift. Seit letztem Jahr hat laut der Bundes­zentrale für gesundheitliche Aufklärung das Kondom die Pille als beliebteste Verhütungsmethode abgelöst.

Aber es wäre falsch, den Erfolg von Ritex nur mit einer Reihe geschenkter Zufälle und gutem Marketing zu erklären. Begleitet man Richter einen Tag lang, merkt man: Er ist ein Manager, der genau kalkuliert.

Richter beginnt diesen Arbeitstag wie jeden damit, die wichtigsten Kennzahlen auf seinem Computer zu prüfen – hat die Produktion die angepeilten 350.000 Kondome pro Tag geschafft? Ist bei den Konto­ständen und im Auftrags­bestand alles in Ordnung? Es sieht gut aus.

Beim dritten Kaffee des Tages klingelt das Telefon. Michael Kesselring ist dran, der ehemalige Chef von CPR, bis vor zwei Jahren der größte Kondom­hersteller Europas. Kesselring will mal quatschen. Die deutsche Kondom­branche ist klein, da kennt man sich. Auch deshalb fühlte Richter mit Kesselring, als der im April 2022 Insolvenz anmelden musste – auch wenn damit ein Wettbewerber verschwand.

CPR, so kann man es wohl sagen, war das erste deutsche Opfer der Sanktionen gegen Russland infolge des Angriffs­kriegs gegen die Ukraine. Anders als Richter, der einen Großteil seiner Kondome in Deutschland verkauft, hatte sich CPR auf den Export spezialisiert. Allein in Russland machte die Firma ein Viertel ihres Umsatzes – das war auf einmal tabu. Angeschlagen war das Unternehmen aber auch vorher schon, durch die Corona­pandemie. Als weltweit die Liefer­ketten zusammen­brachen, konnte CPR nicht ausreichend Natur­kautschuk für die Produktion bekommen. Richter hatte schon früh­zeitig genug davon eingelagert.

CPR hatte zudem Großbordelle beliefert, die während der Lockdowns schließen mussten. Das Rot­licht­milieu sei zwar rein finanziell „ein interessantes Geschäft“, sagt Richter, es gehe um etwa 25 Prozent der gesamten Nach­frage. Aber ihn habe abgeschreckt, dass einem Kollegen mal eine Rocker­bande aufgelauert habe, nachdem der örtliche Bordelle beliefern wollte. „Wir richten uns an Paare in lang­fristigen Beziehungen“, sagt Richter. Und die hatten, nun ja, „während der Lockdowns viel Zeit, unsere Produkte zu benutzen“.

Richter klickt wieder durch seine Mails. Die meisten betreffen die jährliche Prüfung des Unternehmens als Hersteller von Medizin­produkten. Kondome zu produzieren, wird in Deutschland nämlich so streng überwacht wie Beatmungs­geräte und Defibrillatoren. Das sei richtig, sagt Richter: „Das Versagen unserer Produkte könnte das Leben des Anwenders gefährden.“ Wenn etwa ein Kondom reißt und das zu einer Infektion mit Hepatitis oder HIV führt. „Wenn wir nicht bestehen, können wir den Laden zumachen.“ Bisher, sagt Richter, sei es immer gut gegangen. Auch weil seine Leute im Labor so gewissenhaft arbeiteten.

In der „Berstkammer“ etwa, wo eine Maschine unter Laborbedingungen tut, was pubertäre Jungs gern auf dem Schulhof machen: Kondome aufblasen. Mindestens 18 Liter Luft müssen sie aushalten, ohne zu platzen. Richter steht vor der schalldichten Glastür und amüsiert sich über Männer, die auf Kondome verzichten und behaupten, diese würden ihnen nicht passen. Schon bei der gesetzlich vorgeschriebenen Füllmenge von 18 Litern Luft sind Kondome der Standard­größe so geräumig, dass ein Bein darin Platz finden würde. Richters Kondome platzen in der Regel erst bei der doppelten Menge. Da sind sie groß wie eine Robbe.

Zeit fürs Mittagessen – Richter lässt sich vom Italiener etwas an den Firmensitz liefern. Dann setzt er sich in den Garten, an einen Teich, in dem Frösche quaken. Richter grüßt die Mitarbeiter, die auch gerade Pause machen, jeden davon mit Namen, dann steckt er sich die Krawatte in die Tasche für das Einstecktuch. Nicht, dass die noch in der Aluschale mit der rötlichen Sauce vor ihm landet.

Bald fällt Richter ein älterer Mann am Eingang auf, der offenbar Probleme mit seiner Zugangskarte hat. Es ist Hans-Roland Richter, sein Vater. Zwar ist es gut fünfzehn Jahre her, dass der die Firma an seinen Sohn übergeben hat, aber noch immer kommt er jeden Tag in der Fabrik vorbei. „Ich muss ja aufpassen“, sagt der Senior, ergänzt aber schnell: „Ist nur Spaß. Er macht es gut.“

Robert Richter sagt, er stehe seinem Vater nahe, menschlich wie unternehmerisch. Der Firmen­gründer und Großvater habe noch anders gedacht: „Sein Motto war: Gib nie mehr aus, als du hast.“ Der Vater habe dann, genau wie er, BWL studiert und verstanden, dass man auch mal Geld ausgeben muss, um mehr davon zu verdienen.

Vor allem aber hat der Vater der Firma ein seriöses Antlitz verliehen. Er nahm sich die Pralinen von After Eight und die Parfüms als Jil Sander zum Vorbild. Kein Porno-Design, sondern ordentlich, klassisch. Bis heute sehen die Verpackungen klinisch aus, langweilig. „Was ich mache, ist die Fortschreibung dessen, was mein Vater gemacht hat“, sagt Robert Richter.

Was für ihn aber auch dazugehört: Er schlüpft immer öfter in die Rolle des lustigen Kondom­fabrikanten. Für die Follower auf TikTok bemalt er zu Halloween aufgeblasene Kondome mit Grusel­fratzen oder schmückt an Weihnachten einen Baum mit bunten Kondomen. Das kommt an: Manche Clips wurden Hunderttausende Male abgerufen.

An diesem Tag möchte Richter noch nach den Bienen sehen, die er auf dem Firmen­gelände angesiedelt hat, auf einer Blumenwiese mit Totholz und Büschen. „Fummeln für die Hummeln“, zitiert Richter einen aktuellen Werbeslogan. Er betont außerdem gern, dass Ritex ausschließlich mit fair gehandeltem Latex und mit Ökostrom produziert und das Milchprotein Kasein für die Reiß­festigkeit durch eine pflanzliche Alternative ersetzt hat. Und er regt sich über den Konkurrenten auf, der stolz verkündet habe, seine CO2-Emissionen in Deutschland zu kompensieren, aber nur im Ausland produziere. Da ist er wieder, der Markenprofi.

Am Nachmittag sitzt Robert Richter wieder an seinem Computer. Er checkt noch mal seine Mails, die Jahresgespräche mit den wichtigsten Kunden sind genauso geschafft wie die mit seinen 63 Mitarbeitern. Ah, doch noch was zu tun: Er segnet eine Zahlung für Flugtickets nach Rumänien ab. Dort werden seine Kondome nun in den Filialen einer deutschen Drogerie­kette verkauft. Jetzt möchte er mal nach Bukarest fliegen und sich das vor Ort anschauen.

Und dann kommt da eben noch diese Mail einer Schule rein, wegen der er unter größter Kraftanstrengung eines seiner XXL-Kondome zum Reißen bringt. Jetzt wiederholt er das Experiment mit einem Kondom, das perfekt passt. Wieder reißt und zerrt und drückt er daran herum. Keine Chance. Robert Richter wischt sich das Gleitgel von den Händen und lächelt zufrieden.