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Was wuchert denn da?

09. Juli 2024
ZEIT Redaktion

Eine neue EU-Richtlinie verpflichtet Unternehmen dazu, Nachhaltigkeitsberichte vorzulegen. Der Aufwand für Firmen ist groß. Aber die Mühe kann sich lohnen

von Katja Scherer

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.

Es sieht aus wie ein Akt blinder Zerstörung. Auf einem provisorisch aufgebauten Tisch aus Paletten liegt ein Trümmerhaufen – die Überreste eines Kühlschranks, der eigentlich zum Verkauf gedacht war. Mitarbeiter des Elektronikherstellers Severin haben ihn in seine Einzelteile zerlegt: Sie haben die Kabel herausgeschnitten und die Schrauben entfernt. Die weißen Kunststoffplatten der Außenhülle haben sie offenbar mit viel Kraft vom Dämmschaum abgehebelt. Sie liegen nun zerbrochen und nutzlos auf einem Stapel. Daneben ragen unförmig verrenkt dünne Blechrohre in die Luft: Sie leiteten früher das Kältemittel durch den Kühlschrank.

Gerhard Sturm schaut sich das Ausmaß der Zerstörung auf einem Foto an und freut sich darüber: „Wir haben in den vergangenen Monaten sehr viel gelernt darüber, wie viel von welchen Materialien in unseren Produkten steckt“, sagt der Chef von Severin. Seine Mitarbeiter haben nämlich nicht nur einen Kühlschrank auf diese Weise zerlegt, sondern auch andere Severin-Geräte wie Bügeleisen und Milchaufschäumer. Und das nicht aus Frust, sondern weil sie eine Mission haben: Das Unternehmen will im Herbst seinen ersten Nachhaltigkeitsbericht vorlegen und wollte dafür wissen, wie viel CO2 allein schon bei der Herstellung seiner Materialien entsteht. „Wir wollen bei diesem Thema früh dran sein“, sagt Sturm.

Manche Unternehmen legen seit Jahren freiwillig einen Nachhaltigkeitsbericht vor. Ein Pionier ist Severin also nicht. Aber das Unternehmen will schneller sein als die Masse der Firmen, die jetzt nachzieht. Seit Anfang 2023 ist nämlich eine neue EU-Richtlinie in Kraft, die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD). Die sieht vor, dass künftig viel mehr Firmen als bisher verpflichtet sind, einen Nachhaltigkeitsbericht abzugeben. Pflicht war das bisher nur für größere kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten sowie größere Versicherungen und Banken.

Diese Vorgabe hat Brüssel nun deutlich ausgeweitet – sowohl den Umfang der Berichterstattung als auch die Zahl der betroffenen Firmen. Alle, die bisher schon berichten mussten, müssen bereits 2025 über das Geschäftsjahr 2024 nach den neuen Standards berichten. Ein Jahr später gilt diese Pflicht für jene, die mindestens zwei von drei Kriterien erfüllen: Sie haben eine Bilanzsumme von mehr als 25 Millionen Euro, Nettoumsatzerlöse von mehr als 50 Millionen Euro oder mehr als 250 Beschäftigte. Ab dann ist also auch Severin betroffen. 2026 fallen auch kapitalmarktorientierte kleine und mittlere Firmen ab zehn Mit-arbeitenden unter die neue Richtlinie, mit Ausnahme von Kleinstunternehmen.

Über 1.000 Datenpunkte haben die EU-Experten aufgelistet, zu denen Firmen potenziell Bericht erstatten müssen. Die neue Richtlinie ist also ein bürokratisches Monstrum: unheimlich kompliziert, schwer verständlich und mit enorm viel zeitlichem Aufwand verbunden. In einer Umfrage von ZEIT für Unternehmer im April erklärten 50 Prozent der Leserinnen und Leser, für sie seien die neuen Vorschriften mehr ein Hemmnis als eine Chance. 40 Prozent sahen es allerdings genau umgekehrt – und eher so wie Gerhard Sturm von Severin. Der 51-Jährige sagt: „Für uns ist ein europäischer Berichtsstandard wichtig, weil wir dadurch zeigen können, wie gut wir im Branchenvergleich dastehen.“

Sturm hat beobachtet, dass es beim Verkauf von Elektrogeräten viel Greenwashing gebe – also viele Anbieter, die mit dubiosen Siegeln und windigen Werbesprüchen behaupten würden, nachhaltig zu produzieren, das aber nicht täten. Bei Severin sei das anders: „Wir haben schon immer viel gemacht, aber bisher zu wenig öffentlich darüber gesprochen.“ Schon 1992 habe Severin eine Kaffeemaschine auf den Markt gebracht, die komplett reparierbar war. Die Firma hat einen hauseigenen Reparaturservice. Allein im vergangenen Jahr hat es eigenen Angaben zufolge Waren im Wert von mehr als 2,5 Millionen Euro repariert. Severin holt derzeit außerdem Teile seiner Produktion zurück nach Europa und stellt seine Verpackungen auf recyclingfähige Materialien um.

Die Geschäftsführung will ihren Kunden und Handelspartnern mit dem frühzeitig vorgelegten Bericht zeigen, dass sie aus Überzeugung für Nachhaltigkeit eintritt und nicht nur gesetzliche Standards erfüllt. Auch um sich deutlicher von nicht nachhaltiger Billigkonkurrenz abzusetzen und Kunden Kaufargumente zu liefern. Der Jahresabschluss der Severin-Gruppe weist für das Geschäftsjahr 2022 einen Verlust von mehr als 17 Millionen Euro aus, der Umsatz brach gegenüber dem Vorjahr um fast ein Drittel ein. Grund dafür seien die Inflation und die Nachwirkungen der Coronapandemie, sagt Sturm. Haushaltsgeräte waren in der Pandemie begehrt, danach sank die Nachfrage. Severin wolle nun mit hohen Standards in Qualität, Nachhaltigkeit und Kundenservice punkten.

Die Motivation bei dem über 125 Jahre alten Traditionsunternehmen aus dem sauerländischen Sundern scheint groß. Nur: Wie schafft man es als mittelständisches Unternehmen mit beschränkten Ressourcen, die umfassenden Brüsseler Vorgaben zu verstehen und vor allem korrekt umzusetzen? Severin hat sich dafür Hilfe von einem Nachhaltigkeitsinstitut geholt. „Sonst wäre das viel zu aufwendig gewesen“, sagt Sturm.

Wir haben schwarz auf weiß, wo wir schon gut dastehen – und wo noch Handlungsbedarf ist

Thomas Perkmann, Chef der Westfalen AG in Münster

Für den Bericht müssen Unternehmen nicht nur ihre Umweltauswirkungen beleuchten, sondern auch die Unternehmensführung und Soziales, untergliedert in verschiedene Unterpunkte wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und Arbeitsbedingungen. Sie müssen zunächst in einer Wesentlichkeitsanalyse prüfen, auf welche der Nachhaltigkeitsbereiche sie Einfluss haben. Zu diesen müssen sie dann Bericht erstatten.

Wie aufwendig allein schon diese Analyse ist, zeigt die Erfahrung der Münsteraner Westfalen AG. Das europaweit tätige Familienunternehmen betreibt Tankstellen und produziert und vertreibt Gase. 2022 erwirtschaftete die Gruppe 2,3 Milliarden Euro Umsatz. Und genau wie Severin muss auch Westfalen erstmals über das Geschäftsjahr 2025 einen Bericht vorlegen. Verantwortlich für die Nachhaltigkeitsstrategie ist der Vorstandsvorsitzende Thomas Perkmann höchstpersönlich, entwickelt wird sie von einem Team mit zwölf Mitgliedern aus verschiedenen Abteilungen, geleitet von der Nachhaltigkeitsmanagerin Christin Wessels. Für die Wesentlichkeitsanalyse habe ihr Team Interviews mit Mitarbeitenden, Führungskräften und dem Betriebsrat geführt, aber auch externe Stakeholder wie Kunden, Lieferanten, Wettbewerber, Behörden, Gewerkschaften und Verbände befragt. „Dieser Prozess ist natürlich sehr aufwendig“, sagt die Nachhaltigkeitsmanagerin. Über viele Wochen hinweg haben sie und ihr Team immer wieder daran gearbeitet. „Aber es war die Mühe wert.“

Wirklich? Thomas Perkmann, der Vorstandsvorsitzende der Westfalen AG, sieht die Berichtspflicht zwiespältig. „Auf der einen Seite ist es eine weitere bürokratische Hürde für die Unternehmen, das muss man so klar benennen“, sagt der 50-Jährige.

Außerdem: Wenn seine Leute so intensiv an einem Nachhaltigkeitsbericht arbeiten, fehlen sie anderswo – in der Produktion, im Marketing. Sein Unternehmen habe aber „aus der Not letztendlich eine Tugend“ gemacht, sagt Perkmann. „So versprechen wir uns vom CSRD-Reporting nun doch durchaus auch strategische Vorteile.“ Die Westfalen-Gruppe verändere derzeit ihr Geschäftsmodell. Sie wolle schrittweise heraus aus den fossilen Energien und hin zu nachhaltigeren Produkten und Dienstleistungen: Zum Beispiel will das Unternehmen künftig grünen Wasserstoff produzieren und im Bereich der Energieversorgung mehr auf Wärmepumpen setzen. „Wir haben schwarz auf weiß, wo wir schon gut dastehen – und wo noch Handlungsbedarf ist“, sagt Perkmann.

Der Elektronikhersteller Severin hat bei seiner Wesentlichkeitsanalyse unter anderem die Mitarbeiter seiner Zuliefer- und Produktionsbetriebe in China befragt. Zum Beispiel wollte er wissen, wie wohl sich Mitarbeitende am Arbeitsplatz fühlen und wie wichtig ihnen Nachhaltigkeit ist. Ziel sei gewesen, zu verstehen, wie weit chinesische Partner bei diesen Themen seien, sagt Sascha Steinberg. Er leitet die Bereiche Produkt- und Marketingstrategie bei Severin und verantwortet den Nachhaltigkeitsbericht mit. Sein Fazit: Die meisten Zulieferer stünden offenbar eher noch am Anfang.

Steinberg will die Erkenntnisse nutzen, um Severins Lieferantenstrategie zu überarbeiten. Severin reduziere schon länger die Zahl seiner Lieferanten in China, sagt er. Das Unternehmen wolle dadurch die Produktionsbedingungen in den Partnerbetrieben besser überblicken können. Und: Je größer die Bestellmengen bei den einzelnen Zulieferern seien, desto besser sei dort auch die Verhandlungsposition, zum Beispiel um grüne Innovationen einzufordern. Severin habe vor fünf Jahren noch gut 60 Lieferanten in China gehabt. Heute seien noch etwa die Hälfte übrig. „Und es könnten weitere wegfallen, wenn sie unseren Weg zur Nachhaltigkeit nicht mitgehen.“

Steinberg hat außerdem den CO2-Ausstoß in der Lieferkette analysiert. Daher gab er den Auftrag, den Kühlschrank und die anderen Geräte zu zerlegen. Die Mitarbeiter wogen die enthaltenen Materialien ab und berechneten anhand deren durchschnittlicher CO2-Bilanz den Fußabdruck der Geräte. Severin habe nun eine Messlatte, um seine Produkte klimafreundlicher zu machen. „Uns ist durch das Zerlegen klar geworden, wie viele knappe Rohstoffe in unseren Produkten stecken. Auch das werden wir stärker in den Blick nehmen“, sagt Steinberg. Severin will den Bericht nutzen, um künftig jährlich zu dokumentieren, welche Fortschritte die Firma beim Thema Nachhaltigkeit macht.

Auch kleinere Firmen dürften früher oder später indirekt von der Berichtspflicht eingeholt werden, sagt Marc-Oliver Pahl, Geschäftsführer beim Rat für Nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung zu Fragen der Nachhaltigkeit berät. Etwa wenn Banken verstärkt Kredite an nachhaltige Firmen vergeben oder Großunternehmen von ihren Zulieferern Nachhaltigkeitsdaten für ihre eigenen Berichte abfragen.

Wie sich kleine Unternehmen vorbereiten können, zeigt das Beispiel Lupriflex, ein Sicherheitsschuhhersteller aus Haltern am See. Das Unternehmen ist ein zehnköpfiger Betrieb und produziert bei externen Partnern in China und Europa. Schon jetzt bekomme es von seinen Kunden wie Großhändlern immer häufiger Anfragen, welche Standards es in Sachen Nachhaltigkeit erfülle, erzählt der Firmeninhaber und Chef Markus Nelke. Für das kleine Team sind solche Anfragen eine Herausforderung, denn oft verlangen die Geschäftspartner ganz unterschiedliche Standards: Der eine verlangt diese Zertifizierung, der nächste jene. Eine europaweit einheitliche Definition von Nachhaltigkeit findet Nelke daher gut.

Weil ein umfassender Nachhaltigkeitsbericht so aufwendig ist, hat sich Lupriflex zunächst auf seine Klimawirkung fokussiert. Es hat, genau wie Severin, Materialanalysen durchgeführt und dafür seine Sicherheitsschuhe zerlegt. Das Team weiß nun, dass die meisten Emissionen in der Schuhproduktion durch die Herstellung von Obermaterial, Sohlen und Zehenschutzkappen entstehen – dass es also vor allem dort nach klimafreundlicheren Materialien und Herstellungsverfahren suchen muss. Seit 2018 hat das Unternehmen seine Emissionen bereits um mehr als 80 Prozent reduziert. In einem Fortschrittsbericht listet Lupriflex die CO2-Emissionen eines jeden Schuhs akribisch auf: Ein Paar Schnittschutzstiefel verursacht in Größe 42 rund 50 Kilogramm Treibhausgase, der Einschnaller nur 24 Kilo. Der nächste Schritt sei, einen umfassenden Nachhaltigkeitsbericht auszuarbeiten, sagt Kilian Hornig, der Nachhaltigkeitsmanager.

Helfen könnte kleinen Unternehmen der Deutsche Nachhaltigkeitskodex. Das ist ein Standard, den der Rat für Nachhaltige Entwicklung erarbeitet hat und den schon jetzt über 1.000 Firmen für die Nachhaltigkeitsberichterstattung nutzen. Er soll zeitnah an die neuen Vorgaben der EU angepasst werden und in einer vereinfachten Basisversion für kleine Unternehmen gut nutzbar sein. Hornig findet das gut, wünscht sich aber, dass der Kodex auch international oder zumindest europaweit anerkannt ist: „Sonst haben wir weiterhin das Problem, dass alle unterschiedliche Standards bei uns anfragen.“