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Produkte aus Beton

Wie ein jonglierender Oktopus

Ein Tag mit Zarah Bruhn

11. Dezember 2024
ZEIT Redaktion

Zarah Bruhn ist Gründerin – und eine jener Beauftragten der Bundesregierung, die CDU-Chef Friedrich Merz am liebsten abschaffen würde. Ihre Mission: Sie soll soziales Unternehmertum profitabel machen

von Carolin Jackermeier

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 4/2024″. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Zarah Bruhn balanciert neben einer Straßenkreuzung in Bielefeld einbeinig auf einem High Heel, stülpt sich den rechten Schuh über und stopft ihre weißen Sneaker in die Handtasche. Sie zupft noch kurz ihre Jeans zurecht und schlüpft mit dem Blazer in eine andere Rolle: Eben war sie noch die Beauftragte für Soziale Innovation, angesiedelt beim Bundesministerium für Bildung und Forschung. Nun wird sie wieder zur Geschäftsführerin ihres Unternehmens Socialbee.

Sie ist auf dem Weg zu einem Empfang in Bielefeld, wo tags darauf »Hinterland of Things« stattfindet – eine Konferenz, die Mittelständler, Gründer und Geldgeber zusammenbringt. Finanziell betrachtet, ist der Abend für sie uninteressant. »Die meisten hier investieren in Profit«, sagt Zarah Bruhn. Den würde sie auch gerne erwirtschaften, doch ihre Einnahmen reichen nur so eben für den laufenden Betrieb. Und das, obwohl ihr Unternehmen zur Lösung eines der drängendsten Probleme der deutschen Wirtschaft beiträgt: des Fachkräftemangels.

Bei Wolfsbarsch und Weißwein erzählt Bruhn ihre Geschichte. Die Idee zu Socialbee hatte sie 2015. Sie versorgte ehrenamtlich Geflüchtete am Münchner Hauptbahnhof. »Ich war genervt, dass alles so ineffizient war, und dachte, das muss besser gehen«, sagt die 33-Jährige. Es müsse doch möglich sein, den Menschen eine langfristige Perspektive zu bieten, effektiv etwas gegen den Fachkräftemangel zu tun und damit auch als Vermittler Geld zu verdienen.

Sie lieh sich 20.000 Euro von ihren Eltern und gründete 2016 noch als Studentin gemeinsam mit ihrem Kommilitonen Maximilian Felsner ihr Socialbee, eine gemeinnützige Zeitarbeitsfirma für Geflüchtete. Die Idee: Socialbee stellt die Geflüchteten ein und kümmert sich um den Papierkram und die sozialen Belange. Die Firma verleiht die Arbeitskräfte an Unternehmen, allerdings länger als üblich, für mindestens zwölf Monate. Die Firmen zahlen neben dem Gehalt für die neuen Mitarbeiter eine Vermittlungsgebühr an Socialbee. Läuft alles gut, übernehmen sie die Mitarbeiter fest. Die Gründerin las sich ins Asylrecht ein, traf sich mit Geschäftsführerinnen und Geschäftsführern, entwickelte Qualifizierungsprogramme für die Geflüchteten und Diversitätsseminare für Unternehmen.

Bis heute hat Socialbee rund 1.300 Geflüchtete an Unternehmen vermittelt, vor allem in der Logistik, Gastronomie oder Pflege. Die Übernahmequote liegt laut Firmenangaben bei fast 90 Prozent. Rund 50 Menschen arbeiten für Socialbee, neben der Zentrale in München gibt es noch zwei kleine Büros in Stuttgart und Berlin. Bruhn hat ambitionierte Ziele: Sie möchte so viele Menschen integrieren, wie der größte Dax-Konzern Angestellte in Deutschland hat – bei VW sind das aktuell rund 170.000 Menschen. »Einzelschicksale motivieren mich eher sekundär«, sagt Bruhn. »Klar sind sie schön, aber ich will das System verändern.«

Socialbee ist ein als gemeinnützige GmbH organisiertes Sozialunternehmen. Obwohl sich die Programme selbst finanzieren, ist das Unternehmen auf Spenden von Stiftungen, Unternehmern und Privatpersonen angewiesen, um zu wachsen. Soziales Unternehmertum erlebt Bruhn als Selbstausbeutung. Über Jahre musste sie das Geld für ihre Miete zusammenkratzen und wohnte als erfolgreiche Geschäftsführerin in WGs, um etwas für ihre Rente zurücklegen zu können. Sich darüber zu beschweren, stoße nicht immer auf Verständnis, sagt sie, man mache das doch schließlich aus Leidenschaft und nicht fürs Geld!

Da wird Bruhn etwas wütend. Firmen wie ihre schaffen schließlich Mehrwert für die Gesellschaft. »Wir müssen soziale Start-ups nach dem Leistungsprinzip aufbauen und nicht als süße Nischenideen abtun, für die man mal etwas spendet«, sagt Bruhn. »Sozialunternehmen haben ein Milliardenpotenzial.« Allein Socialbee habe dem Staat mit den geschaffenen Arbeitsplätzen 60 Millionen Euro staatliche Leistungen eingespart, rechnet sie vor.

Eine klare Definition von Sozialunternehmertum gibt es nicht. Aber es geht darum, Lösungen für soziale oder ökologische Missstände zu entwickeln. Der Erfolg wird nicht allein an Profiten, sondern am gesellschaftlichen Nutzen bemessen. Sozialunternehmen können sowohl Non-Profit-Organisationen als auch klassische Start-ups sein.

Mit ihrer Forderung, dass Sozialunternehmer auch ökonomisch Gewinne erwirtschaften sollten, beschreibt sich Bruhn als »Freak der Szene«. Eigentlich wollte sie Investmentbankerin werden. Sie studierte BWL in Mannheim und München und arbeitete neben dem Studium bei Wagniskapitalgebern und Private-Equity-Gesellschaften. Dann kam Socialbee, die Masterarbeit schrieb sie über ihr eigenes Unternehmen. Mit der Firma hat sie auch ihre Mission gefunden: Soziales Unternehmertum soll attraktiver werden als gewinnorientiertes Wirtschaften. Oder wie sie es im Interview mit der Vogue formuliert: Bruhn will »Social Entrepreneurship sexy machen«.

Zu der Hinterland-Konferenz kommt sie gerade von einer Tagung des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen in Düsseldorf. Sie hat dort eine Rede zur politischen Lage gehalten. Zahlreiche Menschen mit Migrationshintergrund hätten ihr geschrieben: Sie haben Angst vor dem Rechtsruck in Europa, vor Ausgrenzung, davor, nicht mehr hier arbeiten und leben zu dürfen. Auf der Reise durchs Ruhrgebiet hat Bruhn bei ihrer Oma übernachtet. Als sie nachmittags in Bielefeld ankommt, wo ZEIT für Unternehmer sie 24 Stunden lang begleitet, muss sie sich kurz bei ihrer Assistentin erkundigen: »Wo kommen wir noch mal her?«

Bruhn bezeichnet sich selbst als jonglierenden Oktopus, der nach einem neuen Projekt greift, sobald ein Arm frei wird. Um ihre Funktionen als Unternehmerin und politische Vertreterin zu trennen, ist ihr Kalender hauptsächlich in zwei Farben unterteilt: Grün für Socialbee, Blau für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Das Rot für die privaten Termine ploppt nur selten auf. Zu Hause in München ist Bruhn sowieso nur vier, fünf Nächte im Monat. Dann geht sie gern in den Bergen klettern. Ansonsten versucht sie, regelmäßig zu joggen und in den Hotels oder ihrem WG-Zimmer in Berlin Yoga zu machen. »Ich habe im Alltag so ein hohes Stresslevel, da muss ich schauen, dass ich wieder runterkomme«, sagt Bruhn. »Routinen funktionieren in meinem Leben nicht.« Eine gibt es aber doch: Einen ganzen Monat im Jahr reist sie zum Surfen nach Indonesien und arbeitet remote von dort aus.

Bruhn ist die erste Beauftragte für Soziale Innovation der Bundesregierung. Vor drei Jahren klingelte ihr Telefon. Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger wollte wissen, ob sie sich eine solche Funktion vorstellen könne. »Wenn dir so ein Job in den Schoß gelegt wird, musst du die Chance nutzen und was draus machen«, sagt Bruhn.

Sie weiß, dass sie auch mit Skepsis beäugt wird. Im Oktober schimpfte CDU-Chef Friedrich Merz unter dem Applaus des CSU-Parteitags auf den »Wasserkopf, den wir in den Berliner Amtsstuben sehen, einschließlich dieser ganzen Beauftragten, die da rumlaufen und im Grunde genommen mehr Probleme schaffen, als sie jemals in der Lage sind zu lösen«. Von den insgesamt 34 Beauftragten der Bundesregierung brauche es nur einen, den Wehrbeauftragten, findet der Kanzlerkandidat der Union.

Bruhn will diese Sicht widerlegen. Im vergangenen Jahr koordinierte sie die erste »Nationale Strategie für Soziale Innovation und Gemeinwohlorientierte Unternehmen«, die soziales Unternehmertum stärken soll. Mehr als zwei Drittel der 70 geplanten Maßnahmen seien bereits umgesetzt. Zum Beispiel sei der Zugang zu öffentlichen Förderprogrammen verbessert worden. Bruhns aktuelles Projekt: ein eigener Investmentfonds zur Finanzierung sozialer Innovationen.

Doch da ist eben auch ihr Unternehmen. Finanzen und interne Angelegenheiten bei Socialbee regelt ihr Co-Geschäftsführer Robert Kratzer. Bruhn vertritt die Firma nach außen. »Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal die Frontfrau des sozialen Unternehmertums in Deutschland bin«, sagt sie. Die beiden Rollen zu trennen, sei häufig schwer. Die Outfit-Wechsel sollen dabei helfen.

Am Tag des Empfangs etwa ist sie erst mal in ihren weißen Sneakern unterwegs – und als die Beauftragte für Soziale Innovation. »Hi, ich bin Zarah, und bevor ich euch zutexte, interessiert mich euer Hintergrund«, sagt sie, als sie in Bielefeld im Vorprogramm der Konferenz vor junge Gründerinnen und Gründer tritt und sich deren Ideen anhört. Ihr Intro hält sie aus dem Stand.

Am nächsten Morgen strahlt sie in die Selfie-Kamera ihres Smartphones, während sie in gelben Pumps, Jeans, weißem Top und Blazer auf die Messehalle in Bielefeld zusteuert. Die heutige Funktion: Unternehmerin. Sie nimmt noch kurz eine Insta-Story für ihre Follower auf. Scheinwerfer tauchen die Halle in lila Licht, die Musik schallt bis ins Foyer. »So langsam habe ich richtig Bock!«, schreit sie über den Bass hinweg.

Sie sitzt gleich auf dem ersten Panel, Thema ist Innovation durch Diversität. Direkt im Anschluss steht ein Fernsehinterview an, für das sie sich nachts im Hotel noch fünf wichtige Sätze aufgeschrieben hat. Und die Veranstalter wollen ein kurzes Video-Statement drehen. »Heute Vormittag bin ich die Marketingmaschine«, sagt sie. Eigentlich muss sie im Laufe des Tages noch ein Arbeitspapier für das Bundesministerium zu Ende schreiben – das muss aber warten.

Auf dem Panel: Gründet mit Impact, zeigt Haltung, nutzt eure Chance! Im Video-Statement: »Who if not you, just get started!« Beim Fernsehinterview: Die fünf Sätze hat sie vergessen, egal, läuft trotzdem gut. Kurz vor der Live-Schalte schickt sie per WhatsApp einen Pitch für einen Podcast ab. Eigentlich hatte sie dafür vier Wochen Zeit, heute ist die Deadline. »Ich brauche den Druck, so fokussiere ich mich jeden Tag nur auf das Allerwichtigste, zum Rest komme ich gar nicht.« Den Runden Tisch mit der Chefin des Start-up-Verbands Verena Pausder muss sie streichen, gleich steht »Start-up-Karaoke« auf dem Programm. Sie bekommt auf der Bühne die Präsentation eines Start-ups auf eine Leinwand geworfen und muss die Idee live pitchen, ohne zu wissen, um welches Produkt es geht. »Hallo, Frau Bruhn, bist du entspannt?«, begrüßt sie Michael Fritz, der den Getränkehersteller Viva con Agua mitgegründet hat. »Klar bin ich entspannt«, antwortet sie. Die meisten Auftritte improvisiert sie einfach. Sie erntet viele Lacher vom Publikum, auch die Jury gibt volle Punktzahl: »Du hast Spaß auf der Bühne, das ist das Wichtigste!«

Bruhn weiß, dass sie Leute begeistern kann. Manchmal setzt sie das auch unter Druck. »Ich frage mich oft, wann diese Stärke zur Pflicht wird«, sagt sie. Sie sieht sich als Unternehmerin, setzt ihre Pläne gerne schnell in die Praxis um. »Selbstwirksamkeit und Freiheit sind das, was mich am meisten antreibt.« Doch sie kann sich auch vorstellen, eines Tages ganz in die Politik zu gehen. »Nicht weil ich Lust darauf habe, sondern weil es viel mehr Menschen machen müssen.«

Jetzt noch schnell einen Podcast aufnehmen, dann muss sie den Zug um 16.23 Uhr erwischen. Bahnfahrten sind für Bruhn Schreibtischarbeitszeit. Die braucht sie jetzt – das Arbeitspapier fürs Ministerium muss ja noch fertig werden.