
„Ausverkauft bis sonst wohin“
ZEIT RedaktionDie Solarbranche war in Ostdeutschland schon mal stark, dann gab es einen Crash. Nun wächst sie wieder – auch dank des Unternehmers Gunter Erfurt, der die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen will.
Redaktioneller Beitrag aus „ZEIT für Unternehmer, Ausgabe 03/2022“. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.
Ein verwaistes Firmengebäude, ein von Unkraut zugewucherter Parkplatz, leere Straßen: Gunter Erfurt hat sich einen Ort des Zusammenbruchs ausgesucht, um etwas Neues aufzubauen. Einen Ort, der für das Scheitern steht und jetzt, angesichts der großen Energiekrise im Land, doch wieder für einen Neuanfang: die Sonnenallee in Bitterfeld-Thalheim, einst das Zentrum der deutschen Solarindustrie und des „Solar Valley“, wie man die Gegend taufte, als alles wuchs und gedieh. Damals, vor etwa 15 Jahren, reihte sich im Industriegebiet eine Firma an die nächste; Bild sprach vom „Wunder im Sonnen-Tal“ und von einem „Paradies der Arbeitsplätze“. „Alles wuselte, überall waren Menschen, an der Eingangspforte gab es lange Schlangen und Sicherheitskontrollen, das war fast so stark abgesichert wie das Bundeskanzleramt“, erinnert sich Gunter Erfurt. Und wenn es nach dem Unternehmer geht, dann soll es im Solar Valley wieder so viel Leben geben wie früher.
Gunter Erfurt, 49 Jahre, Physiker und Chef des Fotovoltaik-Unternehmens Meyer Burger, redet ebenso leidenschaftlich wie schnörkellos von erneuerbaren Energien. In der Solarbranche hat er viel erlebt. Den Aufschwung, den es schon mal gab – in Spitzenzeiten haben im Solar Valley 3500 Menschen gearbeitet. Und den Crash, der folgte, weil Deutschland seine Subventionen für die junge Industrie zurückfuhr und Solarzellen aus China günstiger zu haben waren. Erfurt war zwölf Jahre bei SolarWorld, zuletzt als Forschungschef. SolarWorld war eine der Leuchtturmfirmen der Fotovoltaik, angesiedelt im sächsischen Freiberg. Kurz nachdem er ging, rutschte SolarWorld wie so viele Konkurrenten in die Pleite. „Die Sonne weint“, schrieb die Mitteldeutsche Zeitung 2012, die Handelszeitung nannte die Aktien der Unternehmen „Papiere der Finsternis“.
Zehn Jahre später ist fast alles anders. Die Klimakrise ist kein fernes Gespenst mehr, sondern im Alltag angekommen, mit Waldbränden und Dürren, Starkregen und Überschwemmungen. Die Politik hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt, bis 2045 soll Deutschland klimaneutral werden, mit Strom aus Kohle und Gas ist das kaum zu schaffen. Der Anteil des Stroms aus erneuerbaren Energiequellen am deutschen Strommix dümpelt bei etwa 50 Prozent. Und der Bedarf an Strom wächst, wenn Elektroautos und Wärmepumpen populärer werden. Allein das spräche für einen neuen Boom.
Und dann ist da auch noch der russische Angriffskrieg in der Ukraine, der Deutschland seine Abhängigkeit von Gas, Kohle und Öl spüren lässt wie nie zuvor. Wie kalt der Winter wird, weiß keiner zu sagen, aber viele haben begriffen, dass Deutschland mehr Solarzellen und Windräder braucht – und das nicht nur aus China. So ist aus dem totgesagten Solar Valley wieder ein Ort der Hoffnung geworden, und aus Meyer Burger ein Hoffnungsträger: Der Aktienkurs des Unternehmens hat sich von Ende Februar bis Mitte August etwa verdoppelt. Und als der grüne Klima- und Wirtschaftsminister Robert Habeck das dortige Werk der Firma Meyer Burger im Sommer besuchte, erklärte er, ein Comeback der Solarindustrie in Deutschland sei möglich. Man habe sie unverständlicherweise kaputtgehen lassen, man könne sie „wieder hochziehen.“
Gunter Erfurt hat den Satz von Habeck gleich getwittert. Seit zwei Jahren ist er CEO von Meyer Burger. Das Schweizer Unternehmen, traditionell ein Anlagenbauer und Technologieentwickler, hat umgerüstet. Die neue Strategie: Solarzellen und Solarmodule selbst entwickeln und produzieren. Lieferketten nicht mehr in Asien, sondern in Deutschland konzentrieren. Damit will Meyer Burger Vorreiter werden. Gunter Erfurt hat der Solarindustrie auch in der Krise nicht den Rücken gekehrt und glaubt nun, dass dieses Mal nichts schiefgehen wird. „Weil genau jetzt unsere Zeit ist, noch viel mehr, als sie es jemals war“, sagt er.
Eine riesige Fabrikhalle, direkt an der Sonnenallee im Bitterfelder Solar Valley, die Maschinen spucken unablässig Solarzellen aus. Gunter Erfurt läuft die Produktionsstrecken ab und erklärt, wie Wafer geätzt und gesägt werden, wie daraus Solarzellen werden, wie diese beschichtet und gestanzt werden. Zwischendurch grüßt er Mitarbeiter, noch kennt er nicht alle aus der Belegschaft. Momentan produziert Erfurts Fabrik in Bitterfeld täglich um die 300.000 Solarzellen, verpackt in recycelbare Behälter. Drei Lastwagen bringen sie in die Schwesterfabrik in Freiberg, 150 Kilometer entfernt, wo jeden Tag etwa 2700 Module zusammengebaut werden, bevor sie an europäische und amerikanische Kunden ausgeliefert werden.
Die Belegschaft an den drei ostdeutschen Standorten – es gibt neben den beiden Fabriken noch eine Entwicklungszentrale im Erzgebirge – ist auf über 1000 Mitarbeiter angewachsen, obwohl die Hightech-Produktion hochautomatisiert läuft. Vor 15 Jahren habe man noch dreimal mehr Mitarbeiter benötigt, sagt Erfurt, die Personalkosten lägen jetzt bei etwa zehn Prozent der gesamten Produktionskosten. Die Maschinen produzieren rund um die Uhr, pro Schicht stehen in der Halle in Bitterfeld etwa 20 Mitarbeiter, die sie justieren und überwachen.
Gunter Erfurt muss mit einer neuen Art des Mangels klarkommen: Es gibt jetzt nicht mehr zu wenig Nachfrage nach Solarzellen aus Deutschland – es gibt zu wenig Kapazitäten, um diese Nachfrage zu bedienen. „Wir sind ausverkauft bis sonst wohin “, sagt Erfurt. „Bei uns übersteigt die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches.“
Gunter Erfurt ist in Karl-Marx-Stadt geboren, hat in Zwickau studiert, in Freiberg promoviert und lebt mit seiner Familie in der Stadt. Für Solarenergie hat er sich schon früh interessiert, sein ältestes Fachbuch zum Thema stammt aus den Achtzigerjahren, er hat es als Teenager gelesen. Als Student sei er „zwangsläufig“ bei den erneuerbaren Energien gelandet. „Und als die Industrie nach der Jahrhundertwende heranwuchs, bin ich mit wehenden Fahnen dorthin.“ Als die Branche in die Krise stürzte, hat ihn das getroffen, weil „Deutschland wieder einmal eine riesige Chance nicht verstanden hat, obwohl man bereits auf Marktführerniveau gewesen ist“. An die Erneuerbaren hat er trotzdem immer geglaubt, nach SolarWorld und einem Sabbatical wechselte er schließlich zu den Schweizern: „Ich komme eben nicht davon los, und nun will ich diese Mission auch zu Ende bringen.“
Ich will diese Mission auch zu Ende bringen.
Gunter Erfurt, der der Solarindustrie trotz mancher Rückschläge treu geblieben ist
In den vergangenen zwei Jahren hat Meyer Burger mehrere Standorte aufgebaut, darunter die Fabriken in Bitterfeld und Freiberg, wo man eine ehemalige Halle von SolarWorld bezogen hat. Erfurt reicht das nicht, beim Rundgang durch das Bitterfelder Werk bleibt er an einem Fenster stehen und deutet nach draußen auf eine Wiese. „Da gibt es noch Kapazitäten zum Ausbauen“, sagt Erfurt, „und die werden wir brauchen.“
Wann genau eine Erweiterung geplant ist und woher das Geld dafür kommen könnte, darüber spricht Erfurt noch nicht – man ist vorsichtig geworden in Bitterfeld. Auch der Zutritt zur Produktion wird kontrolliert, Handys sind in den Hallen verboten. Meyer Burger will seine Entwicklungen schützen. Das Unternehmen hat eine Technologie namens „Heterojunction/Smart-Wire“ entwickelt. Dahinter verbirgt sich eine besondere Beschichtung mit verschiedenen Gasen, um die Solarzellen effektiver zu machen. Mehr will Erfurt nicht sagen.
„Früher haben wir unsere Maschinen und damit unsere Technologie nach China geliefert, dort wurden sie kopiert, unser Wissen ist abgeflossen“, erklärt der Unternehmer. China sei durch dieses Know-how und jede Menge Subventionen zum Billig- und Massenanbieter für Solarprodukte geworden, das habe den Markt ruiniert. Heute achtet Erfurt sogar auf Fachmessen genau darauf, was er dem Publikum verrät. „Die Welt soll immer in einer gesunden Weise vernetzt sein, aber diese Abhängigkeit, dass es ohne China gar nicht geht, da müssen wir unbedingt raus“, sagt er – und nennt „die reine Maschinen-Exportstrategie von Angela Merkel“ einen „großen Fehler“.
Sich von China zu entkoppeln ist aber gar nicht so leicht, sosehr Erfurt es auch versucht. Produkte aus Fernost sind immer noch günstiger, selbst wenn sie Tausende Kilometer unterwegs sind. Die Wafer zum Beispiel, flache Scheiben aus Silizium, die er für die Fotovoltaikanlagen braucht, bekommt er in Deutschland nicht. Dabei wurden sie bis vor zehn Jahren in Bitterfeld hergestellt, von einem Unternehmen mit ehemals 1200 Mitarbeitern. Auch das ging 2012 pleite. Und so kauft Erfurt die Wafer heute in Asien – und versucht, in Deutschland und Europa Ersatz zu beschaffen. Am besten fände er es, wenn sich auch Wafer-Hersteller im Solar Valley ansiedeln.
Womöglich hat das Warten bald ein Ende: Das Freiburger Start-up NexWafe, 2015 aus dem Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ausgegliedert, könnte Abhilfe schaffen. Die Wafer sollen dünner und effizienter sein, die Produktion soll weniger Abfall verursachen und weniger Energie verbrauchen – sagt jedenfalls die Firma. Sie hat in Bitterfeld, ein paar Kilometer vom Solar Valley entfernt, eine Chemieanlage gekauft. Aktuell planen Architekten und Techniker die Produktionsanlage, die Entwicklung der effizienten Wafer dauert länger als gedacht. Trotzdem ist Frank Siebke optimistisch, er ist einer der Gründer von NexWafe: Von 2024 an sollen die ersten Wafer vom Band laufen. „Mit unserer Technologie wird die Wafer-Produktion in Europa wieder wettbewerbsfähig“, verspricht der Unternehmer.
Allein ist Meyer Burger ohnehin nicht mehr. In Chemnitz produziert Heckert Solar, ein familiengeführter Mittelständler, täglich 3600 Solarmodule. Solarwatt produziert in Dresden etwa 2800 Module pro Tag. Die Solarzellen kaufen beide Unternehmen in Asien. Und direkt gegenüber von Meyer Burger hat Hanwha Q Cells seine Zentrale. Das Unternehmen Q Cells gehörte ursprünglich auch zum ersten Solarboom auf der Sonnenallee, ging pleite und wurde von einem südkoreanischen Konzern aufgekauft. Die Fotovoltaik-Geschäfte laufen auch hier gut. Voriges Jahr wurden rund 15,5 Millionen Euro in den Bitterfelder Standort investiert, um ihn auf den neuesten Stand zu bringen. Das Geschäftsmodell ist das eines globalen Konzerns: In Bitterfeld wird bis zur Marktreife geforscht und entwickelt, mit 450 Mitarbeitern. Produziert wird unter anderem in Südkorea und China. Nicht ausgeschlossen, dass sich das ändert. „Entscheidende Komponenten wie Wafer sind in Deutschland bisher noch nicht zu einem attraktiven Preis verfügbar“, sagt der Unternehmenssprecher Oliver Beckel. „Aber wir beobachten den Markt genau. Wenn sich Wertschöpfungsketten auf den europäischen Markt konzentrieren, sodass es für Investoren attraktiv wird, würde sich auch Hanwha daran orientieren.“
Als Konkurrenz sieht man sich auf der Sonnenallee nicht. „Das Wachstum, das wir für die nächsten Jahre erwarten, lässt genügend Raum für viele Unternehmen“, sagt Beckel. Wettbewerb gibt es höchstens um die knappen Fachkräfte. Bei Hanwha Q Cells in Bitterfeld gibt es gerade 80 offene Stellen, von der Forschung bis zum Vertrieb. Auch Meyer Burger muss sich anstrengen, um schnell Personal zu finden, und versucht, die Leute mit anderen Arbeitszeitmodellen zu überzeugen, etwa mit Vier-Tage-Wochenenden nach sechs Tagen Schichtarbeit. Und mit einer Mission, mit der die Firma auf ihrer Website wirbt: „Wir wollen, dass die Energiewende wirklich gelingt“, heißt es da. „Dafür brauchen wir jeden klugen Kopf, der uns dabei unterstützt, die Solarindustrie wieder nach Europa zu holen.“
Das Trauma des Solarcrashs vor zehn Jahren ist keineswegs verschwunden. Wer damals seinen Job verlor, überlegt zweimal, bevor er zurückkehrt. Als Gunter Erfurt vor zwei Jahren die leere Firmenhalle in Bitterfeld entdeckte, rief er den Oberbürgermeister Armin Schenk an, um ihm von seinen Plänen zu erzählen. Auch der sei erst mal „auf eine gesunde Weise skeptisch“ gewesen. Inzwischen ist er ganz auf Linie. „Der Solarbedarf ist heute ein ganz anderer als damals“, sagt der CDU-Politiker. Erfurt und seine Leute hätten eine gesunde Strategie. „Ich glaube fest daran, dass sie ihre Wachstumsvorstellungen realisieren können“, sagt Schenk.
Auf der Sonnenallee gibt es inzwischen häufig Besuch aus der Politik. Neben Robert Habeck war Carsten Schneider (SPD) da, der Ostbeauftragte der Bundesregierung. Auch Vertreter von CDU und FDP hat Erfurt durch seine Werke geführt.
Die Politik kommt auch deshalb gern, weil es anders als früher nicht in erster Linie um Subventionen geht. Ein paar braucht es zwar schon: Bei Investitionen von 300 Millionen Euro habe man eine EU-Investitionszulage von rund zehn Millionen Euro bekommen, so wie sie jede Industrie erhalten könne, dazu habe es eine Umweltbeihilfe von 15 Millionen Euro gegeben, sagt Gunter Erfurt. Außerdem profitiert Meyer Burger von Bürgschaften der Bundesrepublik Deutschland und der Bundesländer Sachsen und Sachsen-Anhalt. Ansonsten sei das Erneuerbare-Energien-Gesetz, das für die Einspeisung von Ökostrom einen Vorrang vor konventioneller Energie vorsieht und diesen auch noch minimal vergütet, die letzte verbliebene Subvention, sagt Gunter Erfurt. Davon abgesehen muss sich das Unternehmen heute mehr am Markt behaupten als in der ersten Blütezeit des Solar Valley. Ein Problem sieht er darin nicht: Die Branche sei heute „mehr als wettbewerbsfähig“.