Bildungsexpert:innen fordern Pflichtfach Informatik
Das Expert:innengremium der KMK empfiehlt im Gutachten zur Digitalisierung tiefgreifende Veränderungen im Bildungssystem.
Die Expertinnen und Experten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission (SWK) der Kultusministerkonferenz sind sich bewusst, dass sie mit dem neuen Gutachten zur Digitalisierung im Bildungssystem der Politik einiges zumuten. „Wir stehen vor epochalen Veränderungen“, sagte der Co-Vorsitzende des Wissenschaftsgremiums, Olaf Köller, bei der Vorstellung der Empfehlungen. Darin sind eine Reihe von Maßnahmen aufgelistet, die in den kommenden Monaten und Jahren im Bildungssystem unternommen werden müssen, um einer zunehmend digitalen Welt gerecht zu werden. Dabei haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht nur die Schule, sondern alle Bildungsetappen von der Kita bis zur Hochschule in den Blick genommen.
Verbindliche digitale Bildungspläne für die Kitas
Digitale Medienbildung sei in der frühkindlichen Bildung unterentwickelt, einige Bildungspläne würden sogar eine ausschließlich negative Sicht auf digitale Medien vermitteln, heißt es in dem Gutachten. Oft überwiege auch bei den Eltern die Angst vor Gefahren des unkontrollierten Medienkonsums. Dabei gebe es Tools, die für die sprachliche oder auch mathematische Entwicklung gut genutzt werden können. Zudem sollten elementare Informatikkenntnisse aufgebaut werden, praktisch als Vorläuferfähigkeiten für das algorithmische Denken und Programmieren. Die SWK empfiehlt, die frühe digitale Medienbildung in allen Bildungs- und Orientierungsplänen der Länder als eine verpflichtende Aufgabe für die Kitaträger aufzunehmen. Medienpädagogische Inhalte und Elementarinformatik würden folglich auch verbindlich in die Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher gehören. Zudem müsse die nötige Infrastruktur und eine digitale Plattform mit geeigneten Lehr- und Lernmaterialen zur Verfügung gestellt werden.
Einführung des Pflichtfachs Informatik an Schulen
Für den Bereich der allgemeinbildenden Schulen sei es laut Gutachten „dringend erforderlich“, digitale Tools für den Fachunterricht theoretisch und empirisch fundiert zu entwickeln. Dies könne nicht den Lehrkräften oder dem freien Markt allein überlassen werden. Die SWK empfiehlt dazu die dauerhafte Einrichtung länderübergreifender Zentren für digitale Bildung. In diesen Zentren sollen Expertinnen und Experten aus der Praxis, aus der Fortbildung, aus der Wissenschaft und von Unternehmen gemeinsam Materialien und didaktische Konzepte für den Einsatz im Unterricht entwickeln und dann für den Transfer in die Breite sorgen. Ein erster Schritt in diese Richtung könne das bisher befristet angelegte Programm des Bundesbildungsministeriums für die Einrichtung von „Kompetenzzentren für digitales und digital gestütztes Unterrichten in Schule und Weiterbildung im MINT-Bereich“ sein.
Bereits in der Primarstufe sollen Inhalte der Informatik verpflichtend unterrichtet werden, jedoch nicht als eigenes Fach, sondern im Rahmen des Sachkundeunterrichts. Bisher liege der Schwerpunkt in der Grundschule vor allem auf Medienkompetenzen und auf Grundfertigkeiten im Umgang mit dem Computer, weniger auf informatischen Kenntnissen. Informatik müsse entsprechend auch zum Pflichtmodul in der Ausbildung der Grundschullehrkräfte im Fach Sachunterricht werden.
In der Sekundarstufe I sollte den Empfehlungen zufolge Informatik dann als eigenständiges Pflichtfach eingeführt werden, und zwar bereits ab dem Schuljahr 2024/25. Zunächst wird ein Umfang von vier Wochenstunden in der Stundentafel empfohlen, langfristig dann sogar von sechs Stunden pro Woche. Die Zahl der Stunden bezieht sich jedoch auf alle Jahrgangsstufen der Mittelschule. Sollte das Fach beispielsweise über zwei Jahre, etwa in der achten und neunten Klasse, unterrichtet werden, würden sich die vier Stunden auf zwei Wochenstunden in jeder Jahrgangsstufe verteilen. Empfehlungen dazu, in welchen Fächern dafür Stunden reduziert werden sollten, macht die SWK nicht.
Auch in der Sekundarstufe II soll das Informatik-Angebot ausgebaut und der MINT-Fächergruppe zugeordnet werden. Ziel sollte sein, damit mindestens ebenso viele Schülerinnen und Schüler zu erreichen wie etwa mit den Fächern Chemie oder Physik. Die SWK empfiehlt, die Vorgaben für die Abiturprüfung so zu regeln, dass mindestens ein Prüfungsfach aus der MINT-Fächergruppe stammen muss.
Alternative Ausbildungswege für Informatik-Lehrkräfte
Um die nötigen Lehrkräfte für das Fach Informatik zu gewinnen, schlägt die SWK kurzfristige Übergangsmaßnahmen und auch langfristige Qualifizierungen vor. Als Sofortmaßnahme sollen die Landesinstitute zeitlich verkürzte Fortbildungskurse anbieten, die später in längerfristige Qualifizierungen eingebunden werden und schließlich mit einem Zertifikat zur Lehrbefähigung enden. Diese berufsbegleitende Ausbildung für ein Drittfach Informatik sollte durch eine Reduzierung der Unterrichtsverpflichtung gefördert werden.
Ein weiterer vorgeschlagener Weg sind Seiten- und Quereinstiegsprogramme. Dabei soll für das Fach Informatik der „Ein-Fach-Seiteneinstieg“ bevorzugt werden. Die Qualifizierung erfolgt dann über zwei Jahre berufsbegleitend. Der Quereinstieg für Menschen mit Abschlüssen aus IT-Berufen soll erleichtert werden.
Zudem müssten auch die Lehramtsstudiengänge für das Fach Informatik attraktiver werden. Die SWK schlägt deshalb vor, dass es für das Lehramt Informatik auch die Option eines „Ein-Fach-Studiums“ geben soll, das laufbahnrechtlich den Zwei-Fächer-Studienabschlüssen gleichgestellt ist.
Modernisierung der Lehrpläne der beruflichen Bildung
Die Veränderungen, die die Digitalisierung in den meisten Berufen mit sich bringt, werden derzeit nicht ausreichend in den Lehrplänen abgebildet, konstatiert die SWK in ihrem Gutachten. Statt einer proaktiv ausgerichteten Berufsausbildung, die zur Mitgestaltung des Wandels befähigt, sei eher eine Anpassungsstrategie zu beobachten.
Das Expertengremium empfiehlt, enge Berufszuschneidungen in den beruflichen Schulen aufzulösen, denn diese würden es schwerer machen, Veränderungen in der Arbeitswelt schnell aufzugreifen. Stattdessen sollen in einer beruflichen Grundausbildung neben berufsfeldbezogenen Kernkompetenzen auch sogenannte Future Work Skills aufgenommen werden, die dazu befähigen, die Anwendungen der digitalen Technologien kritisch zu reflektieren. Um den großen Aufwand bei der Erarbeitung der Lehrpläne zu minimieren, sollten Berufsschulen mit den gleichen Lernfeldern verstärkt kooperieren.
Digitalisierung verbindlich in der Lehrerausbildung verankern
Bisher sind digitalbezogene Inhalte kaum durchgängig und verbindlich in der Lehrerausbildung verankert. Auch die Erprobung digitaler Medien in den Praxisphasen findet kaum statt, heißt es in dem Gutachten. Die SWK empfiehlt, dass die Länder einen gemeinsamen Referenzrahmen für digitalisierungsbezogene Kompetenzen vereinbaren.
Lern- und Erfahrungsräume (z. B. in Lehr-Lern-Laboren an Hochschulen) sollten die Erprobung digitaler Medien und die gemeinsame Reflexion ihres Einsatzes ermöglichen, wie es auch die Hochschulrektorenkonferenz fordert. Lehramtsstudierende sollten dabei in Seminaren vorbereitet und begleitet werden.
Angesichts des zunehmenden Bedarfs an Spezialistinnen und Spezialisten im digitalen Bereich sollten die Hochschulen auch Qualifizierungsangebote entwickeln, beispielsweise für pädagogisch-technische Assistentinnen und Assistenten, die die Lehrkräfte im Umgang mit den digitalen Systemen an der Schule unterstützen.
Auch für die Fortbildung der Lehrkräfte empfiehlt die SWK, dass die Länder stärker zusammenarbeiten und gemeinsame Eckpunkte in Bezug auf die Digitalisierung entwickeln.
Digitale Kompetenzen in der Hochschulbildung stärken
Digitale Kompetenzen sind laut Gutachten bisher nicht ausreichend in den Curricula der Hochschulbildung verankert. Die Dozierenden schätzen ihre eigenen Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Technologien als niedrig ein. Um Studierende auf künftige wissenschaftliche und gesellschaftliche Anforderungen vorzubereiten, müssten allgemeine und fachspezifischen digitale Kompetenzen in die Lehrpläne aufgenommen werden. Dozierende sollten in Fortbildungen für die Lehre mit digitalen Medien qualifiziert werden.
Die SWK empfiehlt als Minimalstandard, dass jede Hochschule den Studierenden Lernmaterial auch digital zur Verfügung stellt und dass alle Dozierenden digital erreichbar sind. Jede Hochschule sollte zudem eine Infrastruktur für digitale Prüfungen aufbauen.
Reaktionen der Kultusministerien auf die Empfehlungen der SWK
Wie die Kommission sind wir auch der Überzeugung, dass die Digitalisierung ein sehr zentraler, zugleich aber auch langer Prozess der Weiterentwicklung des Bildungssystems in allen Bildungsetappen sein wird , sagte Karin Prien, Präsidentin der Kultusministerkonferenz und Ministerin für Allgemeine und Berufliche Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Schleswig-Holstein.
Ties Rabe (SPD), Hamburgs Senator für Schule und Berufsbildung sagte zu den Vorschlägen: „Die Ständige Wissenschaftliche Kommission gibt mit diesem Gutachten wichtige und konkrete Handlungsempfehlungen. Dazu zählt insbesondere der Vorschlag, in allen Bundesländern in der Mittelstufe das Schulfach Informatik einzuführen. Ich finde diesen Vorschlag sinnvoll. Es ist allerdings ein umfangreiches Unterfangen, bedeutet es doch, dass in anderen Schulfächern Stunden gestrichen werden müssen, um Informatik zu ermöglichen. Zudem müssen wir zusätzliche Lehrkräfte gewinnen, neue Bildungspläne und Unterrichtsmaterial entwickeln.”
Ähnlich äußerte sich der hessische Kultusminister Alexander Lorz (CDU): „Die Notwendigkeit, in unseren Anstrengungen für die Weiterentwicklung der digitalen Unterrichtsangebote nicht nachzulassen, ist uns in den Ländern sehr bewusst. Bei neuen Unterrichtsinhalten und -angeboten stellt sich aber stets die Frage, auf welche anderen wir stattdessen verzichten können. Hier erhoffen wir uns ebenso Hinweise und Empfehlungen der Wissenschaft, da man nicht alles, was Schule künftig leisten soll, immer noch obendrauf packen kann.“
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