Keine Angst vor der Transformation
Das Nachhaltigkeitsnetzwerk B.A.U.M. e.V. spricht sich aus aktuellem Anlass für eine souveränere Energieversorgung aus. Was dafür nötig ist, erklärt die Vorsitzende Yvonne Zwick.
Studio ZX: Frau Zwick, am 11. März haben Sie in einem gemeinsam mit mehr als 20 Wirtschafts-, Umwelt- und Verbraucherverbänden verfassten offenen Brief an die Bundesregierung einen „Gipfel für Energiesouveränität“ gefordert. Was genau erhoffen Sie sich?
Yvonne Zwick: Wir müssen die fatale Abhängigkeit von fossilen Energieträgern beenden und ein Sofortprogramm für Erneuerbare, für Energiesparen und Energieeffizienz auflegen. Wir sollten jetzt alle Optionen maximal ausschöpfen und die Energiewende in Partnerschaft von Zivilgesellschaft, Privatwirtschaft und Politik schnellstmöglich voranbringen. Dazu gehört auch, unser Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Ich bin davon überzeugt: die Technologie ist da, das Interesse der Investorinnen und Investoren auch – jetzt loszulegen hieße, Investment- und Ressourceneffizienzchancen zu heben, uns damit zugleich unabhängiger von fossilen Energieträgern und damit Unrechtsregimen wie Russland zu machen.
Die Europäische Union hat im Februar beschlossen fossile Energieträger in die Taxonomie aufzunehmen und erklärt Gas und Atomstrom damit zu nachhaltigen Energiequellen. Sie halten das für einen großen Fehler. Warum?
Grundsätzlich erschwert die Entscheidung der EU den konsequenten und zügigen Ausbau erneuerbarer Energien. Die Ursprungsidee der Taxonomie war, die Wettbewerbsbedingungen für nachhaltige Geschäftsmodelle zu verbessern, indem nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten positiv qualifiziert werden können. Die sehr umfangreiche Arbeit der Expertinnen und Experten, die die Taxonomie entwickelt haben, wurde verwässert; öffentliche Fördermittel können in die Technologien geschleust werden, die noch nicht einmal der französische Rechnungshof mehr für vernünftig finanzierbar hält.
Yvonne Zwick ist seit Anfang 2021 Vorsitzende von B.A.U.M. e.V. Zuvor war die studierte Theologin als stellvertretende Generalsekretärin des Rats für Nachhaltige Entwicklung (RNE) tätig.
Welche Möglichkeiten gibt es jetzt noch, dagegenzuhalten?
Wir richten unsere Aufmerksamkeit jetzt auf die Ausarbeitung der gesellschaftlichen Taxonomie sowie gute Berichtsstandards für die Erfüllung der europäischen Nachhaltigkeitsberichtspflicht (Corporate Sustainability Reporting Directive, CSRD). Diese muss notwendigerweise Kriterien der sozialen und intergenerationellen Gerechtigkeit enthalten. Zukünftige Generationen nicht zu belasten entspricht „do no significant harm“, dem grundlegenden Prinzip der Taxonomie – das ist nach wie vor ein valides Ausschlusskriterium für Atom. Und welche Sicherheitsdimension die Abhängigkeit von Gasimporten hat, haben wir in den letzten Monaten leider ebenso eindrücklich gesehen.
Wie sieht denn Ihr Lösungsvorschlag aus?
In Deutschland bewährt sich seit nunmehr zwanzig Jahren die Nachhaltigkeitsstrategie. Sie bündelt einzelne Ressortstrategien und bereitet sie für die Bewertung durch die Bundesregierung und die interessierte Öffentlichkeit auf. Entsprechend halten wir eine europäische Nachhaltigkeitsstrategie für dringend erforderlich. Wir brauchen ein Moderationsinstrument für die Vielzahl von Initiativen, mit denen die EU-Kommission unseren Kontinent zum ersten klimaneutralen und zugleich zum wettbewerbsfähigsten und nachhaltigsten machen möchte, etwa die Regulierungsinitiativen im Sustainable-Finance-Paket, die Novellierung der Berichtspflicht, die Entwicklung europäischer Nachhaltigkeitsberichtsstandards durch die EFRAG oder den Green Deal. Mit einer europäischen Nachhaltigkeitsstrategie würden wir auch anschlussfähig an die internationale Nachhaltigkeitsgovernance, die es mit den globalen Nachhaltigkeitszielen seit 2015 gibt. Die französische Initiative Managers Responsables 21 (MR21) und B.A.U.M. e.V. appellieren an unsere beiden Regierungen, eine gemeinsame Position für eine europäische Nachhaltigkeitsgovernance im Rahmen der EU- und G7-Ratspräsidentschaften zu entwickeln. Das habe ich auch Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck geschrieben. Ich hoffe, sie haben Zeit, zu lesen.
Die Nachhaltigkeitsstrategie ist auch in Deutschland nur innerhalb einer gewissen Szene bekannt. Warum sprechen Sie ihr so eine bedeutende Rolle zu?
Der Abgleich unternehmerischer Nachhaltigkeitsbeiträge mit politisch gesetzten, zeitlich festgelegten messbaren Zielen ist ein Anreiz für die Innovationskraft in der Wirtschaft, aber auch in der Politik und Verwaltung. Wir brauchen konkrete Hebel, um die Transformationsdynamik in Europa zu entfesseln und nachhaltigen Innovationen einen deutlichen Schub zu geben. Ingenieurinnen und Ingenieure haben Spaß an der Innovationsentwicklung. Sinnvolle Arbeit, die so honoriert wird, dass ich davon gut leben kann, erfüllt. Dafür muss man den Beteiligten aber die Angst vor der Transformation nehmen und eine langfristige Gestaltungsidee entwickeln, die funktioniert und erstrebenswert ist. Solange wir an alten wirtschaftspolitischen Erzählungen hängen, werden wir auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht stärken.
Das Unternehmensnetzwerk B.A.U.M. e.V. wurde 1984 gegründet und hat heute mehr als 700 Mitglieder. Die Aufnahme von Atomkraft und Gas in die EU-Taxonomie hat den Verband unter anderem zu offenen Briefen an Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, sowie Frans Timmermans, den EU-Kommissar für Klimaschutz, bewogen, die am 18. Januar 2022 verschickt wurden.
Die Sustainable Development Goals sind in diesem Zusammenhang eine neue Erzählung, die 2015 von 193 Staaten gezeichnet wurde. Wie können diese Nachhaltigkeitsziele hier konkret helfen?
Als Agenda 2030 sind sie für lokale Initiativen, zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Organisationen und Unternehmen gleichermaßen zur Richtschnur geworden. Die freiwilligen Fortschrittsberichte, die auf Ebene der Vereinten Nationen zusammengetragen werden, sollten nun auch wirtschafts- und industriepolitisch genutzt werden. Es ist jetzt an der Zeit, Konventionen loszulassen und mit den in den Unterzielen der SDGs angelegten Indikatoren zur Wirkungsmessung neue, konstruktive Partnerschaften zwischen Politik und Wirtschaft zu schließen. Das wird uns in den Energiemarkt der Zukunft leiten, in eine sozialökologische Marktwirtschaft in Europa und auf den Pfad einer global nachhaltigen Entwicklung. Ich halte das für keine Utopie, sondern machbar. Dazu ist aber unabdingbar, dass wer Technologieoffenheit sagt, auch Lebenszyklusanalyse und Impact Assessment sagt. Wir müssen im Sinne der Aufrichtigkeit gegenüber allen Teilen der Gesellschaft und gegenüber zukünftigen Generationen alle Kosten in unsere Bilanzen und alle Wirkungen in unsere Einschätzungen für die Zukunft einfließen lassen. Tun wir das nicht, werden Risiken verdeckt, die uns früher oder später auf die Füße fallen.
Was ist Ihr Rat für Unternehmen, sich bezüglich der EU-Taxonomie und weiteren geplanten Regularien zukunftsfähig aufzustellen?
Der einfachste Einstieg für Unternehmen, um sich dem ganzen Komplex der Regulierungsinitiativen zu nähern, ist der Deutsche Nachhaltigkeitskodex (DNK). Er ist als freiwilliger Berichtsstandard seit 2012 in Anwendung – aus Steuermitteln finanziert, mit seiner Datenbank und Feedbackprozessen offen zur kostenlosen Anwendung für alle. Vor Kurzem wurden die ersten Kriterien für die Beschreibung taxonomiekonformer Wirtschaftsaktivitäten als optionale Berichtselemente integriert, die Anforderungen des Lieferkettensorgfaltspflichtengesetzes (LkSG) hat er schon drin, und er wird auch die Berichtsanforderungen zur Corporate Sustainability Reporting Directive zügig integrieren, sobald sie in ihrer finalen Fassung vorliegt. Auch nicht berichtspflichtige Unternehmen und Organisationen können den DNK nutzen, um sich strategisch als verlässliche Player für eine nachhaltige Entwicklung zu positionieren. Wer damit einsteigt, erkennt schnell: Berichterstattung und die Erfüllung regulatorischer Anforderungen sind kein Hexenwerk, sondern liegen in unser aller Interesse.