ZEIT für X
Und was wird aus dem Chefsessel, wenn die KI übernimmt? Die Künstler Wendy van Santen und Hans Bolleurs hätten da eine Idee.

Mach mal Platz, Boss!

04. April 2024
ZEIT Redaktion

Künstliche Intelligenz soll Chefinnen und Chefs dabei helfen, die Prozesse in ihren Firmen effizienter zu machen. Wie leicht sind sie selber zu ersetzen?

von Carolin Jackermeier

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 1/2024.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Markus Kerkhoff hätte auf sein Bauchgefühl hören, seiner Intuition vertrauen oder sich von seinen Erfahrungen leiten lassen können. Der 52-Jährige hätte Kollegen konsultieren oder eine Pro-und-Contra-Liste erstellen können. Es ging ja um Menschen, ihre Arbeit, ihre Zukunft! Doch wenn der Unternehmer in den vergangenen drei Jahren die Projektleiter in seinen Teams austauschte, verließ er sich nicht so sehr auf menschliche Fähigkeiten, sondern: auf Software.

In Werther bei Bielefeld leitet Kerkhoff seit vergangenem Jahr das Familienunternehmen Poppe und Potthoff. Die Firma stellt seit 1928 Spezialrohre für Verbrennermotoren und Dieseleinspritzsysteme her. Heute entwickelt die Gruppe zudem Systeme für E-Mobilität und Wasserstofftechnologie. „Für diesen Technologiewandel brauchten wir auch einen Strukturwandel im Unternehmen selbst“, sagt Kerkhoff.

Vor drei Jahren, damals war er noch Beauftragter für Innovation, begann er die Firma zu transformieren. Er bildete gemischte Teams: Ingenieure sollten mit Produktionshelfern zusammenarbeiten, Verwaltungsangestellte mit Produktentwicklern. Statt getrennter und hierarchisch strukturierter Ableitungen gab es plötzlich selbst organisierte Projektgruppen. Ob das funktioniert, lässt er künstliche Intelligenz (KI) beurteilen.

KI soll zukünftig nicht nur Produktionsstraßen effizienter machen, Marketingtexte verfassen und E-Mails formulieren, sondern Chefinnen und Chefs in ihren Kernkompetenzen unterstützen: strategische Entscheidungen treffen, die passenden Menschen ins Team holen – oder gleich die Firma leiten. Der chinesische Spieleentwickler Netdragon Websoft beschäftigt als Geschäftsführer einer Tochterfirma seit gut einem Jahr bereits einen KI-gesteuerten Roboter, der Managementaufgaben übernimmt, Gespräche mit Mitarbeitenden führt und Berichte erstellt.

Laut einer Umfrage der Online-Bildungsplattform EDX in den USA glaubt fast die Hälfte der 500 befragten Chefinnen und Chefs daran, dass ihre Arbeit komplett oder zum Großteil durch KI ersetzt werden könnte. Die Managementberatung Kearney und der Personalvermittler Egon Zehnder kommen bei einer nicht repräsentativen Umfrage unter 100 Vorständen und Geschäftsführern aus Deutschland und drei weiteren Ländern zu dem Schluss, fast die Hälfte der hochrangigen Führungskräfte erwarte, dass KI ihre Rolle fundamental verändern werde. Mehr als 90 Prozent der Teilnehmenden sehen darin vor allem eine Chance.

Was unumstritten ist: Große Sprachmodelle wie ChatGPT von OpenAI und Gemini von Google machen KI für die meisten zugänglich. Bei einer Umfrage unter den Leserinnen und Lesern von ZEIT für Unternehmer antwortete die große Mehrheit, sie nutze die Technologie bereits. Hauptsächlich aber, um Routineaufgaben effizienter zu erledigen und mehr Zeit für kreatives Arbeiten zu haben. Oder wie es ein Unternehmer formuliert: „um unliebsame Aufgaben übernehmen zu lassen“.

Markus Kerkhoff genügt das nicht: „Meine Aufgabe als Unternehmer ist es, mit dem bestmöglichen Team das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Und dabei hilft mir die Technologie.“ Beraten lässt sich der Unternehmer von der Software des Start-ups Monday Rocks.

Dessen Gründer haben eine „Leadership-App“ entwickelt, die mithilfe von KI die Zusammenarbeit von Teams verbessern soll. Das Düsseldorfer Start-up warb einen siebenstelligen Betrag ein. Unter anderem hat der ehemalige SAP-Personalvorstand Stefan Ries investiert. Zu den Kunden zählen Volkswagen und der Pharmakonzern Novartis.

Das Konzept der App: Zunächst fragt die Plattform ab, wer in welcher Struktur mit wem zusammenarbeitet. Die Mitarbeitenden erhalten jeweils ein eigenes Profil und sollen quartalsweise Fragen zur Zusammenarbeit im Team und ihrem Arbeitsalltag beantworten: Wie zufrieden sind sie mit ihrem Team? Wie ist der Umgang miteinander? Welche Konflikte gibt es?

Zusätzlich geben sie ihren Kolleginnen und Kollegen anonymes Feedback zu deren Verhalten. Führungskräfte sehen auf ihrem Dashboard dann, wie strukturiert ihr Team arbeitet, wer welche Rolle einnimmt und wie zufrieden die Mitarbeiter sind. Anschließend gibt die Plattform Tipps, wie die jeweiligen Einheiten besser zusammenarbeiten können. Das Start-up selbst spricht von „KI-gestützten Führungsimpulsen“, die es aus wissenschaftlichen Studien und Daten mehrerer Hundert ausgewerteter Teams herleitet.

Wie erfolgreich die Maßnahmen sind, misst Monday Rocks mit Kennzahlen, etwa der Fluktuation oder der Arbeitszeit, die für bestimmte Aufgaben anfällt. Die KI lernt aus den Daten, mit denen Firmen wie Poppe und Potthoff sie füttern, welche Strategien für welche Teamkonstellationen am besten funktionieren. Meist sind die Ratschläge banal: Da heißt es, man solle die Kommunikationskanäle vereinheitlichen, weniger Meetings abhalten oder gemeinsame To-do-Listen führen.

Im vergangenen Jahr sei die Nachfrage stark angestiegen. „Wir merken den Antrieb aus dem klassischen Mittelstand, der zuvor im Umgang mit KI eher zurückhaltend war“, sagt der Soziologe und Mitgründer Christoph Schönfelder. Doch die dortigen Führungskräfte haben auch Bedenken. Schönfelder muss viele Präsentationen halten und mit Personalräten und Datenschutzbeauftragten von Kunden sprechen. „Es geht darum, Angst zu nehmen und anfängliche Skepsis zu überwinden“, sagt er.

So war es auch bei Poppe und Potthoff. „Als wir die App einführten, waren erst mal alle skeptisch und hatten Angst, gläsern zu werden“, erinnert sich Geschäftsführer Markus Kerkhoff. Die Mitarbeitenden hätten sich beim Betriebsrat erkundigt, was mit ihren Daten geschieht. Viele seien damit überfordert gewesen, offenes Feedback zu geben, sodass die Kommentarfelder leer blieben. Mittlerweile sprechen vier Businesscoaches regelmäßig mit den Mitarbeitenden und werten die Ergebnisse aus. Im Konfliktfall wenden sie sich an Kerkhoff. Die Daten, die die App sammelt, helfen ihm, überhaupt von Spannungen zu erfahren und zu verstehen, wie sie die Dynamik der Teams beeinflussen.

Kerkhoff sagt zwar, er wolle keine Arbeit einsparen. Aber wirtschaftlich motiviert dürfte der KI-Einsatz trotzdem sein. Obwohl der Umsatz des Unternehmens 2022 leicht gestiegen ist, brach der Gewinn von knapp zehn Millionen Euro auf weniger als zwei Millionen Euro ein. Als Gründe weist die Bilanz unter anderem die steigenden Preise für Stahl und Energie sowie die sinkende Nachfrage der Automobilbranche aus. Die Lohnkosten der rund 1.600 Mitarbeitenden sind ein erheblicher Kostenfaktor. Im Jahresabschluss schreibt das Unternehmen, dass mithilfe der neuen Software „geeignete Maßnahmen zur Effizienzsteigerung abgeleitet und konsequent angewandt“ würden.

Kerkhoff folgte den Daten, strukturierte Teams um und besetzte sogar Führungspositionen neu. Die Produktivität der Teams sei deutlich gestiegen, sagt er.

KI ist kein Autopilot, sondern eine Führungsnavigation.

Christoph Schönfelder, Gründer Monday Rocks

„Wo die Mitarbeiter harmonisch zusammenarbeiten, ist die finanzielle Leistung besser.“ Mit einem so klaren Zusammenhang habe er nicht gerechnet.

KI kann auch helfen, jenseits von Personalfragen strategische Entscheidungen zu treffen. „Die eigentliche KI-Revolution findet im Management und bald auf der obersten Führungsebene statt“, meint Thorsten Heilig. Er hat vor vier Jahren das Start-up Paretos gegründet und will mit desen Hilfe unternehmerische Entscheidungen automatisieren. „Unternehmer müssen keine Excel-Listen mehr hin- und herschaukeln oder sich nicht mehr auf ihr Bauchgefühl verlassen, sondern handeln datengetrieben“, beschreibt Heilig das Ziel.
Seine Software kann nicht nur vorhersagen, welche Produktmenge an einem bestimmten Tag nachgefragt wird, und anschließend empfehlen, welche Mengen welcher Waren wann im Lager sein sollten. Sie kann die Ware auch selbstständig bestellen und den Mitarbeitenden Anweisungen geben. Die KI als Befehlsgewalt? „Die Technologie ist so weit, aber die Menschen wollen immer noch selbst auf den Knopf drücken“, sagt Heilig. Noch.

Forscherinnen und Forscher der Universität St. Gallen kommen in einer Studie zu dem Schluss, dass sich der Einsatz von KI für Führungsaufgaben negativ auf das Vertrauen von Mitarbeitenden in ihre Vorgesetzten auswirken könne. Zum Beispiel wenn nicht mehr klar ist, ob eine Führungskraft eine Entscheidung eigenmächtig getroffen hat oder sie einem Algorithmus folgt. Dann drohen Mitarbeitende nicht nur an der Entscheidung selbst zu zweifeln, sondern auch an der Kompetenz der Chefinnen und Chefs. Und wenn die Algorithmen übernehmen, können noch ganz andere Konflikte auftreten.

„Willkommen Operator X.“ – „Okay.“
„Regal 300X.“ – „Okay.“
„Nimm Kiste X.“ – „Okay.“
„Bringe sie zur Warenausgangszone.“

So klingt Mary, die im schwäbischen Mainhardt das Sagen hat, im Lager des Getränkeherstellers Aqua Römer. Mary ist das Sprachrohr eines EDV-Programms. Via Funk dirigiert sie die Staplerfahrer durch die Regalreihen und sagt ihnen, was sie zu tun haben. Diese nuscheln „Okays“ in ihre Headsets und rasen mit Paletten voller Getränkekisten auf ihren Gabelstaplern durch die Gänge. Wer am Tag die meisten Kisten schafft, erhält eine Prämie, Mary zählt mit.

Um mit ihr zu kommunizieren, wird von jedem Lagermitarbeiter ein Sprachprofil angelegt. Konkret heißt das, dass die Mitarbeiter 43 Befehle einsprechen müssen, die sich das System merkt. Mary begrüßt sie dann zu Schichtbeginn persönlich, entlässt sie in die Pause und schickt sie in den Feierabend.

Als Aqua Römer das System 2004 einführte, gab es weder Siri noch Alexa, geschweige denn eine Datenschutzgrundverordnung. Niemand habe gewusst, welche Daten das System aufzeichnet und wo diese gespeichert werden, erzählt Efstathios Michailidis. Er war damals Betriebsratsvorsitzender bei Aqua Römer. „Als ich begriffen habe, was Mary alles erfasst, war ich schockiert“, erzählt Michailidis. Er rief die Belegschaft zum Streik auf und setzte gemeinsam mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung durch, die festhält, dass die Daten nicht vom Management ausgewertet werden und zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen führen dürfen.

Heute ist Mary eine Selbstverständlichkeit im Unternehmen. „Wir haben uns so sehr an das System gewöhnt, wir wüssten gar nicht, wie es ohne funktionieren soll“, sagt der sogenannte Hoflogistiker Joachim Wild. Er arbeitet täglich mit Mary und überwacht die Aufträge aus der „Zentrale“, einem Büro auf der Empore mit Blick auf die Lagerhalle. Seine Chefin ist auch glücklich: „Mithilfe der Technologie arbeiten wir effizienter und nahezu fehlerfrei“, sagt die Geschäftsführerin Nadja Ohlendorf.

Vieles hängt also davon ab, welche Grenzen man der KI setzt. Christoph Schönfelder, der Mitgründer vom Monday Rocks, resümiert: KI könne Unternehmerinnen und Unternehmern Zeit einsparen, ihnen Einblicke in die Teams liefern, sie ihre Mitarbeitenden besser verstehen lassen. Aber er sagt auch: „Die KI ist kein Autopilot, sondern eine Führungsnavigation.“

Die Technologie kann eben nur auf Basis bestehender Daten prognostizieren, welche Entscheidung wahrscheinlich die beste ist. Als Amazon 2014 eine KI einsetzte, um Bewerbungen auszuwerten, stellte sich heraus, dass das Programm Frauen systematisch diskriminierte, weil das System hauptsächlich mit Daten weißer Männer trainiert wurde. Die hatten in der Vergangenheit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit den Job bekommen.

Auch heute noch ist KI abhängig von den vorhandenen Informationen. Sie hat kein Bewusstsein, keine Emotionen oder Erfahrungen. Unternehmen müssen dagegen neuartige Krisen bewältigen, Innovation vorantreiben und Entscheidungen auch moralisch abwägen.

Selbst ChatGPT glaubt nicht, dass KI die Firmenführung in naher Zukunft ganz ersetzen wird: „In den nächsten Jahren wird die KI-Technologie zweifellos weiterentwickelt werden, aber es bleibt unwahrscheinlich, dass sie die menschlichen Eigenschaften und Entscheidungsfähigkeiten erreicht, die für effektive Führung erforderlich sind“, schreibt die beliebte KI auf Nachfrage. Doch seien wir ehrlich: Auch diese Aussage basiert wieder nur auf dem, was in der Vergangenheit geschrieben und gesagt wurde.