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Straßengraffiti "Wir alle für 1,5°C" in Hamburg

Die Energiekrise als Chance nutzen

22. September 2022
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Ein Artikel von Studio ZX in Kooperation mit Roland Berger.

Um das Pariser Klimaziel von 1,5-Grad noch zu erreichen, müssen wir die Wirtschaft transformieren. Und zwar schneller und engagierter als bisher – auch weil Deutschland und Europa sonst Chancen verpassen. Ein Kommentar.

Ein Gastbeitrag von Yvonne Ruf und David Frans, Roland Berger

Ausgedörrte Böden, Brände, Ernteausfälle: Die Auswirkungen der Klimakrise sind in diesem Sommer sichtbar. Neben den für uns alle spürbaren Effekten werden zudem wirtschaftliche Schäden immer deutlicher. In unseren europäischen Nachbarländern mussten Kern­kraft­werke wegen Kühl­wasser­mangels abgeschaltet werden. Auch in Deutschland hat Niedrigwasser Schiffs­transporte behindert.

Um das Pariser Klimaziel von 1,5-Grad einzuhalten, müssen wir die Treib­haus­gas­emissionen bis 2030 um 43 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren. Das braucht wesentlich mehr Tempo – und zwar weltweit. Die Länder mit den ambitioniertesten Klima­zielen – dazu gehören seit Kurzem auch wieder die USA – senden klare Signale. Jetzt muss es darum gehen, die angekündigten Maßnahmen schnell zu realisieren, um Investitionen weltweit abzusichern.

Die Transformation der Wirtschaft ist gestartet

Bisher haben sich 10 bis 15 Prozent der weltweit größten Unternehmen vorgenommen, ihre Emissionen bis 2030 um rund 50 Prozent zu senken. Das entspricht allerdings nur rund 20 Prozent der Gesamt­emissionen und lässt somit eine große Lücke zu den genannten 43 Prozent. Vergleichs­weise einfache Maßnahmen wie der Kauf von Grün­strom-Herkunfts­nach­weisen und die Elektrifizierung von Flotten setzen viele Unternehmen inzwischen um. Nun steht jedoch eine tief­greifendere Transformation an, die bis in die Geschäfts­modelle, Produkt­portfolien, Produktions­muster und Liefer­ketten reicht. Beispiels­weise werden Unternehmen ihre Lieferanten anhalten müssen, ihre Emissionen zu senken, um damit den „importierten Fußabdruck“ der eingekauften Zwischen­produkte und Dienst­leistungen zu senken. Das ist bei einer teilweise sechsstelligen Zahl von Zulieferern aus der ganzen Welt kein einfaches Unterfangen. Selbst die ambitioniertesten Unternehmen haben damit gerade erst begonnen.

Hoffnungsträger grüne Energien

Zwar sind Unternehmen grundsätzlich bereit, auf neue Technologien umzusteigen und zu investieren. Doch bei der Umstellung von Produktions­prozessen gibt es vor allem energie­bezogene Hürden: So fehlt es der Industrie beispiels­weise an grünen Gasen, die zur Erzeugung von Hoch­temperaturen und für chemische Prozesse benötigt werden – etwa in der Chemie- und Basis­material­industrie sowie in Raffinerien.

Der schnelle Aufbau einer sauberen Wasser­stoff­wirtschaft, ohne die eine Dekarbonisierung der Industrie kaum möglich ist, ist ein Schlüssel­faktor. Um grünen Wasserstoff herzustellen, wird Strom aus erneuerbaren Quellen gebraucht. Begrüßens­wert sind daher die Initiativen der Bundes­regierung zur Beschleunigung des jahre­lang verschleppten Erneuerbaren-Ausbaus sowie die geplanten Förder­maßnahmen rund um den Aufbau der Wasser­stoff­wirtschaft – auch wenn sie noch nicht weit genug gehen, um Investitionen zu beschleunigen.

Die aktuelle Energiekrise, die durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurde, erschwert die Situation, weil Energie grundsätzlich und vor allem Gas knapp ist. Die Frage ist nach­voll­ziehbar, ob das Erreichen von Klima­zielen nicht aufgeschoben werden sollte. Durch den kurz­fristigen vermehrten Einsatz von Kohle als Ersatz für russisches Gas könnte sich eine Verschiebung andeuten. Doch die Energie­sicherheit geht mit der Transformation Hand in Hand. Eine Verschiebung der grünen Transformation über eine Phase der jetzt erforderlichen Stabilisierung des Energiesystems für Wirtschaft und Gesellschaft hinaus würde Abhängigkeiten verstärken und dringend notwendige Investitionen in neue Technologien gefährden.

Eine Verschiebung der grünen Transformation würde Abhängigkeiten verstärken und dringend notwendige Investitionen in neue Technologien gefährden.

Yvonne Ruf

Die Preissteigerungen im Zuge der Energiekrise könnten bei der Etablierung von grünem Wasserstoff beschleunigend wirken: Zum ersten Mal kann grüner Wasserstoff genauso günstig erzeugt werden wie grauer, also erd­gas­basierter Wasserstoff. Einige Anwendungen sind daher deutlich früher wettbewerbs­fähig als angenommen. Ein Potenzial, das es zu nutzen gilt.

Die begonnene Transformation konsequent weiterführen

Für die Regierungen sollte die aktuelle Krise Anlass sein, das Tempo noch weiter zu steigern, auch weil der Stand­ort­wettbewerb um die entsprechenden Technologien bereits in vollem Gange ist: Beim Ausbau der erneuerbaren Energien ist China derzeit vorn. Und die USA haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ein Paket vorgelegt, das ihre Attraktivität als Standort deutlich steigert. Besonders die Subventionen für grünen Wasserstoff dürften erhebliche Investitionen anziehen. Nach Berechnungen von Roland Berger können die durch den IRA subventionierten Wasser­stoff­gestehungs­kosten kurzfristig unter 2 US-Dollar pro Kilogramm fallen – derzeit die niedrigsten Kosten weltweit.

Ohne ein attraktives Umfeld für neue, grüne Technologien riskieren Deutschland und Europa, den Anschluss zu verlieren.

David Frans

Ohne ein vergleichbares attraktives Umfeld für Wasser­stoff­projekte, aber auch sämtliche andere Dekarbonisierungs­technologien riskieren Deutschland und Europa, den Anschluss zu verlieren. Zwar ist Europa mit rund 160 Megawatt installierter Elektrolyse­leistung zurzeit noch führend in dieser Technologie, aber andere Regionen könnten schnell nachziehen. Und auch Deutschland ist mit 65 Megawatt noch weit von dem von der Bundes­regierung ausgerufenen Zehn-Gigawatt-Ziel bis 2030 entfernt. Um die Entwicklung von Innovationen bis zur Marktreife zu fördern, sollten die Regierungen Investitionen direkt und unbürokratisch subventionieren, Risiken absichern und Instrumente wie Differenz­verträge zur Verfügung stellen.

Mehr saubere Energie durch gemeinsame Investitionen

Unternehmen können ihren Beitrag zur Beschleunigung der Transformation leisten. Appelle an die Politik – wie zuletzt ein Brief von über 100 CEOs globaler Unternehmen an die EU-Kommissionspräsidentin – sind wichtig. Sie ersetzen aber nicht eigenes Handeln. Gerade Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen einen hohen CO2-Fußabdruck haben, können sich jetzt aktiv für die Beschleunigung der grünen Energie­erzeugung einsetzen. Damit sichern sie sich den Zugang zu erforderlichem Grünstrom und grünen Gasen und ermöglichen damit die Dekarbonisierung ihrer Prozesse und Produkte. Beispielsweise reicht es nicht, die Antriebstechnologien im Flug- oder Schiffsverkehr umzustellen, wenn nicht ausreichend grüne Gase als Kraftstoff verfügbar sind.

Unternehmen haben die Möglichkeit, direkt zum Aufbau des Energie­systems von morgen beizutragen, indem sie in Konsortien in Produktions­anlagen investieren, zum Beispiel für grünen Wasserstoff oder Biogas. Dazu gehört auch, die Abnahme zu bestimmten Preisen zu sichern. Diese Investitionen sollten mit öffentlichen Förder­instrumenten klug kombiniert werden, um eventuell entstehende Mehrkosten abzufedern. Nur dann, wenn die Abnahme gesichert ist, werden Produktions­anlagen in großem Maßstab investitions­fähig – sprich: Dann rechnen sie sich so, dass private Investor:innen ihren Beitrag leisten können.

Nur das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteur:innen im Gesamtsystem wird die Transformation ermöglichen – und beschleunigen. Konsortien für grüne Energien zwischen Regierungen, der Wirtschaft und Finanz­investoren in Europa können Klimaziele, wirtschaftlichen Wohlstand und Energie­sicherheit sichern. Die aktuelle Situation zeigt uns: Wir haben keine Zeit zu verlieren und sollten alle Möglichkeiten zur Beschleunigung – auch auf Projektebene – nutzen.

Yvonne Ruf
© Roland Berger
David Frans
© Roland Berger Ihr Kollege David Frans teilt sich die Leitung des Geschäfts für Nachhaltigkeit und Klimaschutz mit ihr