Wasserstoff – Element mit Konjunkturwirkung?
Grüner Wasserstoff punktet mit Klimaneutralität und Vielseitigkeit. Wasserstoffexperte Hans Schäfers forscht unter anderem daran, wie die Wasserstoffwende am Standort Deutschland gelingen kann.
Studio ZX: Herr Schäfers, Sie unterteilen die Energiewende in vier Phasen. Welche sind das – und wo stehen wir aktuell?
Hans Schäfers: Die erste Phase beinhaltet den massiven Ausbau von Photovoltaik und Windkraft, die quasi die Grundlage für die Energiewende bilden. Aber weil die Sonne nicht immer scheint und der Wind nicht immer weht, müssen Stromverbräuche neu erfasst und gesteuert werden. Das gelingt am besten mithilfe der Digitalisierung, die deshalb als zweite Phase gilt. In der dritten Phase fangen wir an, regenerativ erzeugten Strom, der nicht sofort verbraucht werden kann oder soll, zu speichern. Batterien sind hier sicherlich die bekannteste Form. Allerdings können sie nur begrenzte Mengen an Strom speichern, brauchen viel Platz und sind in der Herstellung teuer. Genau da kommt Wasserstoff ins Spiel, der in großem Umfang in den bereits bestehenden Gasspeichern unter Tage eingelagert werden kann. Aktuell befinden wir uns am Anfang dieser dritten Phase. Wir erarbeiten Lösungen, die eine großvolumige Speicherung von Wasserstoff ermöglichen. Die Forschung geht davon aus, dass wir bis zum Jahr 2045 jährlich etwa 100 Gigawattstunden Energie in Form von Wasserstoff zwischenspeichern müssen.
Und was kommt nach der dritten Phase?
Phase vier ist eine Ära, in der wir Wasserstoff nicht mehr nur als Langzeitspeicher für Strom begreifen, sondern ihn in großem Umfang auch dafür verwenden, andere Bereiche der Wirtschaft so zu gestalten, dass sie ohne fossile Rohstoffe funktionieren. Dies gilt für große Teile der Industrie, die Wasserstoff für ihre Prozesse benötigen, etwa in der Petrochemie, die Plastik produziert, oder in der chemischen Industrie und natürlich ganz besonders in der Stahlindustrie. Dort wird Wasserstoff vermehrt Kohle oder Gas als Reduktionsmittel in den Hochöfen ersetzen und diesen Prozess damit klimaneutral machen. Diese vierte Phase ist mit Abstand der teuerste Schritt der Energiewende, hat aber auch das größte Potenzial. Der Bedarf an Wasserstoff wird in der Industrie zwei- bis dreimal so groß sein wie die Menge an Wasserstoff, die wir brauchen, um die Stromlücke zu schließen.
In der Stahlindustrie wird Wasserstoff vermehrt Kohle oder Gas als Reduktionsmittel in den Hochöfen ersetzen und diesen Prozess damit klimaneutral machen.
Hans Schäfers ist Professor für intelligente Energiesysteme und Energieeffizienz
Können Sie konkret beziffern, wie teuer der eben skizzierte Umbau des Energiesystems für Deutschland wird?
Das Fraunhofer Institut und die Unternehmensberatung McKinsey haben das unabhängig voneinander durchgerechnet und sind auf relativ ähnliche Ergebnisse gekommen: Rund zwei Billionen Euro müssen bis 2045 investiert werden. Umgerechnet bedeutet das für die nächsten 20 Jahre Kosten von rund 100 Milliarden Euro jährlich für Photovoltaikanlagen, Wärmepumpen, Elektrolysatoren, in denen Wasserstoff hergestellt werden kann, Elektrofahrzeuge und die dafür nötige Infrastruktur. Ich weiß, dass das sehr viel Geld ist, aber ich sehe deutliche Parallelen zur Wiedervereinigung Deutschlands. Diese hat damals eine vergleichbar große Summe Geld gekostet, verteilt über einen ebenfalls vergleichbaren Zeitraum. Dabei hat die Wiedervereinigung sich als gigantisches Konjunkturprogramm erwiesen. Das können wir mit der Energiewende wiederholen.
Ich sehe deutliche Parallelen zur Wiedervereinigung Deutschlands. Sie hat sich als gigantisches Konjunkturprogramm erwiesen. Das können wir mit der Energiewende wiederholen.
Hans Schäfers ist Professor für intelligente Energiesysteme und Energieeffizienz
Gehen Sie davon aus, dass sich der benötigte Wasserstoff in Deutschland produzieren lässt?
Nein. Wir stellen jetzt schmerzlich fest, dass uns hierfür die Kapazitäten fehlen. Der Ausbau erneuerbarer Energien und die Digitalisierung sind in Deutschland lange nicht mutig genug vorangetrieben worden. Auch wenn hier nun eine Kurskorrektur erfolgt, werden wir beim Wasserstoff auf Importe angewiesen bleiben. Anfang April haben Kolleg:innen aus Australien eine bahnbrechende Studie veröffentlicht: Sie rechnen damit, dass sie in wenigen Jahren Wasserstoff für 1,5 US-Dollar pro Kilo produzieren können. Der Preis liegt heute bei über 9 US-Dollar. Wir werden in vielen Teilen der Welt dauerhaft günstigere Produktionsbedingungen für Wasserstoff haben als bei uns in Deutschland. Daher sind sich alle großen Studien zur Zukunft des deutschen Energiesystems einig, dass wir etwa ein Drittel unseres Wasserstoffbedarfs hier erzeugen werden, die anderen zwei Drittel werden wir importieren. Aber auch das kann die heimische Wirtschaft ankurbeln: Als Exporteur von Technologien und Lösungskomponenten können deutsche Unternehmen hier neue Märkte erobern.
Künftig werden wir etwa ein Drittel unseres Wasserstoffbedarfs hier erzeugen und zwei Drittel importieren. Aber auch das kann die heimische Wirtschaft ankurbeln: Als Exporteur von Technologien und Lösungskomponenten können deutsche Unternehmen hier neue Märkte erobern.
Hans Schäfers ist Professor für intelligente Energiesysteme und Energieeffizienz
Das Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz an der HAW Hamburg arbeitet an genau solchen Lösungen. Womit beschäftigen Sie sich im Bereich Wasserstoff?
Das größte Projekt, an dem wir im Bereich Wasserstoff gerade arbeiten, heißt Norddeutsches Reallabor, kurz NRL. Gemeinsam mit 23 Förderpartnern und 27 assoziierten Unternehmen beschäftigen wir uns damit, wie eine funktionierende Wasserstoffinfrastruktur in Norddeutschland aufgestellt werden sollte. Wir arbeiten dabei in Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern und haben so das Glück, Bedingungen vorzufinden, die sich auch auf ganz Deutschland übertragen lassen. Im Norden wird viel Energie erzeugt, die weiter südlich gebraucht wird. Das klappt allerdings nur, wenn das Netz dafür richtig ausgebaut wird und die Knotenpunkte richtig miteinander verknüpft werden. Ganz konkret heißt das in unserem Fall auch, festzustellen, wo beispielsweise sinnvoll große Elektrolyseure stehen müssen. Dann müssen wir überlegen, wohin welche Leitungen führen und wer wann den Wasserstoff braucht. So entsteht eine Blaupause für ein gänzlich neues Versorgungssystem.
Das Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz (CC4E) ist eine wissenschaftliche Einrichtung der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) in Hamburg. Rund 60 Forschende plus knapp 20 Studierende, die ihre Abschlussarbeiten schreiben, experimentieren dort mit Windkraftanlagen, Photovoltaik, Batteriespeichern, Wärmepumpen, Elektrolyseuren, einem Blockheizkraftwerk und einer Anlage, die CO2 wieder aus der Atmosphäre holt und mit Wasserstoff in einer Methanisierungsanlage zu regenerativem Erdgas macht. Auch an der Kohlenstoffabscheidung durch Plasmalyse, E-Fuels aus organischen Reststoffen und Fragen der intelligenten Betriebsweise von Strom- und Wärmenetzen wird am CC4E geforscht.
Welche Folgen hätte so ein neues System für die beteiligten Akteure aus der Wirtschaft?
Eine Wasserstoffwirtschaft, wie die Zukunft sie erfordert, wird für einzelne Unternehmen kollaborativer. Nicht mehr das einzelne Unternehmen, sondern das System steht im Fokus. In einem anderen Reallabor mit dem Titel „Westküste 100“ in Schleswig-Holstein arbeiten beispielsweise gerade ein Zementwerk und eine Raffinerie zusammen. Bei der Zementherstellung wird viel CO2 frei. Was dort ein Abfallprodukt ist, wird in der Raffinerie als Rohstoff für die Kerosinproduktion benötigt. Auch beim Wasserstoff werden neue Wertschöpfungsketten und Geschäftsmodelle entstehen. Dafür muss auch eine Wende in unseren Köpfen stattfinden: Die Energiewende funktioniert nur gemeinsam.
Hans Schäfers ist Professor für intelligente Energiesysteme und Energieeffizienz und stellvertretender Leiter des Competence Center für Erneuerbare Energien und EnergieEffizienz (CC4E). Der Ingenieur ist seit 2019 bei den Scientists for Future engagiert. Der Zusammenschluss von Wissenschaftler:innen setzt sich dafür ein, dass wissenschaftliche Erkenntnisse angemessen in politische Entscheidungen einfließen.