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Wie lässt sich Berufs­­orientierung an Schulen stärken?

09. Februar 2023

Die Zahl der Auszubildenden ist auf einem Tiefpunkt. Woran liegt das? Wie lässt sich Berufs­orientierung stärken?

von Annette Kuhn, Studio ZX

Die Zahl der Auszubildenden ist zwischen 2019 und 2021 deutlich zurück­gegangen, vor allem im Bereich der dualen Ausbildung. Auch für das neue Ausbildungs­jahr ist Entspannung nicht in Sicht. Außerdem gibt es immer mehr Passungs­probleme zwischen Angebot und Erwartungen der Unternehmen und Nachfrage sowie Voraus­setzungen der Bewerbenden. Das Schulportal hat sich angeschaut, woran das liegt, wie das Interesse junger Menschen für eine Ausbildung geweckt und Berufs­orientierung an den Schulen überhaupt gestärkt werden können.

Etwa 750.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die allgemein­bildenden Schulen. Viele von ihnen haben keinen Plan, wie es nach dem Schul­abschluss weitergehen soll. Der Übergang von der Schule in Ausbildung oder Studium ist für viele junge Menschen mit großen Unsicherheiten verbunden, ihnen fehlt häufig der Überblick über die beruflichen Möglichkeiten und eine Entscheidungs­hilfe bei der Berufs­wahl.

Das zeigt eine im Juli 2022 veröffentlichte Befragung im Auftrag der Bertelsmann Stiftung. Unter den 1.666 befragten Jugendlichen zwischen 14 und 20 Jahren bewerten lediglich 37 Prozent die Unterstützung bei ihrer beruflichen Orientierung als ausreichend.

Die Hälfte der Jugendlichen findet sich in den Informationen zur Berufs­wahl nur schwer zurecht. Und viele junge Menschen sind bei der Recherche auch weniger digital unterwegs, als man es vermuten würde. Persönliche Gespräche sind für die meisten Befragten als Informations­quelle besonders wichtig.

Nach wie vor wenden sich die Jugendlichen mit Fragen zur Berufswahl vor allem an ihre Eltern. 73 Prozent sehen in ihnen die wichtigste Unter­stützung bei der Berufswahl. An zweiter Stelle steht mit 55 Prozent die Schule, erst an dritter Stelle folgt das Internet mit 48 Prozent.

Die Umfrage zeigt außerdem, wie sich die Berufs­orientierung infolge der die Pandemie verändert hat. So sagt knapp die Hälfte der Jugendlichen, dass es weniger Informations­veranstaltungen an der Schule gab als vor der Pandemie. Und auch die Gesprächs­möglichkeiten mit Lehr­kräften, mit Fachleuten aus der Berufs­beratung oder mit Ausbilderinnen und Ausbildern sind nach Angaben der Jugendlichen um 37 Prozent zurück­gegangen. Noch gravierender war der Rückgang der Angebote zur Berufs­orientierung außerhalb der Schule. So gab es der Umfrage zufolge 68 Prozent weniger Praktikums­plätze und 69 Prozent weniger Ausbildungs- und Berufs­messen. Gerade das aber sind wichtige Instrumente, um bei Jugendlichen Interesse für eine Berufs­ausbildung zu wecken.

Tiefpunkt auf dem Aus­bildungs­markt

Laut dem aktuellen nationalen Bildungs­bericht hat Deutschland 2021 einen Tiefpunkt bei den Ausbildungs­zahlen erreicht: Zwischen 2019 und 2021 ist die Zahl der Jugendlichen in der beruflichen Ausbildung insgesamt um 7 Prozent zurück­gegangen. Ursache für diese Entwicklung ist allerdings nicht nur die Corona-Pandemie. Eine wichtige Rolle spielen auch einer­seits die demografisch bedingt gesunkene Zahl von Schul­absolventinnen und Schul­absolventen und anderer­seits die lange gestiegene und jetzt auf hohem Niveau verharrende Nachfrage nach Studienplätzen.

Die rückläufige Entwicklung trifft die drei verschiedenen Ausbildungs­sektoren allerdings nicht gleichermaßen. Besonders stark betroffen ist das duale System, das etwa die Hälfte der Plätze in der beruflichen Bildung stellt. Hier ging zwischen 2019 und 2021 die Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung begonnen haben, um mehr als 9 Prozent zurück. Im Schul­berufs­system, das mittlerweile 25 Prozent in der beruflichen Ausbildung ausmacht, waren es dagegen nur 1 Prozent weniger Anfängerinnen und Anfänger. Im Übergangs­sektor, der das verbleibende Viertel in der beruflichen Ausbildung umfasst, gab es ebenfalls weniger Neuzugänge. Besonders stark war der Rückgang in den Stadt­staaten mit minus 14 Prozent.

Ein großes Problem in der beruflichen Ausbildung ist ferner, dass es offenbar immer mehr Passungs­probleme gibt. Auch hier ist besonders die duale Ausbildung betroffen. Zwischen 2019 und 2021 sind die Divergenzen zwischen Angebot und Nachfrage laut dem Bildungs­bericht von 9 auf 12 Prozent gestiegen. Größtes Problem ist, dass die Voraus­setzungen der Bewerberinnen und Bewerber und die Erwartungen der Unternehmen offenbar immer weniger über­einstimmen. Das Phänomen ist nicht neu, hat sich in der Corona-Pandemie aber noch weiter verschärft.

Der Wegfall vieler Möglichkeiten zur Berufs­orientierung in der Corona-Pandemie dürfte sich auch auf den Ausbildungs­markt ausgewirkt haben. Im nationalen Bildungs­bericht 2022 heißt es dazu: „Offenkundig haben die stark eingeschränkten Möglichkeiten der Berufs­orientierung zu Schwierigkeiten bei der Klärung beruflicher Perspektiven geführt.“

Vor allem Jugendliche mit niedrigerem Schul­abschluss brechen Ausbildung ab

Eine weitere Herausforderung im Ausbildungs­system ist, dass mehr als ein Viertel der Jugendlichen die Ausbildung abbricht. Besonders viele Abbrüche gibt es laut Bildungs­bericht in der schulischen Ausbildung. Hier liegt die Quote bei 38 Prozent. Im dualen System sind es 24 Prozent. Und: Je niedriger der Schul­abschluss ist, desto höher ist auch die Abbrecher­quote. Bei jungen Menschen mit maximal erstem Schul­abschluss lag die Abbrecher­quote 2021 im dualen System laut Bildungsbericht bei 33 Prozent, im Schul­berufs­system sogar bei 47 Prozent. Bei Jugendlichen mit (Fach-)Hoch­schul­reife sind es hingegen 19 bzw. 35 Prozent.

Um mehr Jugendliche in die Ausbildung zu bekommen und dort auch zu halten, müsse bei der Berufs­orientierung an Schulen deutlich nach­gebessert werden, fordert die stellvertretende Bundes­vorsitzende des Deutschen Gewerkschafts­bunds (DGB), Elke Hannack: „Berufs­orientierung muss an allen Schul­formen einen festen Platz im Lehrplan bekommen und möglichst früh einsetzen“, sagte sie der Deutschen Presse-Agentur.

Berufsorientierung stärker individualisieren

Auch wenn sich die Länder bereits 2017 in der „Empfehlung zur Beruflichen Orientierung an Schulen“ dafür ausgesprochen haben, berufliche Orientierung curricular zu verankern, sieht auch Susan Seeber, Professorin für Wirtschafts­pädagogik und Personal­entwicklung an der Universität Göttingen und Autorin für das Kapitel zur beruflichen Ausbildung im nationalen Bildungs­bericht, viel Luft nach oben. Im Interview mit dem Schulportal spricht sie sich vor allem für eine individuellere Unterstützung bei der Berufs­orientierung aus: „Ein Instrument muss nicht für alle das richtige sein.“ Außerdem wünscht sie sich bei dem Thema eine intensivere Zusammen­arbeit zwischen allgemein­bildenden und beruflichen Schulen.

Dafür braucht es allerdings auch Personal. Doch gerade Berufs­schulen sind vom Lehrermangel über­proportional betroffen. Die Kultusministerkonferenz (KMK) geht in ihrer Prognose bis zum Jahr 2035 davon aus, dass der Einstellungs­bedarf an den beruflichen Schulen jährlich im Durchschnitt nur zu 62,3 Prozent gedeckt werden kann. Nach KMK-Schätzungen müssten zwischen 2021 und 2035 insgesamt 65.740 Lehrkräfte an den beruflichen Schulen eingestellt werden, um den Bedarf zu decken. Der Bildungs­forscher Klaus Klemm geht in einer eigenen 2022 erstellten Berechnung für den Verband Bildung und Erziehung für diesen Zeitraum sogar von einem Bedarf von 74.374 Lehrerinnen und Lehrern an berufsbildenden Schulen aus.

Die neue Bundesregierung hat in ihrer Koalitionsvereinbarung Ende 2021 betont, die Ausbildung stärken zu wollen. Sie kündigt darin eine Ausbildungsgarantie an, außerdem sollen Akteurinnen und Akteure der Ausbildung stärker zusammen­arbeiten, und es ist auch eine Exzellenz­initiative geplant, um die Modernisierung der Ausbildung voran­zu­bringen.

Für den Bundesverband der Lehrkräfte für Berufsbildung (BvLB) ist das aber nicht genug. Joachim Maiß, Vorsitzender des BvLB, kritisiert, dass der beruflichen Bildung mit nicht mal einer vollen Seite in der 180 Seiten starken Koalitions­vereinbarung zu wenig Gewicht gegeben wird. Vor allem aber fordert er: „Mehr Fortschritt wagen kann man nur, wenn auch die Bedarfe der beruflichen Bildung im Fokus stehen.“ Für ihn gehört dazu eine bessere Ausstattung der beruflichen Schulen – auch im digitalen Bereich.

Koalition plant Ausbildungs­garantie

Außerdem wird kritisiert, dass vieles in der Koalitions­vereinbarung vage bleibt. So ist zum Beispiel nicht weiter beschrieben, wie die Ausbildungs­garantie konkret umgesetzt werden soll. Gelingens­bedingungen einer Ausbildungs­garantie hat, quasi als Ergänzung der Absichts­erklärung der Koalitions­vereinbarung, im Mai 2022 die Bertelsmann Stiftung in dem Impuls­papier „Zehn Gelingensbedingungen einer Ausbildungsgarantie“ beschrieben. Darin wird auch eine stärkere Kooperation zwischen Betrieben, Arbeits­verwaltung und Sozial­partnern gefordert.

Dass eine Ausbildungsgarantie wichtig ist, zeigt, dass es trotz eines leichten Überangebots an Ausbildungs­plätzen nach wie vor vielen jungen Menschen nicht gelingt, einen Ausbildungs­platz zu bekommen und dann auch eine Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Betroffen davon sind vor allem Jugendliche mit einem niedrigen oder gar keinem schulischen Abschluss. 5,9 Prozent der Schul­abgängerinnen und Schul­abgänger hatten laut nationalem Bildungs­bericht im Jahr 2020 keinen Abschluss.

Mehr Netzwerk zwischen Aus­bildungs­betrieben

„Es besorgt mich, dass die Zahl der Schüler ohne Abschluss weiterhin hoch ist und die Integration junger Menschen mit Migrations­hinter­grund in Ausbildung hinter­herhinkt“, sagte Bundes­bildungs­ministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) bei der Vorstellung des Berufsbildungs­berichts 2022.

Einige Bundesländer nehmen daher verstärkt auch diese Gruppe in den Blick. So hat Niedersachen gerade ein 7 Millionen Euro starkes Programm aufgelegt, um sogenannte Ausbildungsverbünde zu fördern, die insbesondere benachteiligte Jugendliche auf ihrem Weg zu einem erfolgreichen Ausbildungs­abschluss unterstützen sollen. Durch entsprechende Netz­werk­aktivitäten sollen zum einen weitere Ausbildungs­betriebe gewonnen werden, um im Verbund zusätzliche Ausbildungs­plätze zu schaffen. Zum anderen sollen während der Ausbildung Maßnahmen wie Sprachförderung und sozial­pädagogische Unter­stützung sicherstellen, dass Auszubildende ihre Ausbildung besser bewältigen.

Mehr digitale Angebote in der Berufs­orientierung

Insgesamt soll die Berufsorientierung an Schulen gestärkt werden. Bundes­arbeits­minister Hubertus Heil (SPD) hat sich zu Beginn des Ausbildungs­jahres 2022 für flächen­deckende Berufs­orientierung an Deutschlands Schulen ab Klasse 5 ausgesprochen. Berufs­orientierung sei ein Schlüssel, so dass die Menschen zu ihnen passende Berufe fänden und dass Deutschland die Potenziale besser ausschöpfe.

In einigen Bundesländern gibt es auch Konzepte, um die Berufsorientierung an Schulen zu stärken. So will Baden-Württemberg die Initiative „BO durchstarten“ zur beruflichen Orientierung weiter ausbauen und hat entsprechende Maßnahmen auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie angepasst. Es soll dabei auch mehr digitale Angebote zur Berufs­orientierung geben – bis hin zu einem virtuellen Praktikum, wenn Praktika vor Ort pandemie­bedingt nicht möglich sind.

In Bayern sollen ab dem Schuljahr 2022/2023 alle Schülerinnen und Schüler der weiter­führenden Schulen einen verpflichtenden „Tag des Handwerks“ absolvieren. Auf diese Weise sollen die Berufs­felder des Handwerks begleitend zum Unterricht praxisnah vorgestellt werden, etwa durch Betriebs­besichtigungen, Projekt­arbeiten in den Betrieben oder die Vorstellung der Ausbildungs­berufe durch Auszubildende. Der Bayerische Philologenverband kritisierte den Vorstoß prompt: Schulen dürften nicht noch mehr mit Sondertagen überfrachtet werden.

Und Mecklenburg-Vorpommern will im Ganztags­angebot der Schulen die Berufs­orientierung stärken. Neben den Handwerks- und Handels­kammern gehören auch die Steuer­berater­kammer sowie das Bildungs­werk der Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern zur „Kooperations­initiative für ganztägiges Lernen“, die im Mai 2022 vorgestellt wurde.

Mehr zum Thema Berufs­orientierung

  • Einen Überblick über Maßnahmen und bundes­weite sowie länder­spezifische Projekte zur Berufs­orientierung gibt es auf der entsprechenden Seite des Bildungsservers.
  • Die Kultusministerkonferenz hat die Regelungen und Maßnahmen zur Berufs­orientierung an Schulen in den einzelnen Bundesländern in einer Dokumentation Dargestellt ist darin auch, wie das Thema in der Lehrer­bildung in den Ländern verankert ist.
  • Die Seite Berufenavi.de des Bundesinstituts für Berufs­bildung und des Bundes­bildungs­ministeriums eignet sich als Einstieg in das Thema und richtet sich direkt an Jugendliche. Sie bietet kompakte verständliche Informationen zu allen Aus­bildungs­berufen. Außerdem können sich Jugendliche nach ihren Interessen Berufs­bilder anzeigen lassen. Für Zugewanderte gibt es Informationen auch auf Englisch, Russisch, Ukrainisch und Französisch.
  • Die App Zeig, was du kannst! bietet Jugendlichen eine Möglichkeit, sich digital auf die Berufswahl vorzubereiten. Schülerinnen und Schüler bekommen einen Überblick über Ausbildungs­berufe, finden Tipps für die schriftliche Bewerbung und das Vorstellungs­gespräch und können Selbst­lern­module nutzen, um sich über eigene Stärken, Kompetenzen und Lernwege bewusst zu werden. Die App ist aus einem Förder­programm des Stiftung der deutschen Wirtschaft hervor­gegangen, das Jugendliche beim Übergang in die Ausbildung oder auf eine weiter­führende Schule nach der Sekundarstufe I begleitet. Die meisten Bereiche der App sind aber auch für Interessierte, die nicht am Programm teilnehmen, frei verfügbar. Die App kann kostenlos herunter­geladen werden, und es gibt auch eine Browser-Version der App.
  • Das „Netzwerk Berufswahl-SIEGEL“ zeichnet jedes Jahr Schulen aus, die sich besonders für die Berufs­orientierung von Jugendlichen engagieren. Dahinter steckt „SCHULEWIRTSCHAFT“, ein Netzwerk der Bundes­vereinigung der Deutschen Arbeit­geber­verbände und des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln. Im Jahr 2000 wurde das Siegel erstmals an 26 Schulen vergeben, 2021 gab es 1.724 „Berufswahl-SIEGEL“-Schulen. Es gibt auch eine SIEGEL-Akademie, in der sich Lehrkräfte entsprechend weiter­bilden und austauschen können.

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Dieser Beitrag erschien zuerst auf dem Deutschen Schulportal.