Wie werden deutsche Lehrerzimmer diverser?
Deutschland ist divers – bis zur Tür des Lehrerzimmers. Das Netzwerk Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW setzt sich für mehr Vielfalt in der Bildung ein.
Studio ZX: Lieber Herr Atasoy, Sie sind seit 2016 Landeskoordinator des Netzwerkes Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW. Sie unterrichten an einer Gesamtschule. Was hat Sie bewogen, dem Netzwerk beizutreten?
Ahmet Atasoy: Als Kleinkind kam ich zusammen mit meiner Mutter aus der Türkei nach Deutschland. Meine eigene Zuwanderungsgeschichte – und die damit verbundenen Erfahrungen – habe ich als Lehrkraft immer als „Plus“ betrachtet.
Ich nahm an der Qualifizierungsmaßnahme „Interkulturelle Koordination in Schulen“ des Netzwerkes teil. In meinem Ausbildungsjahrgang fand ich viele Gleichgesinnte. Auch von der Fortbildung selbst war ich begeistert! Im Vergleich zu staatlichen Maßnahmen herrschte eine harmonische Atmosphäre, und ich fühlte mich verstanden – vielleicht weil ich viele Erfahrungen mit den anderen Teilnehmenden teilte. Nach einem Jahr wusste ich, wie viel Potenzial in diesem Netzwerk steckt.
Ahmet Atasoy ist in der Türkei geboren und kam als Kind mit seiner Mutter nach Deutschland. Wegen seiner Zuwanderungsgeschichte sieht er sich selbst als Lehrkraft „Plus“. Seit 2014 ist er Mitglied des Netzwerkes Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte NRW, dessen Landeskoordinator er seit 2016 ist.
Häufig liegt der Fokus von Schulen auf den Herausforderungen, die etwa eine heterogene Schülerschaft mit sich bringt. Vielfalt kann aber auch eine Chance sein – wo muss ein Umdenken ansetzen?
Diversität an Schulen sollte eigentlich Normalität sein. So weit sind wir aber noch nicht. 2017 war mehr als die Hälfte der neu eingeschulten Kinder in NRW mehrsprachig – Tendenz steigend, besonders in Ballungsgebieten. Themen wie Mehrsprachigkeit, kulturelle und religiöse Vielfalt, Inklusion im engeren Sinne und Diversität müssen im schulischen Kontext fest verankert sein. Wenn Schulen Sprachen, Migrationsgeschichten, Religionen und Lebensweisen nicht ausreichend wertschätzen oder sogar degradieren, müssen wir uns nicht wundern, dass diese Jugendlichen kein Zugehörigkeitsgefühl aufbauen.
Wenn Schulen Sprachen, Migrationsgeschichten, Religionen und Lebensweisen nicht ausreichend wertschätzen oder sogar degradieren, müssen wir uns nicht wundern, dass diese Jugendlichen kein Zugehörigkeitsgefühl aufbauen.
Letzten Endes geht es um eine bestimmte Haltung. Und unsere Beobachtungen sowie Berichte unserer Mitglieder zeigen, dass Schulleitungen Taktgeber für alle schulischen Entwicklungsprozesse sind.
Schätzungen zufolge haben nur etwa fünf Prozent der Lehrenden einen Migrationshintergrund. Woran liegt es, dass sich nur wenige Menschen mit Zuwanderungsgeschichte für den Lehrberuf entscheiden?
Leider gibt es keine konkreten Zahlen zum Anteil der Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte. Wir schätzen den Anteil in NRW auf etwa zehn Prozent. Im Gegensatz dazu haben an einer Duisburger Schule fast 95 Prozent der Schüler:innen eine Migrationsgeschichte. Auch in den Lehrerzimmern muss sich unsere Gesellschaft abbilden. Ich vermute, dass die negativen Erfahrungen, die viele in der Schule gemacht haben, sie vom Lehrberuf abhalten. Eine Studie der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft NRW aus 2016 macht aber Hoffnung: Fast jede:r vierte Lehramtsstudierende in NRW hat eine Migrationsgeschichte.
Zwischen 2016 und 2021 haben wir mithilfe des Ministeriums für Wissenschaft in NRW ein landesweites Mentoring-Projekt entwickelt. Im Rahmen von „Ment4you“ haben wir an fast allen lehrerinnenbildenden Hochschulen kleine Netzwerke von Mentor:innen aufgebaut. Aktuell läuft das Anschlussprojekt „DiversiTeach“, um migrationspädagogische Ansätze wie Mehrsprachigkeit als gewinnbringende Ressource und Rassismuskritik systemisch innerhalb der Lehrkräftebildung zu verankern.
Das ist wichtig, da wir immer wieder erfahren, dass Fach- und Seminarleitenden in diesem Bereich Kompetenzen fehlen. An Hochschulen und im Referendariat erfahren viele angehende Lehrkräfte Diskriminierung und entscheiden sich, die Ausbildung abzubrechen. Ich habe selbst einige von ihnen beraten.
In einer Studie zum Thema „Vielfalt im Lehrerzimmer“ gaben 22 Prozent der befragten Pädagog:innen an, Diskriminierung und Rassismus im Schulalltag erlebt zu haben. Wie lässt sich Rassismus im Bildungswesen bekämpfen?
Wir müssen anerkennen, dass struktureller Rassismus unsere Gesellschaft und damit auch unser Bildungswesen prägt. Es gibt noch zu viele Menschen, die das leugnen. Die Maßnahmen und Forderungen zur Bekämpfung von Rassismus und Diskriminierung im Schulkontext sind eigentlich bekannt. Die Frage ist, ob der politische Wille vorhanden ist, um das Problem ernsthaft anzugehen.
Ich würde mir wünschen, dass mehr konkrete Maßnahmen umgesetzt werden. Rassismuskritische Ansätze gehören in Fort- und Ausbildungen für Lehrkräfte. Auch die Schulleiterqualifizierung sollte um rassismusrelevantes Wissen erweitert werden. Einige Schulbücher müssen auch kritisch analysiert und letztendlich überarbeitet werden. Ich wünsche mir außerhalb der Schulaufsicht unabhängige Stellen, die eine Weisungsbefugnis haben und vermitteln können. Auf Bezirksregierungsebene fehlt außerdem ein:e Beauftragte:r für Antidiskriminierung und Rassismuskritik. Zum Schluss wünsche ich mir mehr Schulleitungen und Menschen in der Schulaufsicht mit Zuwanderungsgeschichte.
Viele Bundesländer haben angekündigt, geflüchtete Lehrkräfte aus der Ukraine möglichst schnell an Schulen einzusetzen. Angesichts des Lehrermangels eine gute Idee – wie kann die Integration von Lehrkräften mit Fluchthintergrund gelingen?
Allein in NRW sind aktuell über 4.300 Stellen unbesetzt. Unser Netzwerk macht Werbung für den Lehrberuf in den Oberstufen. Doch es braucht zehn Jahre, bis diese neue Generation Lehrkräfte im Schuldienst ankommt. Der Seiteneinstieg für geflüchtete Lehrkräfte bietet eine große Chance für das System. Bürokratische Hürden müssen abgebaut werden, und ich hoffe, man hat aus den Erfahrungen mit geflüchteten Lehrkräften aus Syrien 2014/2015 gelernt.
Das Land NRW hat 2016 ein einjähriges universitäres Qualifizierungsprogramm für geflüchtete Lehrkräfte entwickelt. Aktuell bieten fünf Hochschulen dieses Programm an. Deutsch als Unterrichtssprache ist Schwerpunkt dieser Maßnahme . Das zweijährige Anschlussprogramm „Internationale Lehrkräfte Fördern“ bietet den teilnehmenden Lehrkräften mit Fluchthintergrund die Möglichkeit, sich nach erfolgreichem Abschluss auf ausgeschriebene Stellen direkt zu bewerben. Unser Netzwerk berät zum Seiteneinstieg.
Die Erleichterungen für ukrainische Lehrkräfte mit Fluchthintergrund müssen auch für syrische Lehrkräfte mit Fluchthintergrund gelten. Die Anerkennungsverfahren und alles, was dazugehört, müssen vereinheitlicht werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Anschein entsteht, es gäbe zwei Klassen Geflüchteter.