„Das Spektrum wählbarer Parteien hat sich für viele Menschen erweitert“
Demokratie lässt sich empirisch erforschen: Mithilfe von Meinungsumfragen. Wir haben den Wahlforscher Professor Schmitt-Beck gefragt, wie verlässlich die Ergebnisse dieser Umfragen sind – und welche politischen Trends sie ans Licht bringen.
Welche Partei würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre? Diese Frage ist vielen Menschen schon über den Weg gelaufen. Manchmal abends vor dem Fernseher, wenn das Ergebnis des Politbarometers im ZDF veröffentlicht wurde oder vielleicht sogar direkt am Telefon bei der Teilnahme an einer Umfrage. Gerade vor Wahlen und in Zeiten politischen Aufruhrs schauen wir besonders gerne auf die Ergebnisse von Meinungsumfragen. Sie sagen uns, wie Bürger:innen gerade vermeintlich über die politischen Geschehnisse denken – und sie können als Weckruf für Politiker:innen fungieren.
Doch wie viel sagen die Ergebnisse dieser Umfragen wirklich über unsere politische Realität aus? Um das herauszufinden, haben wir mit Professor Rüdiger Schmitt-Beck, einem Experten auf dem Gebiet der Wahlforschung, gesprochen. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Politische Soziologie an der Universität Mannheim und hat langjährige Erfahrung in der politischen Einstellungs- und Verhaltensforschung. Er erklärt uns, wie Wahlforscher:innen mithilfe von Umfragen das Verhalten von Wähler:innen erforschen und welche politischen Trends gerade in Deutschland zu beobachten sind.
Studio ZX: Guten Tag Professor Schmitt-Beck. Sie erforschen in ihrer Arbeit politische Trends und Wahlen. Können Sie also eher als andere vorhersagen, wie eine Wahl ausfallen wird?
Rüdiger Schmitt-Beck: Ich kann nicht voraussagen, wie die Wahl ausgehen wird im Sinne von „Welche Partei kriegt wie viele Prozentpunkte“. Was ich weiß, ist, dass eine besondere Wahrscheinlichkeit existiert, dass das Ergebnis von den üblichen Wahlergebnissen abweicht. Im Augenblick sind wir in einer Krise, wie sie das Land schon lange nicht mehr erlebt hat. Da fangen die Leute an, genauer zu beobachten, stellen ihre Bindungen stärker infrage, sind offen für Neues und entscheiden eher situativ. Es ist also ein höheres Potenzial da, dass die Wähler ganz anders entscheiden als üblich.
Welche Instrumente verwenden Wahlforscher:innnen, um politische Trends zu beobachten?
Das Hauptinstrument ist nach wie vor die sogenannte repräsentative Umfrage – wobei der Ausdruck „repräsentativ“ methodisch gar nicht wirklich definiert ist. Ein verkleinertes Abbild der gesamten Wählerschaft, an dem man 1:1 beobachten kann, wie alle Wähler denken? Das technisch umzusetzen, ist schwierig: von den Stichprobenverfahren, mit denen Umfrageteilnehmerinnen ausgewählt werden bis hin zur Geschwindigkeit, mit der die Umfragen durchgeführt werden.
Im Augenblick sind wir in einer Krise. Da fangen die Leute an, genauer zu beobachten, stellen ihre Bindungen stärker infrage, sind offen für Neues und entscheiden eher situativ. Es ist also ein höheres Potenzial da, dass die Wähler ganz anders entscheiden als üblich.
Rüdiger Schmitt-Beck
Wie zuverlässig sind die Ergebnisse dieser „repräsentativen Umfragen“?
Die Ergebnisse von Umfragen der Wahlforschungsinstitute sind schon recht zuverlässig, aber nicht als rohe Zahlen. Die publizierten Zahlen sind häufig stark verändert gegenüber den direkt gemessenen Zahlen. Wie das gemacht wird, ist Betriebsgeheimnis der Institute. Bis zu einem gewissen Grad wird mit einem errechneten Faktor technisch gewichtet. Darüber hinaus haben die Institute eine Menge Erfahrungswissen und entscheiden demnach, wie sie Zahlen zu bewerten haben, um ein realistischeres Modul herzustellen.
Nur leider fehlt vielen Journalisten der Sachverstand, um diese Umfrageergebnisse kritisch weiterzuverarbeiten. Sehr oft zählt, dass die zu veröffentlichende Zahl knackig und interessant ist. Ob sie etwas abbildet, was in der Realität so gegeben ist, interessiert viele nicht, wenn der Nachrichtenwert der Zahl überwiegt.
Gibt es bestimmte Trends im Verhalten der Wähler:innen, die sie in den letzten Jahren in Deutschland beobachten konnten?
Das Wählerverhalten wird erheblich flexibler und die bindende Wirkung von Parteien hat stark nachgelassen. Denn das Spektrum wählbarer Parteien hat sich für viele Menschen erweitert – man geht raus aus dem Gewohnten. Die traditionelle Logik, nach der zum Beispiel ein Liberal-Konservativer sich immer zwischen Schwarz und Gelb entscheidet, hat sich aufgeweicht. Außerdem sind inzwischen mehr Wähler offen für Parteien, die Systemgegnerschaft verkörpern. Das kann man an der AfD beobachten, die seit spätestens 2015 zu einer rechtspopulistischen Partei mutiert ist. Dass mit Aufkommen der AfD sich immer mehr Wähler:innen der Systemfrage stellen, ist aber neu.
Prof. Dr. Rüdiger Schmitt-Beck ist seit 2008 Inhaber der Professur für Politische Soziologie an der Universität Mannheim. Im Rahmen von Gastprofessuren und Visiting Fellowships lehrte und forschte er auch in der Schweiz, Neuseeland, Australien und Kanada. In seiner Forschung und Lehre konzentriert er sich auf politische Einstellungs- und Verhaltensforschung sowie die Rolle von politischer Kommunikation für Wählerverhalten und politische Kultur.
Nachhaltigkeit gewinnt unter vielen Menschen immer mehr an Bedeutung. Ist das nur ein kurzweiliger Trend oder hat es Potenzial zu einer festen Einstellung?
Ich glaube, dass ein dauerhafter Wandel in den Grundorientierungen stattfindet. Das ist auch eine Leistung von Fridays for Future (FFF), die es geschafft haben, den Klimawandel zu einem „Megathema“ in unserer Gesellschaft zu machen. Die Nachhaltigkeitsdebatte ist eine prägende Erfahrung – gerade für die Generation von FFF, die in einem Alter ist, wo solche Erfahrungen verinnerlicht werden und sich Einstellungen verfestigen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass das nicht die Jugend als komplette Alterskohorte ist, sondern der Teil, der vergleichsweise unbelastet von materiellen Sorgen ist und über ein entsprechendes Bildungsniveau verfügt – Menschen, die sich in einer Lebenssituation befinden, die gut zu solchen Präferenzen passen.
Wenn das politische Publikum darauf trainiert ist, dass Politiker Dinge versprechen und diese Versprechen dann erfüllen, ist Enttäuschung vorprogrammiert. Erst recht in einem politischen System wo Kompromisse und Zwänge eingebaut sind.
Rüdiger Schmitt-Beck
Gerade in Bezug auf die aktuellen Krisen scheint es immer mehr, als würde die Politik eher reagieren, statt zu agieren. Was macht das mit den Wähler:innen?
In dem Kontext finde ich die Theorie über Politikverdrossenheit plausibel: Die besagt, die Politik sei einfach zu komplex und produziere Ergebnisse, die nur schwer zu verstehen sind. Das beste Beispiel dafür ist das Hin und Her im Zusammenhang mit der Gasumlage. Dabei erhält das beobachtende Publikum den Eindruck, dass die Politik nicht weiß, wo sie hin will – und plump gesagt „die Sachen nicht auf Reihe bekommt“. Das ist ungerecht, weil die Sachfragen dahinter komplex sind und so ein Suchprozess nach einer optimalen Lösung samt Fehlerkorrektur eigentlich wünschenswert ist. Doch wenn das politische Publikum gewissermaßen darauf trainiert ist, zu erwarten, dass Politiker Dinge versprechen und diese Versprechen dann 1 zu 1 erfüllen, ist Enttäuschung vorprogrammiert. Erst recht in einem politischen System wie dem unseren, wo Kompromisszwänge eingebaut sind.