Die Energiekrise als Chance nutzen
AnzeigeUm das Pariser Klimaziel von 1,5-Grad noch zu erreichen, müssen wir die Wirtschaft transformieren. Und zwar schneller und engagierter als bisher – auch weil Deutschland und Europa sonst Chancen verpassen. Ein Kommentar.
Ausgedörrte Böden, Brände, Ernteausfälle: Die Auswirkungen der Klimakrise sind in diesem Sommer sichtbar. Neben den für uns alle spürbaren Effekten werden zudem wirtschaftliche Schäden immer deutlicher. In unseren europäischen Nachbarländern mussten Kernkraftwerke wegen Kühlwassermangels abgeschaltet werden. Auch in Deutschland hat Niedrigwasser Schiffstransporte behindert.
Um das Pariser Klimaziel von 1,5-Grad einzuhalten, müssen wir die Treibhausgasemissionen bis 2030 um 43 Prozent im Vergleich zu 2019 reduzieren. Das braucht wesentlich mehr Tempo – und zwar weltweit. Die Länder mit den ambitioniertesten Klimazielen – dazu gehören seit Kurzem auch wieder die USA – senden klare Signale. Jetzt muss es darum gehen, die angekündigten Maßnahmen schnell zu realisieren, um Investitionen weltweit abzusichern.
Die Transformation der Wirtschaft ist gestartet
Bisher haben sich 10 bis 15 Prozent der weltweit größten Unternehmen vorgenommen, ihre Emissionen bis 2030 um rund 50 Prozent zu senken. Das entspricht allerdings nur rund 20 Prozent der Gesamtemissionen und lässt somit eine große Lücke zu den genannten 43 Prozent. Vergleichsweise einfache Maßnahmen wie der Kauf von Grünstrom-Herkunftsnachweisen und die Elektrifizierung von Flotten setzen viele Unternehmen inzwischen um. Nun steht jedoch eine tiefgreifendere Transformation an, die bis in die Geschäftsmodelle, Produktportfolien, Produktionsmuster und Lieferketten reicht. Beispielsweise werden Unternehmen ihre Lieferanten anhalten müssen, ihre Emissionen zu senken, um damit den „importierten Fußabdruck“ der eingekauften Zwischenprodukte und Dienstleistungen zu senken. Das ist bei einer teilweise sechsstelligen Zahl von Zulieferern aus der ganzen Welt kein einfaches Unterfangen. Selbst die ambitioniertesten Unternehmen haben damit gerade erst begonnen.
Hoffnungsträger grüne Energien
Zwar sind Unternehmen grundsätzlich bereit, auf neue Technologien umzusteigen und zu investieren. Doch bei der Umstellung von Produktionsprozessen gibt es vor allem energiebezogene Hürden: So fehlt es der Industrie beispielsweise an grünen Gasen, die zur Erzeugung von Hochtemperaturen und für chemische Prozesse benötigt werden – etwa in der Chemie- und Basismaterialindustrie sowie in Raffinerien.
Der schnelle Aufbau einer sauberen Wasserstoffwirtschaft, ohne die eine Dekarbonisierung der Industrie kaum möglich ist, ist ein Schlüsselfaktor. Um grünen Wasserstoff herzustellen, wird Strom aus erneuerbaren Quellen gebraucht. Begrüßenswert sind daher die Initiativen der Bundesregierung zur Beschleunigung des jahrelang verschleppten Erneuerbaren-Ausbaus sowie die geplanten Fördermaßnahmen rund um den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft – auch wenn sie noch nicht weit genug gehen, um Investitionen zu beschleunigen.
Die aktuelle Energiekrise, die durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurde, erschwert die Situation, weil Energie grundsätzlich und vor allem Gas knapp ist. Die Frage ist nachvollziehbar, ob das Erreichen von Klimazielen nicht aufgeschoben werden sollte. Durch den kurzfristigen vermehrten Einsatz von Kohle als Ersatz für russisches Gas könnte sich eine Verschiebung andeuten. Doch die Energiesicherheit geht mit der Transformation Hand in Hand. Eine Verschiebung der grünen Transformation über eine Phase der jetzt erforderlichen Stabilisierung des Energiesystems für Wirtschaft und Gesellschaft hinaus würde Abhängigkeiten verstärken und dringend notwendige Investitionen in neue Technologien gefährden.
Eine Verschiebung der grünen Transformation würde Abhängigkeiten verstärken und dringend notwendige Investitionen in neue Technologien gefährden.
Yvonne Ruf
Die Preissteigerungen im Zuge der Energiekrise könnten bei der Etablierung von grünem Wasserstoff beschleunigend wirken: Zum ersten Mal kann grüner Wasserstoff genauso günstig erzeugt werden wie grauer, also erdgasbasierter Wasserstoff. Einige Anwendungen sind daher deutlich früher wettbewerbsfähig als angenommen. Ein Potenzial, das es zu nutzen gilt.
Die begonnene Transformation konsequent weiterführen
Für die Regierungen sollte die aktuelle Krise Anlass sein, das Tempo noch weiter zu steigern, auch weil der Standortwettbewerb um die entsprechenden Technologien bereits in vollem Gange ist: Beim Ausbau der erneuerbaren Energien ist China derzeit vorn. Und die USA haben mit dem Inflation Reduction Act (IRA) ein Paket vorgelegt, das ihre Attraktivität als Standort deutlich steigert. Besonders die Subventionen für grünen Wasserstoff dürften erhebliche Investitionen anziehen. Nach Berechnungen von Roland Berger können die durch den IRA subventionierten Wasserstoffgestehungskosten kurzfristig unter 2 US-Dollar pro Kilogramm fallen – derzeit die niedrigsten Kosten weltweit.
Ohne ein attraktives Umfeld für neue, grüne Technologien riskieren Deutschland und Europa, den Anschluss zu verlieren.
David Frans
Ohne ein vergleichbares attraktives Umfeld für Wasserstoffprojekte, aber auch sämtliche andere Dekarbonisierungstechnologien riskieren Deutschland und Europa, den Anschluss zu verlieren. Zwar ist Europa mit rund 160 Megawatt installierter Elektrolyseleistung zurzeit noch führend in dieser Technologie, aber andere Regionen könnten schnell nachziehen. Und auch Deutschland ist mit 65 Megawatt noch weit von dem von der Bundesregierung ausgerufenen Zehn-Gigawatt-Ziel bis 2030 entfernt. Um die Entwicklung von Innovationen bis zur Marktreife zu fördern, sollten die Regierungen Investitionen direkt und unbürokratisch subventionieren, Risiken absichern und Instrumente wie Differenzverträge zur Verfügung stellen.
Mehr saubere Energie durch gemeinsame Investitionen
Unternehmen können ihren Beitrag zur Beschleunigung der Transformation leisten. Appelle an die Politik – wie zuletzt ein Brief von über 100 CEOs globaler Unternehmen an die EU-Kommissionspräsidentin – sind wichtig. Sie ersetzen aber nicht eigenes Handeln. Gerade Unternehmen, deren Produkte und Dienstleistungen einen hohen CO2-Fußabdruck haben, können sich jetzt aktiv für die Beschleunigung der grünen Energieerzeugung einsetzen. Damit sichern sie sich den Zugang zu erforderlichem Grünstrom und grünen Gasen und ermöglichen damit die Dekarbonisierung ihrer Prozesse und Produkte. Beispielsweise reicht es nicht, die Antriebstechnologien im Flug- oder Schiffsverkehr umzustellen, wenn nicht ausreichend grüne Gase als Kraftstoff verfügbar sind.
Unternehmen haben die Möglichkeit, direkt zum Aufbau des Energiesystems von morgen beizutragen, indem sie in Konsortien in Produktionsanlagen investieren, zum Beispiel für grünen Wasserstoff oder Biogas. Dazu gehört auch, die Abnahme zu bestimmten Preisen zu sichern. Diese Investitionen sollten mit öffentlichen Förderinstrumenten klug kombiniert werden, um eventuell entstehende Mehrkosten abzufedern. Nur dann, wenn die Abnahme gesichert ist, werden Produktionsanlagen in großem Maßstab investitionsfähig – sprich: Dann rechnen sie sich so, dass private Investor:innen ihren Beitrag leisten können.
Nur das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteur:innen im Gesamtsystem wird die Transformation ermöglichen – und beschleunigen. Konsortien für grüne Energien zwischen Regierungen, der Wirtschaft und Finanzinvestoren in Europa können Klimaziele, wirtschaftlichen Wohlstand und Energiesicherheit sichern. Die aktuelle Situation zeigt uns: Wir haben keine Zeit zu verlieren und sollten alle Möglichkeiten zur Beschleunigung – auch auf Projektebene – nutzen.