ZEIT für X

Energiekrise als Chance? – „Die Wirtschaft muss flexibler werden“

27. Oktober 2022
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Ein Artikel von Studio ZX in Kooperation mit Roland Berger

Die aktuelle Energiekrise droht zum Dauerzustand zu werden, wenn Wirtschaft und Politik nicht zügig reagieren. Wir haben mit den Unternehmensberatern Stefan Schaible und Torsten Henzelmann über nötige Schritte gesprochen.

Studio ZX: Herr Schaible, Sie gehören zu den Autor:innen von „Klimaneutral bis 2045: Wie gelingt Deutschland die Transformation“. Darin setzen Sie sich mit Deutschlands Ziel auseinander, bis 2045 klimaneutral zu sein. Durch die aktuelle Energiekrise bekommt klimaneutrales Wirtschaften eine neue, zusätzliche Dringlichkeit: Wir müssen uns von fossilen Energieträgern lösen, um unabhängiger zu werden – und zwar schnell. Welche Schritte müssen Wirtschaft und Politik jetzt gehen?

Stefan Schaible: Kurzfristig sind wir in einem Schockzustand, was die Energiepreise angeht. Und deshalb geht es zunächst darum, mit kurzfristigen Präventionsmaßnahmen sicherzustellen, dass die Menschen über den Winter kommen und dass wir unsere Industrie absichern.

Längerfristig müssen wir auf erneuerbare Energien setzen. In diesem Zuge sollte das Angebot, was zum Beispiel an Windrädern oder Turbinen geliefert werden kann, mit der Nachfrage synchronisiert werden. Aber hierbei müssen wir unbedingt darauf achten, nicht in eine neue geopolitische Abhängigkeit zu geraten, auch bezüglich der Rohstoffe und Lieferketten bei den Erneuerbaren. Also: kurzfristiges Krisenmanagement, dann massiv beschleunigen, was den Ausbau der Erneuerbaren angeht.

Der Ausbau von erneuerbaren Energien ist unabdingbar.

Torsten Henzelmann, Managing Director, Zentraleuropa, Roland Berger

Studio ZX: Nun sind diese Forderungen ja nicht neu. Hat es ein Versäumnis seitens der Wirtschaft gegeben?

Torsten Henzelmann: Wenn wir über erneuerbare Energien reden, haben wir das Problem zurzeit nicht im Bereich der Stromerzeugung – hier gibt es mittlerweile ja einen Anteil von etwa 50 Prozent im Strommix –, sondern in Bezug auf Gas und Wärme. Wir sind aus der Nuklearenergie ausgestiegen, haben Braunkohle und Steinkohle in einen Ausstiegsplan gegossen, und Erdgas ist die Brückentechnologie. Dieses Konstrukt muss jetzt neu überdacht werden. Grundsätzlich würde ich sagen, dass viele Unternehmen sich bereits konsequent transformiert haben. Es gibt aber auch einige, die das Thema Nachhaltigkeit ein Stück weit auf die lange Bank geschoben haben.

Dr. Torsten Henzelmann
© Andreas Reeg

Torsten Henzelmann ist Managing Director für Zentraleuropa und verantwortlich für die globale Plattform „Regulated & Infrastructure“ bei Roland Berger.

Stefan Schaible
© Gaby Gerster

Stefan Schaible ist Global Managing Partner bei Roland Berger und gemeinsam mit zwei weiteren Kollegen für das weltweite Geschäft verantwortlich.

Studio ZX: Herr Henzelmann, Sie beraten internationale Unternehmen im Energiebereich. Gibt es dort Lehren, die die deutsche Wirtschaft im internationalen Vergleich ziehen könnte?

Henzelmann: In Deutschland haben wir im Gegensatz zu unseren Nachbarländern eine große Anzahl von kleinen und mittleren Energieversorgern. Dies führt dazu, dass bundeseinheitliche energiepolitische Umsetzungen viel länger dauern als in einigen anderen Ländern. Industrieunternehmen brauchen Planungssicherheit. Und eine mittel- bis langfristige Perspektive ist dabei unabdingbar – gerade in diesen Zeiten, in denen potenzielle Abschaltungen und hohe Energiepreise die Produktion infrage stellen.

Ich würde heute in nichts investieren, wenn ich nicht weiß, ob und wann es sich bezahlt macht. Entsprechend kommt es nun darauf an, dass die Unternehmen wieder einen Blick für die energiepolitischen Entwicklungen bekommen. Der Ausbau von erneuerbaren Energien ist unabdingbar, und zugleich gilt es, in den Aufbau und die Beschaffung von Wasserstoff und Derivaten zu investieren. Insbesondere Wasserstoff ist eine indirekte Elektrifizierung, die beispielsweise für den Luftverkehr oder die chemische Industrie und deren Dekarbonisierung erforderlich ist.

Die Auftragsbücher sind voll. Deshalb ist man eigentlich verdammt zur Innovation. Das muss von politischer Seite begleitet werden.

Stefan Schaible, Global Managing Partner, Roland Berger

Studio ZX: 2023 wird mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,4 Prozent gerechnet. Die Zeichen stehen eindeutig auf Rezession. Was muss mittelfristig geschehen, um die Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland sicherzustellen?

Schaible: Gerade im produzierenden Bereich haben viele deutsche Unternehmen in den letzten Jahren Rücklagen geschaffen. Die Auftragsbücher sind voll. Deshalb ist man eigentlich verdammt zur Innovation. Das muss von politischer Seite begleitet werden, mit Sicherheiten für die energieintensiven Industrien wie Stahl, Chemie und Baustoffe. Hier brauchen wir auch eine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Wenn man das alles miteinander synchronisiert, kann das auch Wettbewerbsvorteile für die deutsche Wirtschaft schaffen.

Deutschland steht mit bei Nachfrage nach erneuerbaren Energietechnologien im Wettbewerb mit anderen Ländern.

Torsten Henzelmann

Studio ZX: Welches Umdenken muss langfristig stattfinden? Und wie bleibt man bei allen Vorteilen einer langfristigen Planung auch flexibel bei unerwarteten Entwicklungen?

Schaible: Die Wirtschaft muss flexibler reagieren können, weil die Märkte zunehmend von Unsicherheit gekennzeichnet sind. Ein Unternehmen muss Resilienz an den Tag legen, dann lässt sich damit umgehen. Das erfordert eine Unternehmensplanung, die stärker in Szenarien denkt und ein Ende des „Auf-Distanz-Gehens“ mit der Politik. Man sieht das an der Art und Weise, wie Gewerkschaften und Industrieverbände sich mittlerweile positionieren, und dass eine viel stärkere Interaktion mit der Politik notwendig ist, die den Rahmen sicherstellen muss. Niemand kann mehr etwas allein machen, die Märkte sind nicht gesichert.

Henzelmann: Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass die Produktion von erneuerbaren Energietechnologien vervielfacht werden muss, und zwar weltweit. Oder anders gesagt: Die bisherigen Produktionskapazitäten reichen definitiv nicht. Deutschland steht mit bei Nachfrage nach diesen Technologien im Wettbewerb mit anderen Ländern. Wir brauchen hier eine weitsichtige Planung. Und wir werden uns auch zu einer zukünftigen Abnahme verpflichten oder Sicherheiten für eine Abnahme gegenüber Lieferanten geben müssen. Ansonsten werden dies andere Länder tun, und der Markt verknappt sich weiter. Zwischenzeitlich werden wir unpopuläre Entscheidungen treffen müssen wie Laufzeitverlängerungen von Atomkraftwerken, erhöhte Kohleverstromung oder längerfristige Lieferverträge mit neuen Gaslieferanten. Wenn wir diese Perspektiven versäumen, haben wir im Wettbewerb verloren.

Eine interessengeleitete, realistische Energieaußenpolitik wird auch Teil der Zukunft sein müssen, um in dieser Welt bestehen zu können.

Stefan Schaible

Schaible: Wenn man das vermeiden möchte, braucht man eine klare Industriepolitik. Das heißt, wir müssen Produktionskapazitäten in Europa sichern. Es kann nicht sein, dass wir niedrige einstellige Prozentsätze bei der Produktion von Solarpanels in Europa haben. Da muss man cleverer vorgehen als bei der ersten deutschen Solarindustrie, die so hochsubventioniert war, dass sie eingegangen ist. Es wird internationale Kooperationen geben müssen, denn andere Länder haben mehr Wind und Sonne. Aber dann werden wir wieder an den Punkt kommen, dass man sich nicht alle Partner aussuchen kann, sondern Kompromisse braucht. Eine interessengeleitete, realistische Energieaußenpolitik wird auch Teil der Zukunft sein müssen, um in dieser Welt bestehen zu können. Und davon sind wir in Europa noch ein bisschen entfernt.