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Wuppertaler Schwebebahn

Moment mal, Wuppertal?

05. September 2023
ZEIT Redaktion

Ein Netzwerk von Unternehmern will die Industriestadt am Rand des Ruhrgebiets zum Zentrum für zirkuläres Wirtschaften umbauen. Die Erwartungen sind groß

von Leon Igel

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2023“. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Man könnte Carsten Gerhardt für ein bisschen größenwahnsinnig halten, wenn er von seiner Vision erzählt und wie er sie zum Leben erwecken will. Gerhardt skizziert die Zukunft in einem schmucklosen Büro in Wuppertal, das mit dem ausgetretenen Teppich eher nach Vergangenheit aussieht. Aber die Stadt hofft auf den 54-Jährigen.

Gerhardt will seine Heimatstadt und die Rhein-Ruhr-Region zu einem Zentrum für Kreislaufwirtschaft ausbauen. Wenn irgendjemand auf der Welt ein Produkt oder eine Expertin für diese neue Idee des Wirtschaftens sucht, soll er künftig an Wuppertal nicht mehr vorbeikommen. Alle sollen vom „Circular Valley“ sprechen, angelehnt an das kalifornische Silicon Valley.

Moment mal. Apple, Google und die anderen Techfirmen aus der Region bei San Francisco haben die Ökonomie revolutioniert. Jetzt soll die nächste Industrie-Revolution aus Wuppertal kommen. Wuppertal?

Carsten Gerhardt will in Wuppertal viel bewegen. Hier steht er auf einer alten Bahntrasse, die dank seiner Initiative zum Radweg wurde.
© Bettina Osswald Carsten Gerhardt will in Wuppertal viel bewegen. Hier steht er auf einer alten Bahntrasse, die dank seiner Initiative zum Radweg wurde.

Die Stadt im Bergischen Land besaß früher Strahlkraft über die Grenzen der Republik hinaus. Im 19. Jahrhundert trieb die Wupper Textilmühlen und Hammerwerke an, der Bayer-Konzern hat hier seine Wurzeln. Die Eröffnung der Schwebebahn 1901 verkörperte den Fortschritt, man sprach bewundernd vom „deutschen Manchester“.

Bis heute sitzen hier weltweit tätige Unternehmen wie der Kabelhersteller Coroplast oder der Staubsaugerhersteller Vorwerk. Aber die Arbeitslosenquote lag zuletzt bei 9,7 Prozent und damit deutlich über dem Landesschnitt, dasselbe gilt für die Pro-Kopf-Verschuldung. Der alte Glanz verblasst. Und dass so schnell eine neue Glanzzeit anbricht, könnte man bezweifeln.

Gerhardt aber ist optimistisch: Immer noch dominiert in der Rhein-Ruhr-Region das produzierende Gewerbe. Hunderte Unternehmen sitzen hier. „Wir können Industrie. Konnten sie immer schon!“, sagt er. Und das solle so bleiben. Wenn Fabriken schließen, verliere die Region schließlich neben Arbeitsplätzen auch ihre Identität.

Damit das nicht passiert, müssten die Firmen nachhaltiger agieren. Deutschland will bis 2045 klimaneutral sein, um zur globalen Klimawende beizutragen. Das verändert die Wirtschaftswelt rasant und eröffnet Chancen. Hier setzt die zirkuläre Ökonomie an. Die Idee: Wenn es gelingt, alle Rohstoffe und Güter in einem ewigen Kreislauf zu halten, fällt kein Müll mehr an. Ob Gartenzwerg oder Plastiktüte, jedes Produkt würde zum Wertstoff, dem neues Leben eingehaucht würde. Es müssten kaum neue fossile Ressourcen verbraucht werden, es gäbe weniger klimaschädliche Gase. Das Resultat wäre eine grüne Wirtschaftswelt ohne Wohlstandsverluste.

Luftaufnahme Wuppertal
© Christian Reimann Wuppertal von oben. Die Stadt galt im 19. Jahrhundert als „deutsches Manchester“. Nun hoffen die Menschen hier auf einen zweiten großen Wirtschaftsboom.

Das Circular Valley

In Reinform ist das eine Utopie. Aber der Weg dorthin lohnt sich. Aktuell werden weltweit gigantische Mengen an Müll produziert. Statistisch gesehen wirft jeder Deutsche mehr als 600 Kilogramm Abfall pro Jahr weg, 40 Kilo davon sind Plastikverpackungen. Obwohl sich Deutschland als Recycling-Nation versteht, verbrannte es 2021 mehr als die Hälfte der Kunststoffabfälle. Nicht alles, aber ein Teil davon ließe sich recyceln.

Damit die Quote steigt, sind neue Technologien nötig, wissenschaftliche Erkenntnisse und Strukturen. Und auch wirtschaftliche Anreize. All das soll im Circular Valley entstehen, weil dort Unternehmer auf Wissenschaftler treffen und Start-up-Gründer mit Politikern sprechen. Ein Ökosystem, das, einmal gedüngt und gegossen, aus sich selbst heraus wächst. „Wir stellen den Kontakt her“, sagt Gerhardt, „den Rest machen die Akteure.“

An einem Freitag im November ist die Historische Stadthalle von Wuppertal gut gefüllt. Der majestätische Bau von 1900 steht mit dem Stuck und den Deckengemälden für Wuppertals Geschichte. Heute aber geht es um die Zukunft. Rund 600 Unternehmerinnen, Wissenschaftler und Politikerinnen sind angereist, um nach Lösungen für die Kreislaufwirtschaft zu suchen.

Auf der Bühne steht eine Frau, die darin eine Chance für Nordrhein-Westfalen sieht. Die vorher auf einer „Circular-Economy-Tour“ Unternehmen abgeklappert hat. Und die von der Wirtschaft geschätzt wird, obwohl sie eine Grüne ist: Mona Neubaur, seit 2022 Ministerin für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie und stellvertretende Ministerpräsidentin in NRW.

Neubaur spricht jetzt über den Krieg Russlands gegen die Ukraine, die Despoten dieser Welt, die Herausforderungen. Wenn es da gelinge, die Kreislaufwirtschaft aus „der Anmutung von Räucherstäbchen“ zu holen und zum Vorreiter in der Kreislaufindustrie zu werden, schaffe man sichere Arbeitsplätze und eine resiliente Wirtschaft. Das sei eine „wahnsinnige Chance“.

Dann erzählt Neubaur von einer Gründerin aus Kenia, die aus Ananasfasern künftig Hygieneartikel für Frauen herstellen wolle und dank des Circular Valley mit einem deutschen Unternehmen in Verbindung gekommen sei, das die passende Maschine bauen könne. Das sei „doch nicht zu fassen“!

Fragt man später nach Details, rudert eine Sprecherin zurück. Die Kooperation sei „noch nicht ganz so spruchreif, wie es anklang“. Das ist symptomatisch für das Projekt: Das Circular Valley ist bloß eine Idee, noch hat sich in der Rhein-Ruhr-Region kein Cluster für Kreislaufwirtschaft herausgebildet. Wie soll das gelingen?

Die Bildung eines Netzwerks, das von Wuppertal aus in die Welt strahlt

Die Wirtschaftsministerin Neubaur liefert keine Antwort, auch die Unternehmer wissen es nicht. Carsten Gerhardt, der Privatmann, soll mal machen. Und der macht es: ehrenamtlich.

Mehr als acht Millionen Euro hat Gerhardt bei der öffentlichen Hand und Unternehmen eingeworben. 14 Menschen arbeiten mittlerweile für das Circular Valley, die Hälfte in Vollzeit. Gerhardt bedient sich eines Verfahrens aus der Wirtschaftswelt: des Start-up-Accelerators. Der bildet den Kern des Projekts. Zweimal im Jahr lädt Gerhardt grüne Start-ups aus der ganzen Welt nach Wuppertal ein. Die sitzen dann im alten Staubsauger-Testlabor, treffen sich in Workshops und vernetzen sich – untereinander und mit den Unternehmen aus der Region. So soll ein Netzwerk entstehen, das von Wuppertal aus in die Welt strahlt, damit sich Firmen aus der zirkulären Ökonomie ansiedeln. Weil dort das Know-how und die Marktführer der Kreislaufwirtschaft sitzen.

So weit die Theorie.

Praktisch läuft das Projekt erst seit zwei Jahren. Bisher haben 75 Start-ups bei dem dreimonatigen Accelerator mitgemacht. Den Strukturwandel hat das noch nicht bewirkt. Von den Start-ups wollen sich laut Gerhardt bisher gerade einmal acht bis neun dauerhaft ansiedeln. Drei Start-ups stammen sowieso aus der Region.

Eines von ihnen ist Plastic Fischer aus Köln, gegründet von drei Freunden. Sie beschäftigen etwa 70 Mitarbeiter in Asien, wo sie an verschiedenen Orten verzinkte Gitter in Flüsse hinablassen. Dort verfangen sich große Plastikteile, bevor sie im Meer landen und Fische töten könnten. Dieses Plastik sammelt das Start-up. Was sich recyceln lässt, wird recycelt. Das meiste kann nur noch verbrannt werden, um Energie zu gewinnen. Denn Plastik lässt sich nicht immer wiederverwerten. Hängen verschiedene Kunststoffe aneinander, wird es schwierig.

Aber was hat das mit dem Wuppertaler Circular Valley zu tun? Ganz einfach: In Wuppertal entsteht ein kleiner Teil des Mülls, den Plastic Fischer aus den Flüssen in Asien fischt. Etwa bei Knipex. Das ist einer jener Werkzeughersteller, für die Wuppertal seit der Industriellen Revolution bekannt ist. Er produziert seit 140 Jahren Zangen; in einem Museum auf dem Werksgelände kann man Lockenbrennzangen aus dem 20. Jahrhundert besichtigen oder Kugelzangen aus dem 19. Jahrhundert. Knipex erzielt 60 Prozent des Jahresumsatzes von mehr als 200 Millionen Euro im Ausland und hat dort ein gutes Image.

Auch deswegen will das Unternehmen nachhaltiger wirtschaften. Es hat als erstes von 35 Unternehmen das Plastik-Start-up Plastic Fischer unterstützt. Kennengelernt haben sich die Firmen über das Netzwerk des Circular Valley. 40 Tonnen Plastik hat der Zangenhersteller dem Start-up schon „abgekauft“. Was nicht bedeutet, dass Knipex das recycelte Plastik aus Asien erhält, sondern dass es dessen Wiederverwertung finanziert. Die Menge entspricht ungefähr der Menge Plastik, die Knipex in den vergangenen 15 Monaten als Verpackung für seine Zangen nach Asien verschickt hat.

Sicher: Eine echte Kreislaufwirtschaft entsteht so nicht. Trotzdem ist Ralf Putsch vom Projekt überzeugt. Der 66-Jährige leitet Knipex in vierter Generation. Dank des Circular Valley würden er und andere Unternehmer sich über Kreislaufwirtschaft mehr Gedanken machen und neue Strategien entwickeln, sagt er. „Als Unternehmen wollen wir ganzheitlich etwas Sinnvolles tun. Und wer das will, muss die natürlichen Lebensgrundlagen schonen.“

Altes Plastik in sein Ursprungsprodukt zurückführen

Deswegen grasen auf dem Betriebsgelände heute Schafe, und es gibt Äpfel von der eigenen Streuobstwiese für die 1600 Beschäftigten. Das Unternehmen hat ausgerechnet, dass es 2021 rund 21.700 Tonnen Treibhausgase emittierte – alle Zulieferungen eingerechnet. Bis 2030 will das Unternehmen diesen Ausstoß um etwa 50 Prozent senken. Die Schmiedeanlagen versorgen mit ihrer Abwärme jetzt das Heizungssystem. Die Formen, aus denen Werkzeuge gestanzt werden, wurden optimiert, damit weniger Metallreste anfallen. Die Reste werden eingeschmolzen und wiederverwendet. Das ist wirtschaftlicher und nachhaltiger. Für seinen Einsatz hat das Unternehmen 2018 den Deutschen Nachhaltigkeitspreis gewonnen.

Die „low hanging fruits“, das, was einfach ist am Umweltschutz, hat die Firma also schon geerntet. Jetzt wird es schwieriger, etwa bei den Plastikgriffen der Zangen. Sie sind nicht nur Zierde, sie schützen die Handwerker – etwa vor Stromschlägen. Deswegen sind die Zangen so hergestellt, dass sich das Plastik keinesfalls vom Metall löst. Wie soll man beide Stoffe trennen? Und was könnte man mit dem abgenutzten Plastik anfangen?

12%

beträgt in Deutschland der Anteil der Abfälle an allen Rohstoffen, die genutzt werden. Damit liegt die Bundesrepublik bei diesem wichtigen Indikator der Kreislaufwirtschaft hinter Ländern wie den Niederlanden, Frankreich und Italien auf Rang 6 in der EU. Zudem war der Anteil zuletzt leicht rückläufig. (Quelle: Eurostat)

Doch womöglich wächst im Valley rund um Wuppertal schon die Lösung für dieses Problem von Knipex heran. Knapp 13 Kilometer östlich, das Morsbachtal hinauf nach Remscheid, bei Christian Haupts: Der Unternehmer leitet das Unternehmen Carboliq, das den „Kunststoffkreislauf schließen“ will. Konkret bedeutet das: Haupts hat eine Anlage entwickelt, die altes Plastik in sein Ursprungsprodukt zurückführt – Öl.

Dafür rührt Haupts die alten Kunststoffe in heißes Öl, wodurch diese wieder flüssig werden. Das verwendete Plastik müsse nicht sortenrein sein, und hinterher könne man aus dem Öl herstellen, was man wolle – genauso Kraftstoff wie Verpackungsmaterial.

Haupts ist ein Kaufmann, der mit Fachbegriffen jongliert und seine Technologie im Stil der Sendung mit der Maus erklärt. Was der 55-Jährige nicht so gut kann, ist Marketing. Also hat er beim Accelerator von Gerhardt mitgemacht, damit sich sein Verfahren des chemischen Recyclings durchsetzt. „Wo ich vorher nur ein Mittelständler war, bin ich jetzt Teil des Circular Valley“, sagt Haupts. Das öffne Türen. Bisher produziert Carboliq mit einer Anlage rund 1000 Tonnen Recycling-Öl pro Jahr, genug für etwa 800 Tonnen Kunststoff. 2025 soll eine zweite Anlage mit zehnfacher Leistung in Betrieb gehen. Das Plastik dafür stammt aus der Region.

Beim Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie beobachtet man Projekte wie dieses mit Neugierde, ein echtes Ökosystem sei noch nicht entstanden, heißt es. Es fehle auch an Wagniskapital, damit sich mehr innovative Firmen ansiedeln, die mit den Abfällen der Region etwas anfangen können.

Immerhin hat Gerhardt schon mal bewiesen, dass er Menschen und Firmen zusammenbringen kann. 2006 gründete er einen Verein, mit dem er eine stillgelegte Bahntrasse quer durch Wuppertal zur Spaziermeile machte. Hunderte Bürger führte er damals über die verwilderten Schienen und begeisterte die Wuppertaler für seine Idee – die Stadtpolitik musste folgen. Der grüne Weg führt in Viadukten über die Dächer Wuppertals. Früher hielten die Lokomotiven den Standort am Leben, heute steht die Strecke für den Stolz der Bürger auf ihre Stadt. Und damit ist viel zu erreichen.