ZEIT für X
Marie-Christine Ostermann

„Angst habe ich in der Regel nie“

10. Oktober 2023
ZEIT Redaktion

Marie-Christine Ostermann leitet in Hamm den Großhandel Rullko und in Berlin den Verband der Familienunternehmer. Als Lobbyistin wählt sie oft scharfe Worte. Ein Gespräch über ihre Rolle, ihren Antrieb und einen sehr persönlichen Kampf

von Jens Tönnesmann, Redakteur im Wirtschaftsressort, DIE ZEIT, verantwortlicher Redakteur, ZEIT für Unternehmer

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2023“. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

ZEIT für Unternehmer: Frau Ostermann, seit April sind Sie Präsidentin des Verbands der Familienunternehmer und melden sich lautstark zu Wort. Finden Sie in der gegenwärtigen Krise noch Zeit, sich um Ihr eigenes Unternehmen zu kümmern?

Marie-Christine Ostermann: Es sind schwierige Zeiten, in denen viele richtungsweisende Entscheidungen anstehen, deswegen bin ich sicher die Hälfte meiner Arbeitszeit für den Verband tätig. Mir hilft sehr, dass es bei Rullko einen Betriebsleiter gibt, der die Firma ausgezeichnet managt, wenn ich in Berlin bin.

Und wenn Sie in Hamm sind: Fühlt sich das dann wie Erholung an?

Ich bin sehr gerne hier in Hamm, erlebe aber auch die großen Probleme der Wirtschaft im Kleinen. Besonders die Bürokratie. Im Moment müssen wir uns zum Beispiel alle drei Monate um Ausnahmegenehmigungen für unsere Lkw kümmern, damit die durch Lüdenscheid fahren dürfen, weil die dortige Autobahnbrücke abgerissen wurde und der Neubau nicht rechtzeitig begonnen hat. Ein Desaster. Davon abgesehen, werden uns immer neue Vorschriften auferlegt, während nicht im selben Ausmaß alte Vorschriften abgeschafft werden.

6000

Mitglieder zählt die Vereinigung der Familienunternehmer. Im April wählten sie Ostermann zur ersten Präsidentin in der 74-jährigen Verbandsgeschichte.

Was meinen Sie konkret?

Nehmen Sie das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das uns als Lebensmittelgroßhändler sehr beschäftigt. Wir haben mehr als 20.000 Artikel im Sortiment, von Hunderten Lieferanten aus aller Welt. Wie sollen wir als Mittelständler sicherstellen, dass die alle Umwelt- und Sozialstandards einhalten? Ich kann da ja nicht jeden Tag selbst vorbeischauen.

Mussten Sie deswegen schon Artikel aus dem Sortiment nehmen?

Wir sind Teil eines Einkaufsverbunds. Dessen Servicegesellschaft kümmert sich darum, dass wir nur bei Lieferanten einkaufen, die die Standards einhalten.

Dann spüren Sie die damit verbundene Bürokratie doch gar nicht selbst.

Aber wir bezahlen etwa 70.000 Euro an den Dienstleister. Pro Jahr!

Marie-Christine Ostermann
© Marina Rosa Weigl für ZEIT für Unternehmer

Wir Unternehmer müssen lauter werden, damit Deutschland wieder auf einen Wachstumskurs zurückfindet.

Marie-Christine Ostermann, 45

Das ist weniger als ein Promille Ihres Umsatzes von über 80 Millionen Euro. Sind saubere Lieferketten das nicht wert?

Auch wir wollen nicht, dass Menschen ausgebeutet werden. Aber es ginge viel unbürokratischer, wenn nicht jedes Unternehmen jeden Lieferanten kontrollieren müsste, sondern sich jeder Lieferant einmal für alle seine Kunden bei der EU zertifizieren lassen müsste. Und Sie dürfen nicht vergessen: Der bürokratische Aufwand läppert sich.

Wo spüren Sie ihn noch?

Wenn wir Fachkräfte aus dem Ausland anwerben wollen, die wir dringend brauchen. Wenn der Zoll vorbeikommt und die Mindestlohndokumentation kontrolliert, wird man behandelt wie ein Schwerverbrecher. Und auch sehr lange Genehmigungsverfahren für den Bau neuer Anlagen bremsen den Mittelstand aus …

… weil sie vorsehen, dass Anwohner angehört werden und Einsprüche von Naturschützern verhandelt werden. Meinen Sie manchmal eigentlich die Demokratie, wenn Sie die Bürokratie beklagen?

1 Mio. Euro Jahresumsatz und zehn Mitarbeiter sind Voraussetzung, um Mitglied in dem Verband werden zu können.

Es ist richtig, wenn Entscheidungen hier länger dauern, weil man alle Interessenabwägt. Ich bin froh, nicht in einem Land wie China zu leben, auch wenn es dort ohne diese Abwägungen schneller geht. Aber davon abgesehen, sind viele Genehmigungsverfahren sehr kompliziert. Und das ist ein Problem, wenn wir eigentlich ziemlich schnell Windräder, Wohnungen und auch Fabriken bauen müssen. Von Olaf Scholz’ neuer Deutschlandgeschwindigkeit spüre ich wenig – und der Wirtschaftsminister Robert Habeck redet sich die Lage viel zu schön.

Sie dagegen klingen oft alarmistisch: Robert Habeck scheue das Wort Deindustrialisierung wie der Teufel das Weihwasser, sein Industriestrompreis sorge für Kollateralschäden und gehöre in die Kiste der wirtschaftlichen Schnapsideen. Wird man nicht leicht überhört, wenn man immer so zuspitzt?

Klartext muss sein. Das Problem ist eher, dass es im Mittelstand viele Champions gibt, die traditionell sehr hidden agieren, während die Politik unsere Interessen oft ignoriert. Wir Unternehmer müssen lauter werden, damit Deutschland wieder auf einen Wachstumskurs zurückfindet. Seit den Arbeitsmarktreformen von 2003 und der Unternehmenssteuerreform von 2008 gab es für uns nur zusätzliche Belastungen.

200

Beschäftigte arbeiten für Rullko. Ihre Zahl wächst seit einigen Jahren, 2020 waren es noch 174.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland viele Jahre des Booms hinter sich hat. Wie passt das mit Ihrer fundamentalen Kritik zusammen?

Die Politik des billigen Geldes der Europäischen Zentralbank hat geholfen, die Finanzkrise zu bewältigen – aber sie hat eben unterschwellige Probleme verdeckt. Und die Politik hat versäumt, diese Phase für Reformen zu nutzen. Und so leben wir von der Substanz, während andere Länder massiv in Fortschrittstechnologien wie künstliche Intelligenz investieren.

Die Ampel will mit dem Gebäudeenergiegesetz bewirken, dass die Energieversorgung fortschrittlicher und klimafreundlicher wird. Sie haben kritisiert, dass »Placebo-Experten« die Regierung beraten, und den Ministerien Arroganz vorgeworfen. Das ist nah dran am AfD-Sound …

Das teile ich nicht. Solche klaren Worte sind angebracht, wenn die Politik an den Nöten der Menschen vorbeiregieren will. Viele Leute fürchten einfach, sich die Kosten für eine Wärmepumpe oder eine bessere Dämmung nicht leisten zu können. Die können auch nicht auf Fördermittel warten. Aus meiner Sicht braucht es dieses Gesetz nicht. Viel besser wäre es, den Handel mit Emissionszertifikaten schneller auf alle Branchen auszudehnen, die Menge der Zertifikate zu beschränken und sie auf diese Weise zu verteuern. Das würde die Anreize erhöhen, klimafreundlich zu wirtschaften.

Kritiker werfen Ihnen vor, dass Ihr Verband die Energiewende ausbremsen will.

Wir sind keine Verhinderer. Deutschland soll bis 2045 klimaneutral werden, und das ist richtig so. Aber die Transformation kostet Geld. Neue Technologien zu entwickeln kostet Geld. Auf grüne Energien umzusatteln kostet Geld. Und dieses Geld haben Unternehmer nur, wenn Energie bezahlbar ist und sie im Wettbewerb mithalten können. Deswegen wäre es gut gewesen, die Atomkraftwerke gleich zwei oder drei Jahre länger laufen zu lassen.

Ein Kaffee-Einzelhandelsladen in der 1950er Jahren
© Heinz Feußner Rullko wurde 1923 gegründet. Dieses Bild aus den 1950er-Jahren zeigt einen Kaffee-Einzelhandelsladen.

Sie waren früher Schatzmeisterin der FDP in Nordrhein-Westfalen. Fühlen Sie sich bei den Liberalen überhaupt noch wohl, seit sie Teil der Ampel sind?

Seit ich Präsidentin des Verbands wurde, lasse ich meine Mitgliedschaft ruhen. Unabhängig davon bin ich froh, dass die FDP Teil der Regierungskoalition ist. Zum Beispiel, weil Christian Lindner für die Einhaltung der Schuldenbremse kämpft. Das ist wichtig, damit wir nicht auf Kosten zukünftiger Generationen leben.

Lassen Sie mich raten: Sein Wachstumschancengesetz, das die Regierung auf den Weg bringen will, finden Sie gut?

Es zeigt, dass die FDP auch in der Regierung noch ihrem ordnungspolitischen Kompass folgt. Allerdings müsste viel mehr Wumms dahinterstecken. Sieben Milliarden Euro Entlastungen sind wahrlich nicht der Befreiungsschlag, den die Wirtschaft braucht. Ich hätte mir gewünscht, dass die Regierung die Möglichkeiten zur Gewinnthesaurierung verbessert und die Unternehmenssteuern senkt – die liegen im Durchschnitt bei 30 Prozent und damit höher als in den meisten anderen Industrieländern. Man merkt, dass in der Regierung unterschiedliche Weltanschauungen aufeinanderprallen: SPD und Grüne wollen Probleme mit Eingriffen in den Markt lösen – die Liberalen mit marktwirtschaftlichen Anreizen.

Und die FDP scheint den Kürzeren zu ziehen, wie Umfragen zeigen. Haben Sie Angst, dass die Partei nach vier Jahren Ampel wieder aus dem Bundestag fliegt?

Angst habe ich in der Regel nie. Und ich glaube auch nicht daran, dass es so kommt. Wichtig wäre, dass die drei Ampelparteien jetzt an einem Strang ziehen. Dann hätte die AfD auch nicht so viel Zuspruch. Wenn mit ihr hierzulande eine Partei an die Macht käme, die auch von Rechtsextremen geprägt wird, wäre das fatal für die Menschen und die Wirtschaft im Land, es würde ein Ende des EU-Binnenmarkts und der deutschen Willkommenskultur bedeuten.

Der Umsatz von Rullko

Rullkos Umsatz stieg zuletzt deutlich. Auch das Jubiläumsjahr 2023 läuft gut.

Wollen Sie eines Tages selbst wieder ein politisches Amt anstreben?

Politik fasziniert mich. Aber wenn Sie erfolgreich Politik machen wollen, müssen Sie das in Vollzeit machen. Sie müssen präsent sein, Menschen überzeugen, Mehrheiten organisieren. Mein Herz schlägt nun einmal für das Unternehmen, das ich in vierter Generation führe. Das geht nicht nebenbei.

Seit Sie vor Jahren in einer Talkshow aufgetreten sind, werden Sie von einem Mann gestalkt. Wie schlimm ist es gerade?

Ich war gerade für ein paar Tage im Urlaub, und als ich wiederkam, sollen hier bestimmt zehn Briefe gelegen haben. Seit neun Jahren schreibt der fast täglich. Der schickt Gewaltdarstellungen oder malt sich aus, der und ich hätten eine Tochter zusammen. Vergangenes Jahr hat der Postkarten geschickt, am Stempel konnte die Polizei erkennen, dass der die hier in Hamm eingeworfen hatte; darin hat der mir angedroht, mit einem russischen Syrien-Kämpfer zu mir nach Hause zu kommen. Da hat mich die Polizei eine Woche lang rund um die Uhr bewacht. Das war eine bedrückende Erfahrung.

Sie sprechen sehr offen darüber. Warum?

Weil ich erlebe, wie schwer es für Opfer von Stalking ist, sich dagegen zu wehren – und wie wenig sie geschützt werden. Jener Mann macht immer weiter, obwohl sogenannte Gewaltschutzbeschlüsse ihm jeden Kontakt verbieten und der auch schon mehr als zwei Jahre deswegen im Gefängnis saß. Aber es ist ihm sogar noch gelungen, aus dem Gefängnis Briefe an mich zu schreiben. Ausgerechnet ein Gericht hat ihm in einem Beschluss mal meine private Adresse verraten, ich musste umziehen. Und als ich noch für die FDP Politik gemacht habe, musste ich mir anhören, ich sei ja eine öffentliche Person und das Stalking deswegen kein schwerer Eingriff in meine Lebensführung.

81.2

Prozent beträgt die Eigenkapitalquote des Unternehmens. Ein gutes Finanzpolster: Im deutschen Mittelstand lag der Wert zuletzt im Schnitt bei 31,4 Prozent.

Haben Sie deswegen gezögert, das Amt als Verbandspräsidentin zu übernehmen?

Ich habe schon darüber nachgedacht. Aber mich dann entschieden, dass ich in meinem Leben das machen will, was mir wichtig ist. Das lasse ich mir nicht kaputt machen. Auch wenn das Stalking dadurch spürbar zugenommen hat und ich ziemlich viele Sicherheitsvorkehrungen ergreifen muss, nicht über mein Privatleben spreche und ziemlich viel für Anwälte ausgebe. Aber ich weiß inzwischen, dass es viele andere Betroffene gibt, vor allem Frauen, aber auch Männer. Und viele können sich weniger gut schützen und wehren. Deswegen bin ich sehr dafür, das Strafrecht zu verschärfen.

Auch Ihr Vater Carl-Dieter Ostermann hat sich früher in öffentliche Debatten eingemischt und war wie Sie eine Zeit lang Präsident der Jungen Unternehmer. Inwiefern ist er Ihr Vorbild?

Für ihn war es selbstverständlich, sich auch außerhalb des Unternehmens zu zeigen und zu äußern. Als ich 2006 seine Nachfolge angetreten habe, hat er mich zu einem Treffen der Jungen Unternehmer angemeldet. Ich wollte gar nicht hin, weil ich im Betrieb so viel zu tun hatte. Aber er hat gesagt: Du fährst. So habe ich gelernt, wie sehr es hilft, sich mit anderen Nachfolgern zu vernetzen. Er ist mein Vorbild, genau wie meine Urgroßmutter Elly Rullkötter, die unser Unternehmen einige Jahre lang geführt hat, nachdem mein Urgroßvater Carl gestorben war – in den 1960er-Jahren, also einer Zeit, in der es kaum Unternehmerinnen gab. Eine sehr resolute Frau, die ich als kleines Mädchen noch kennenlernen durfte.

Ihr Vater hält noch 50,1 Prozent der Firmenanteile. Wie sehr redet er Ihnen rein?

Gar nicht. Er ist nicht mehr operativ tätig und hat auch verstanden, dass ich meinen Freiraum brauche. Er hat das Geld eher zusammengehalten, während ich gerade in eine neue und energetisch sparsamere Lkw-Flotte investiere und in neue Warenausgangstore. Umgekehrt verstehe ich gut, welche emotionale Verbindung er zum Unternehmen hat und dass es da schwer ist, ganz loszulassen.

Die Fragen stellte Jens Tönnesmann