ZEIT für X
Max Viessmann

Der Sprinter

02. Mai 2023
ZEIT Redaktion

Max Viessmann setzt in seiner 103 Jahre alten Familienfirma auf flache Hierarchien, Transparenz und Agilität. Zu Besuch bei Deutschlands modernstem Heizungsbauer

von Jens Tönnesmann, Redakteur im Wirtschaftsressort, DIE ZEIT, verantwortlicher Redakteur, ZEIT für Unternehmer

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 1/2020. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“

Hinweis: Am 25. April wurde bekannt, dass der Heizungsbauer Viessmann seine Heiz- und Klimatechniksparte für zwölf Milliarden Euro verkauft. Mit diesem Beitrag haben wir den heutigen CEO des Unternehmens Max Viessmann in „ZEIT für Unternehmer“ im Jahr 2020 porträtiert.

Max Viessmanns Nächte sind in der Corona-Krise kürzer geworden, aber das ist nichts, was ihn erschöpfen würde. Der Unternehmer blickt in einem Video-Call während der Pandemie so in die Kamera, wie man ihn Wochen vorher bei einem Besuch am Firmen­sitz in Allendorf erleben konnte: mit forschem Blick und einem Lächeln, das er immer dann platziert, wenn er über Chancen und Ideen spricht. Man könnte fast vergessen, dass der 31-Jährige in dieser Krise ein 103 Jahre altes Dickschiff mit 12.300 Mitarbeitern lenkt, das davon lebt, Heizungen, Wärmepumpen und Kühl­systeme in aller Welt zu produzieren und in alle Welt zu verkaufen. Oder, um es mit Max Viessmanns Worten zu sagen: das den Purpose hat, „Lebensräume für zukünftige Generationen zu gestalten, weil wir hier keine Maschinen zusammen­schrauben, sondern Menschen eine Zukunft erschaffen“.

An diesem Leitbild soll auch Corona nicht rütteln, im Gegenteil. Viessmann erzählt von den Standorten, die das Unternehmen vorsorglich geschlossen hat, und wie man trotzdem liefer­fähig bleiben konnte. Er berichtet, wie er nachts in der Produktion ausgeholfen hat – bis die Arbeiter an der Linie ihm sagten, dass sie ohne ihn dann doch schneller seien. Er erzählt, wie flexibel viele Beschäftigte vom Homeoffice aus arbeiten könnten, weil das Unternehmen schon vor der Krise auf Plattformen wie Asana und G Suite von Google umgestiegen sei.

Viel lieber aber als über die Vorsichtsmaßnahmen spricht Max Viessmann über den „gesellschaftlichen Beitrag“, den man jetzt leisten wolle, in Form von: Innovationen. Azubis haben eine Fertigungs­linie für Gesichts­masken aufgebaut; und ein Mitarbeiter hatte die Idee, mit 3-D-Druckern kleine Haken als Türöffner herzustellen, damit niemand mehr Klinken berühren muss. Ingenieure haben sogar ein Beatmungs­gerät entwickelt, um in der Pandemie auszuhelfen. „Weil wir gewohnt sind, hier mit product ownern in biweekly sprints zu arbeiten, konnten wir zwei Wochen nach der Idee die ersten davon herstellen“, sagt er. „In der Krise zahlt sich aus, welchen Wandel wir hier schon vorher angestoßen haben.“

Wir, das ist ganz besonders er selbst: Max Viessmann, ein Familien­unternehmer in vierter Generation, der recht wenig mit all den Generationen von Familien­unternehmern vor ihm gemein hat. Er ist mit allen Mitarbeitern per Du und hat immer das Smart­phone zur Hand, beantwortet Mails, macht Notizen. Er verwendet ständig Anglizismen, etwa wenn er erzählt, dass er mit seinen Teams „im Sinne des Heartbeats in Sprints“ arbeitet und Offsites und Deep Dives veranstaltet. Oder wenn er bei einem Rundgang in der Produktion sagt: „Wir haben ein Maximum an Effizienz reinge traded gegen ein Maximum an Flexibilität“ – was bedeutet, dass man heute schnell neue Dinge produzieren kann, auch wenn dafür die Produktion des Bewährten etwas länger dauert. Wenn man Viessmann einen Tag lang begleitet, dann merkt man, dass sein Takt und seine Töne kein Geschwurbel sind – sondern eine ziemlich durchdachte Komposition.

Allendorf an der Eder, im Februar. Um halb zehn ist „State of the World“ – eine monatliche Versammlung, bei der die Chefs allen Mitarbeitern über die Lage berichten. Heute gibt es eine Schalte nach China, wo Viessmann Gas-Wandgeräte herstellt. Ein Video zeigt, wie Mitarbeiter sich Mundschutze aufsetzen, auf dem Boden des Werks sind gelbe Aufkleber angebracht: Abstands­halter. Wochen später wird das auch in deutschen Fabriken Alltag sein.

Jetzt aber geht es um die Strategie. Max Viessmann stellt die sechs strategischen Direktiven vor, die aus dem einen Purpose entspringen und wiederum in 39 strategische Ziele münden; einige davon nennt er die must win opportunities dieses Jahres . Ein Beispiel dafür: Während Viessmann früher Heizungs­geräte verkauft hat, bietet es jetzt auch Heating as a Service an – der Kunde kauft keine Anlage mehr, sondern abonniert nur noch deren Wärme zum Monatspreis. Dabei hilft, dass Heizungen von Viessmann heute ans Internet angedockt sind: Wenn Teile kaputt­zu­gehen drohen, benachrichtigt die Anlage einen Techniker. Auf die Strategien folgen Umsatz­prognosen und Finanz­kenn­zahlen. „Mit dieser Transparenz“, sagt Viessmann, „füllen wir ein Vakuum, das Mitarbeiter in Zeiten schneller Veränderungen sonst leicht erleben können.“

Und das Unternehmen verändert sich rasant. Es hat eine neue Kantine gebaut, in der Mitarbeiter Whiteboards und Vorhänge hin- und herschieben können, um dahinter in kleinen Gruppen zu arbeiten. Und zwar agil, in kurzen Innovations­zyklen mit wechselnden Rollen. Die Führungs­kräfte messen sich an Zahlen, den Objective and Key Results . Das soll helfen, eines der strategischen Ziele zu erreichen – es lautet: „Bringing out the best in all of us“.

Um das Beste in sich zu wecken, hat Max Viessmann dem Unternehmen eine Lern- und Feed­back­kultur verpasst, die er als Berater bei der Boston Consulting Group kennen­gelernt hat. Zwei Jahre war er nach seinem Ingenieur­studium in Darmstadt und Karlsruhe bei der Berater­firma. Er ist oft ins Silicon Valley gereist, dabei sei ihm klar geworden, dass es nicht darum gehe, Geschäfts­modelle oder Produkte von US-Firmen nach­zu­ahmen, sondern deren „leistungs­orientierte, performante Kultur“.

Aber passt diese Kultur wirklich zu einem deutschen Traditions­unter­nehmen – und klappt das, wenn ein 31-Jähriger ohne jahr­zehnte­lange Erfahrung sie vermittelt? An diesem Morgen wird offenbar, dass nicht alle mit seinem Tempo mitkommen. Über ein Online-Tool können Mitarbeiter Fragen einreichen, einer schreibt: „Viele Mitarbeiter fühlen sich abgehängt“, 28 Kollegen geben dem Beitrag ein Like. Max Viessmann nimmt den Ball auf der Bühne auf: „Wenn ihr euch nicht verstanden fühlt, sprecht mich an“, sagt der Chef, „it’s an email away.“

Auch wenn Max Viessmann äußerlich ruhig bleibt, sagt er auf dem Weg zum nächsten Termin: „Mich fuchst schon, wenn Leute sich abgehängt fühlen.“ Ihm sei es doch wichtig, dass man ohne Hürden kollaboriere, dass Führung nicht auf der asymmetrischen Verteilung von Macht und Wissen basiere, sondern auf Fähigkeiten. Der nächste Termin passt da jetzt ganz gut, Max Viessmann und zwei seiner Managerinnen diskutieren, wie man die Mitarbeiter noch mehr einbinden kann – etwa indem man zeigt, welche mutigen Momente in der Firmen­gruppe neue Ideen ausgelöst haben.

Eine dieser Ideen heißt WIN – ein Mitarbeiterinnen-Netzwerk, das zum Beispiel einen Eltern-Kind-Raum konzipiert und ein Mentoring-Programm angeschoben hat. Für Max Viessmann steht jetzt ein Mittagessen mit Mitgliedern des Netzwerks auf der Agenda, danach ein Treffen mit dem Führungs­kreis des Unternehmens. Am späten Nachmittag dann der Jour fixe mit seinem Vater Martin, der die operative Leitung 2017 an den Sohn und dessen Co-CEO Joachim Janssen übertragen hat. „Meine größte Heraus­forderung war, die Leute hier nicht über Drohungen zu motivieren“, sagt Max Viessmann. Anstatt ihnen Angst zu machen vor Firmen wie Google, das heute auch vernetzte Thermostate herstellt, habe er sie „positiv triggern“ wollen: Viessmann sei bestens gerüstet, um von der Digitalisierung und der Dekarbonisierung zu profitieren.

Nun ist Martin Viessmann auf einem Monitor im Sitzungsraum zu sehen; der 66-Jährige redet seinen Sohn mit Maximilian an, und wenn er ihm einen Rat gibt, sagt er gleich dazu: „Aber ich will dir keine Ratschläge geben.“ Man merkt: Max hat das volle Vertrauen, auch wenn er so vieles so anders macht als Martin. Der Vater sagt: „Maximilian hat uns aus einem Dornröschen­schlaf geholt.“ Nur wenn man genau hinschaut, kann man sehen, wie der Sohn nun lächelt, während er eifrig in sein Notebook tippt und weiter seine Agenda abarbeitet. Er hat schließlich noch viel vor.