ZEIT für X
Dreilinden-Gymnasium in Berlin

Eine Schule integriert geflüchtete Kinder aus der Ukraine

17. Mai 2022
Ein Artikel von Studio ZX.

Das Dreilinden-Gymnasium gehörte in Berlin zu den ersten Bildungs­ein­richtungen, die ukrainische Schüler:innen aufnahmen. Die Schule konnte dabei auf ein bewährtes Konzept zurückgreifen. Allerdings gibt es auch neue Heraus­forderungen.

von Florentine Anders, Studio ZX

Über dem Schultor hängt eine große blau-gelbe Flagge. Im Dreilinden-Gymnasium in Berlin lernen bereits 28 ukrainische Kinder in einer Willkommens­klasse. Außerdem arbeitet Daria seit einigen Wochen an der Schule. Die 23-jährige Deutsch­lehrerin ist aus Odessa vor dem Krieg geflohen und stand eines Tages bei Schulleiter Jens Stiller vor der Tür, weil sie helfen wollte. „Ein Geschenk des Himmels“, sagt Stiller, denn die Verständigung mit den Kindern und den Eltern ist ohne Sprach­kenntnisse schwierig.

Immerhin gab es am Dreilinden-Gymnasium bereits neun russisch- oder ukrainisch­sprachige Schüler:innen, die jetzt als Sprach­mittler:innen unterwegs sind – ob im Unterricht, in den Pausen, bei Ausflügen oder auf Eltern­abenden. Einer von ihnen ist der 13-jährige Artem. Bereits nach der Krimannexion 2014 ist er mit seiner Familie nach Deutschland geflohen. 2018 kehrten sie in die Heimat zurück, doch seit einem Jahr nun sind sie wieder hier in Berlin. Nur der Vater ist diesmal dort geblieben, an der Front. Artem, der inzwischen perfekt Deutsch spricht, hilft den neu ankommenden ukrainischen Schüler:innen. Er übersetzt, was der Sport­lehrer gesagt hat, oder erklärt ihnen im Unterricht leise die Mathe­aufgabe.

Artem (13) engagiert sich als Sprachmittler für ukrainische Schülerinnen und Schüler am Dreilinden-Gymnasium. Schülersprecher Tilmann (19) hat einen gemeinsamen Ausflug mit den neu aufgenommenen Jugendlichen organisiert.
© Florentine Anders Artem (13) engagiert sich als Sprachmittler für ukrainische Schülerinnen und Schüler am Dreilinden-Gymnasium. Schülersprecher Tilmann (19) hat einen gemeinsamen Ausflug mit den neu aufgenommenen Jugendlichen organisiert.

Ein Kunstworkshop hilft beim Ankommen

Das Dreilinden-Gymnasium kann auf einige Erfahrungen mit geflüchteten Schüler:innen zurück­greifen. Nachdem Tausende syrische Kinder und Jugendliche vor dem Krieg nach Deutschland geflohen waren, gehörte die Schule zu den wenigen Gymnasien, die eine Willkommens­klasse einrichteten. Seitdem hat das Kollegium ein ausgefeiltes Konzept entwickelt, das sich bewährt hat. Die damals aufgenommenen syrischen Jugendlichen haben mittler­weile erfolg­reich ihr Abitur abgelegt. Und auch das Kollegium hat dazu­gelernt. Viele der Lehr­kräfte sind spezialisiert auf „Deutsch als Zweitsprache“.

Auf die vorhandene Struktur kann die Schule nun bei der Aufnahme der Schüler:innen aus der Ukraine aufbauen. Und auch auf eine vorhandene offene Schulkultur: Die Lehrkräfte sind bereit, für die Integration ukrainischer Kinder mehr Stunden zu arbeiten, Schüler:innen veranstalten Spenden­konzerte oder gemeinsame Ausflüge mit den Geflüchteten.

So wie damals die syrischen Schüler:innen lernen auch die ukrainischen Kinder zunächst in einer Willkommens­klasse. Am Morgen treffen sich alle gemeinsam, haben Zeit für einen Austausch in ihrer Herkunfts­sprache. Das hilft, denn die meisten in der Klasse haben in der Heimat und auf der Flucht ähnliche Erfahrungen gemacht. Anschließend werden sie in Klein­gruppen aufgeteilt, um Deutsch zu lernen, und auch ein gemeinsamer Kunst­workshop gehört in den ersten Wochen zum Programm.

Schüler:innen der Willkommens­klasse sind parallel Regel­klassen zugeordnet

Parallel zur Willkommensklasse sind die Schüler:innen einer Regel­schul­klasse zugeordnet, je nach Alters­stufe. In jeder dieser Regel­klassen sitzen zudem zwei Schüler:innen, die wie Artem bei Bedarf über­setzen können. Dort können die Geflüchteten zum Beispiel schon von Anfang an am Sport­unterricht, am Matheunterricht oder anderen Fächern, die weniger sprach­intensiv sind, teilnehmen. Allerdings nur, wenn sie dafür auch emotional bereit sind. „Wir müssen sehr klein­schrittig anfangen. Viele sind in den ersten Tagen unsicher und verängstigt“, erklärt Stiller. Der Kunst­work­shop sei eine gute Gelegen­heit, um erst einmal etwas Sicherheit zu bekommen und das Erlebte zu verarbeiten. Auch dies sei eine Erfahrung aus voran­gegangenen Willkommens­klassen.

Es gibt jedoch einen großen Unterschied: „Anders als etwa die syrischen Kinder gehen die ukrainischen Schüler:innen davon aus, dass ihr Aufenthalt hier von kurzer Dauer sein wird“, bemerkt Stiller. Selbst die ukrainische Lehrerin Daria hofft, in wenigen Wochen nach Odessa zurück­kehren zu können, wo ihre Mutter bei der Großmutter ausharrt, weil diese für eine Flucht zu schwach war. Daria hat während ihres Germanistik­studiums immer davon geträumt, einmal ein Jahr nach Deutschland zu gehen und Auslands­erfahrungen zu sammeln. „Aber doch nicht zu diesem Preis!“, sagt sie. Ein Vertrag für ihre Arbeit an der Schule sei ihr deshalb nicht wichtig. Sie sei froh, wenn sie etwas tun könne. Das Berliner Gymnasium beschäftigt sie zunächst auf Honorar­basis.

Online-Unterricht an der ukrainischen Schule läuft weiter

Viele der Schüler:innen aus der Willkommens­klasse des Berliner Gymnasiums erzählen, dass der Online-Unterricht an den Schulen in der Ukraine weiter­läuft, aber nicht immer zu regel­mäßigen Zeiten. „Vormittags kochen die Lehrkräfte für die Soldat:innen an der Front, dann laden sie ein neues Erklärvideo auf der Schul­platt­form hoch und geben Haus­aufgaben“, berichtet eine Schülerin. Am Dreilinden-Gymnasium haben die ukrainischen Schüler:innen zu jeder Zeit die Möglichkeit, sich in den ukrainischen Online-Unterricht digital ein­zu­wählen, auch wenn sie dadurch Unterrichts­stunden verpassen. Das System sei flexibel und auf individualisierte Stunden­pläne ausgelegt, führt Stiller aus. Alle hätten digitale Endgeräte, zudem habe die Schule zusätzliche kleine Rückzugsräume für diesen Zweck eingerichtet.

Vormittags kochen die Lehrkräfte für die Soldat:innen an der Front, dann laden sie ein neues Erklär­video auf der Schul­platt­form hoch und geben Hausaufgaben

ukrainisches Mädchen am Dreilinden-Gymnasium

Die gesamte Schule rückt dafür zusammen oder erfindet neue Lernräume. Teilweise wird nun auch in der Mensa unterrichtet, und bei schönem Wetter nutzen die Lehrkräfte Sitzecken auf dem Schulhof für den Unterricht. Nicht alle der ukrainischen Schüler:innen nutzen gleich intensiv das ukrainische Angebot. In den Jahrgängen 9 und 11, in denen in der Ukraine Abschlüsse der Mittleren Reife und Hoch­schul­reife anstehen, sind die Jugendlichen sehr daran interessiert, dem ukrainischen Lehrplan zu folgen. „Ich will die Jahr­gangs­stufe auf keinen Fall wiederholen“, erzählt ein Mädchen. Einer ihrer ukrainischen Mitschüler sieht das anders: „Mich stresst diese doppelte Struktur mit Hausaufgaben an der deutschen und ukrainischen Schule. Ich würde mich lieber voll und ganz auf die Schule in Deutschland konzentrieren können“, sagt er. Er mag den Unterricht hier, die Lehrer:innen seien weniger streng als in der Ukraine.

Mich stresst diese doppelte Struktur mit Hausaufgaben an der deutschen und ukrainischen Schule. Ich würde mich lieber auf die Schule in Deutschland konzentrieren können

ukrainischer Junge am Dreilinden-Gymnasium