Eine Schule integriert geflüchtete Kinder aus der Ukraine
Das Dreilinden-Gymnasium gehörte in Berlin zu den ersten Bildungseinrichtungen, die ukrainische Schüler:innen aufnahmen. Die Schule konnte dabei auf ein bewährtes Konzept zurückgreifen. Allerdings gibt es auch neue Herausforderungen.
Über dem Schultor hängt eine große blau-gelbe Flagge. Im Dreilinden-Gymnasium in Berlin lernen bereits 28 ukrainische Kinder in einer Willkommensklasse. Außerdem arbeitet Daria seit einigen Wochen an der Schule. Die 23-jährige Deutschlehrerin ist aus Odessa vor dem Krieg geflohen und stand eines Tages bei Schulleiter Jens Stiller vor der Tür, weil sie helfen wollte. „Ein Geschenk des Himmels“, sagt Stiller, denn die Verständigung mit den Kindern und den Eltern ist ohne Sprachkenntnisse schwierig.
Immerhin gab es am Dreilinden-Gymnasium bereits neun russisch- oder ukrainischsprachige Schüler:innen, die jetzt als Sprachmittler:innen unterwegs sind – ob im Unterricht, in den Pausen, bei Ausflügen oder auf Elternabenden. Einer von ihnen ist der 13-jährige Artem. Bereits nach der Krimannexion 2014 ist er mit seiner Familie nach Deutschland geflohen. 2018 kehrten sie in die Heimat zurück, doch seit einem Jahr nun sind sie wieder hier in Berlin. Nur der Vater ist diesmal dort geblieben, an der Front. Artem, der inzwischen perfekt Deutsch spricht, hilft den neu ankommenden ukrainischen Schüler:innen. Er übersetzt, was der Sportlehrer gesagt hat, oder erklärt ihnen im Unterricht leise die Matheaufgabe.
Ein Kunstworkshop hilft beim Ankommen
Das Dreilinden-Gymnasium kann auf einige Erfahrungen mit geflüchteten Schüler:innen zurückgreifen. Nachdem Tausende syrische Kinder und Jugendliche vor dem Krieg nach Deutschland geflohen waren, gehörte die Schule zu den wenigen Gymnasien, die eine Willkommensklasse einrichteten. Seitdem hat das Kollegium ein ausgefeiltes Konzept entwickelt, das sich bewährt hat. Die damals aufgenommenen syrischen Jugendlichen haben mittlerweile erfolgreich ihr Abitur abgelegt. Und auch das Kollegium hat dazugelernt. Viele der Lehrkräfte sind spezialisiert auf „Deutsch als Zweitsprache“.
Auf die vorhandene Struktur kann die Schule nun bei der Aufnahme der Schüler:innen aus der Ukraine aufbauen. Und auch auf eine vorhandene offene Schulkultur: Die Lehrkräfte sind bereit, für die Integration ukrainischer Kinder mehr Stunden zu arbeiten, Schüler:innen veranstalten Spendenkonzerte oder gemeinsame Ausflüge mit den Geflüchteten.
So wie damals die syrischen Schüler:innen lernen auch die ukrainischen Kinder zunächst in einer Willkommensklasse. Am Morgen treffen sich alle gemeinsam, haben Zeit für einen Austausch in ihrer Herkunftssprache. Das hilft, denn die meisten in der Klasse haben in der Heimat und auf der Flucht ähnliche Erfahrungen gemacht. Anschließend werden sie in Kleingruppen aufgeteilt, um Deutsch zu lernen, und auch ein gemeinsamer Kunstworkshop gehört in den ersten Wochen zum Programm.
Schüler:innen der Willkommensklasse sind parallel Regelklassen zugeordnet
Parallel zur Willkommensklasse sind die Schüler:innen einer Regelschulklasse zugeordnet, je nach Altersstufe. In jeder dieser Regelklassen sitzen zudem zwei Schüler:innen, die wie Artem bei Bedarf übersetzen können. Dort können die Geflüchteten zum Beispiel schon von Anfang an am Sportunterricht, am Matheunterricht oder anderen Fächern, die weniger sprachintensiv sind, teilnehmen. Allerdings nur, wenn sie dafür auch emotional bereit sind. „Wir müssen sehr kleinschrittig anfangen. Viele sind in den ersten Tagen unsicher und verängstigt“, erklärt Stiller. Der Kunstworkshop sei eine gute Gelegenheit, um erst einmal etwas Sicherheit zu bekommen und das Erlebte zu verarbeiten. Auch dies sei eine Erfahrung aus vorangegangenen Willkommensklassen.
Es gibt jedoch einen großen Unterschied: „Anders als etwa die syrischen Kinder gehen die ukrainischen Schüler:innen davon aus, dass ihr Aufenthalt hier von kurzer Dauer sein wird“, bemerkt Stiller. Selbst die ukrainische Lehrerin Daria hofft, in wenigen Wochen nach Odessa zurückkehren zu können, wo ihre Mutter bei der Großmutter ausharrt, weil diese für eine Flucht zu schwach war. Daria hat während ihres Germanistikstudiums immer davon geträumt, einmal ein Jahr nach Deutschland zu gehen und Auslandserfahrungen zu sammeln. „Aber doch nicht zu diesem Preis!“, sagt sie. Ein Vertrag für ihre Arbeit an der Schule sei ihr deshalb nicht wichtig. Sie sei froh, wenn sie etwas tun könne. Das Berliner Gymnasium beschäftigt sie zunächst auf Honorarbasis.
Online-Unterricht an der ukrainischen Schule läuft weiter
Viele der Schüler:innen aus der Willkommensklasse des Berliner Gymnasiums erzählen, dass der Online-Unterricht an den Schulen in der Ukraine weiterläuft, aber nicht immer zu regelmäßigen Zeiten. „Vormittags kochen die Lehrkräfte für die Soldat:innen an der Front, dann laden sie ein neues Erklärvideo auf der Schulplattform hoch und geben Hausaufgaben“, berichtet eine Schülerin. Am Dreilinden-Gymnasium haben die ukrainischen Schüler:innen zu jeder Zeit die Möglichkeit, sich in den ukrainischen Online-Unterricht digital einzuwählen, auch wenn sie dadurch Unterrichtsstunden verpassen. Das System sei flexibel und auf individualisierte Stundenpläne ausgelegt, führt Stiller aus. Alle hätten digitale Endgeräte, zudem habe die Schule zusätzliche kleine Rückzugsräume für diesen Zweck eingerichtet.
Vormittags kochen die Lehrkräfte für die Soldat:innen an der Front, dann laden sie ein neues Erklärvideo auf der Schulplattform hoch und geben Hausaufgaben
ukrainisches Mädchen am Dreilinden-Gymnasium
Die gesamte Schule rückt dafür zusammen oder erfindet neue Lernräume. Teilweise wird nun auch in der Mensa unterrichtet, und bei schönem Wetter nutzen die Lehrkräfte Sitzecken auf dem Schulhof für den Unterricht. Nicht alle der ukrainischen Schüler:innen nutzen gleich intensiv das ukrainische Angebot. In den Jahrgängen 9 und 11, in denen in der Ukraine Abschlüsse der Mittleren Reife und Hochschulreife anstehen, sind die Jugendlichen sehr daran interessiert, dem ukrainischen Lehrplan zu folgen. „Ich will die Jahrgangsstufe auf keinen Fall wiederholen“, erzählt ein Mädchen. Einer ihrer ukrainischen Mitschüler sieht das anders: „Mich stresst diese doppelte Struktur mit Hausaufgaben an der deutschen und ukrainischen Schule. Ich würde mich lieber voll und ganz auf die Schule in Deutschland konzentrieren können“, sagt er. Er mag den Unterricht hier, die Lehrer:innen seien weniger streng als in der Ukraine.
Mich stresst diese doppelte Struktur mit Hausaufgaben an der deutschen und ukrainischen Schule. Ich würde mich lieber auf die Schule in Deutschland konzentrieren können
ukrainischer Junge am Dreilinden-Gymnasium