Was hilft gegen den Lehrkräftemangel?
Fehlplanungen der Politik treffen auf verschleppte Ausbildungsreformen, die das Lehramt attraktiver machen könnten. Überall fehlen Lehrer:innen. Was bringt jetzt schnelle Hilfe? ZEIT für Bildung fragt den Bildungsexperten Mark Rackles um Rat.
Das neue Schuljahr ist mit Tausenden unbesetzten Stellen für Lehrkräfte gestartet. Die Lücken könnten in den kommenden Jahren noch größer werden: In Deutschland werden seit 2011 wieder mehr Kinder geboren. Aktuell kommen die Kinder Geflüchteter hinzu, derzeit vor allem aus der Ukraine. Fehlplanungen der Politik potenzieren die Probleme durch verschleppte Ausbildungsreformen, die das Lehramt attraktiver machen könnten. Was bringt jetzt schnelle Hilfe? Wir fragen Mark Rackles, ehemaliger Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Rackles ist Gastwissenschaftler am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.
Studio ZX: Es sind verschiedene Maßnahmen im Gespräch, um den Lehrkräftemangel zu überbrücken: größere Klassen, Wegfall von Angeboten in der Ganztagsbeschulung, Überbrückung mit Studierenden oder Pensionär:innen. Welche davon hilft schnell in der akuten Notlage?
Mark Rackles: Die Erhöhung der Schülerzahl pro Klasse – etwa durch Umverteilung oder Klassenzusammenlegungen – wäre sicher wirksam. Dadurch hätte man beispielsweise eine Klasse pro Jahrgang weniger und könnte so ausgleichen, was an Lehrkräften fehlt, beziehungsweise hätte an anderer Stelle wieder eine Lehrkraft zur Verfügung.
Viele Schulleitungen befürchten: Klassen mit 30, 40 Schüler:innen könnten speziell junge Lehrer:innen von vornherein abschrecken und überfordern.
Genau, deshalb halte ich das nicht für einen sinnvollen Weg. Klassen mit über 30 Schüler:innen sind sicherlich nur schwierig handhabbar, vor allem an Schulen mit vielen Inklusionskindern und -jugendlichen sowie Flüchtlingsklassen. Längerfristig ist das also nicht sinnvoll und wird nicht funktionieren, schon gar nicht, wenn man es den Lehrkräften aufzwingt. Denn dadurch würde man als Reaktion noch mehr Lehrkräfte durch Krankmeldungen oder Versetzungsanträge verlieren. Parallel müsste zudem die Zahl pädagogischer Begleitpersonen wie Schulbegleiter:innen oder Sozialarbeiter:innen im Unterricht aufgestockt werden. Gerade in Inklusionsklassen spielen sie eine ganz wichtige Rolle. Zusätzliche Mittel dafür bekommen aber in der Regel hauptsächlich sogenannte Brennpunktschulen.
Mark Rackles ist ehemaliger Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Seit 2020 ist er als Berater im Bildungsbereich tätig.
Viele Lehrer:innen arbeiten in Teilzeit. Was würde es konkret bringen, einige von ihnen zur Vollzeit zu bewegen?
Sehr viel. Denn die Teilzeitquote ist in fast allen Bundesländern recht hoch. Beispiel Berlin: Hier arbeiten mit knapp 12.000 Lehrkräften etwa 35 Prozent in Teilzeit, darunter auch viele jüngere, die sich von Anfang an eine bessere Work-Life-Balance mit mehr Zeit für die Familie wünschen und sich unter anderem auch deshalb für den Lehrerberuf – und für die in vielen Bundesländern übliche Verbeamtung – entschieden haben.
Von welcher Größenordnung sprechen wir?
Es würde schon helfen, wenn nur ein geringer Prozentsatz der Teilzeitlehrkräfte die Stundenanzahl um eine Stunde erhöht: Bei 100 Lehrkräften entspräche dies vier zusätzlichen Lehrkräften, wenn man 25 Unterrichtsstunden als Schnitt für Vollzeitstellen nimmt. Für viele Schulen könnte schon die zusätzliche Stunde einer vollen Lehrkraft darüber entscheiden, ob in Klasse 5 Biologie ausfällt oder ob in Klasse 7 Geografie unterrichtet werden kann.
Aber wie überredet man Lehrkräfte dazu?
Das persönliche Gespräch, Verhandlungsgeschick und Fingerspitzengefühl der Schulleitungen sind hier gefragt. Viele sind bereit, den Kolleg:innen für eine zeitweilige Rückkehr zur Vollzeit etwas anzubieten. Etwa, dass Berufsanfänger:innen, wenn sie bereit sind, zwei Jahre lang eine oder zwei Stunden mehr zu unterrichten, dafür stabile, unkomplizierte Klassen und regelmäßige Unterrichtshospitationen bekommen. Oder mehr Freistellungen für Fortbildungen. Es ginge ja in der Regel nur um wenige Jahre – bis wieder mehr junge Hochschulabsolvent:innen zur Verfügung stehen.
Allerdings muss man auch sagen: Die Erhöhung der Arbeitszeit ist zwar eine wirksame Stellschraube, sie macht den Lehrberuf aber für viele auch unattraktiver. Und das ist letztlich kontraproduktiv.
Wie schätzen Sie das Potenzial bei den Pensionär:innen ein?
Das ist hoch. Wenn man zugrunde legt, dass pro Jahr in Deutschland bis zu 40.000 Lehrkräfte in Pension gehen, wäre es eine große Unterstützung, wenn nur ein Bruchteil von ihnen bereit wäre, weiterhin ein paar Stunden auf Teilzeitbasis zu arbeiten. Etliche haben tatsächlich mit Anfang, Mitte 60 auch noch Lust dazu. Auch Hochschuldozent:innen könnten aushelfen, etwa in den naturwissenschaftlichen Fächern in der Oberstufe.
Wie sehr können darüber hinaus auch Masterstudierende mobilisiert werden – für sie ist es doch eine sehr gute Praxiserfahrung?
Die Schulen greifen jetzt schon auf Studierende zurück. Das sollte aber nicht ausgeweitet werden, denn letztlich geht das zulasten des Studiums, führt in der bestehenden Struktur zu längeren Studienzeiten und damit zu längeren Wartezeiten der Schulen auf neue Lehrkräfte.
Und wie realistisch ist es, ad hoc die Referendariatsdauer zu verkürzen, um schneller voll ausgebildete Lehrkräfte zur Verfügung zu haben?
Der Föderalismus sorgt dafür, dass jedes Bundesland das individuell regeln kann und damit Abstimmungsprozesse sehr lange dauern können. Einige Länder haben schon vor längerer Zeit auf zwölf Monate verkürzt, andere halten an 18 oder sogar 24 Monaten fest. Wenn sich alle auf zwölf Monate einigen, würde auch das sehr helfen. Es sollte aber mit einer besseren Verschränkung von Theorie und Praxis einhergehen. Es gibt weitere Stellschrauben, doch an denen hätte man schon vor längerer Zeit drehen müssen.
Woran denken Sie dabei?
Ein dualer Master wäre in Bezug auf das verkürzte Referendariat interessant. Das Lehramtsstudium muss meines Erachtens grundsätzlich hinterfragt werden. Dazu gehört für mich, mehr Lehrer:innen auszubilden, die in der Lage sind, einen Fächerverbund wie etwa Naturwissenschaften zu unterrichten, statt nur in einer einzelnen Naturwissenschaft ausgebildet zu sein. Außerdem: mehr Praxisinput, weniger Prüfungen, was den Druck für die Studierenden herausnehmen und zugleich mehr Raum für das pädagogischen Arbeiten und das Unterrichtenlernen lassen würde.
Sollten die Hochschulen oder die Lehrerverbände nicht auch offensiver Werbung für das Lehramtsstudium machen?
Das schadet nie, aber die Bewerberzahlen sind aus meiner Sicht nicht das Problem. Die Hochschulen leiden eigentlich nicht unter mangelnden Bewerber:innen für das Lehramt, sondern darunter, dass viele sich während des Studiums frustriert umorientieren – und lieber doch nicht Lehrer:in werden wollen.