ZEIT für X
Rasha Nasr

„Es sollte normal sein, dass Bundestagsabgeordnete Namen wie Rasha Nasr tragen“

17. Oktober 2022
Ein Artikel von Studio ZX.

Rasha Nasr wurde 2021 für die SPD in den Bundestag gewählt. Wie hat sie das erste Jahr als Politikerin auf Bundesebene wahrgenommen? Wir haben nachgefragt.

Rasha Nasr, 30 Jahre alt, ist die erste sächsische SPD-Bundestagsabgeordnete mit Migrationsbiografie. Die Eltern der gebürtigen Dresdnerin sind Mitte der 80er-Jahre aus Syrien in die DDR eingewandert. Jetzt, viele Jahre später, prägt Nasr unsere Demokratie mit – als Politikerin im Bundestag.

Bekannt wurde Rasha Nasr auch, weil sie eine neue Sprache für komplexe Sachverhalte gefunden hat: Während des Wahlkampfes startete die Politikerin die Kampagne #Cupcakepolitics auf ihren Social-Media-Kanälen. Darin teilte sie politische Backrezepte mit den User:innen und erklärte Parteivorhaben anhand des Aufbaus von Cupcakes.

Unterstützt wurde sie im Wahlkampf auch von der überparteilichen Initiative Brand New Bundestag (BNB), die junge, progressive Politiker:innen fördert mit dem Ziel, Politik auf Bundes- und Landesebene diverser zu gestalten. Seit knapp einem Jahr ist Rasha Nasr im Amt. Wir haben mit ihr darüber gesprochen, wie das erste Jahr im Bundestag für sie war.

Studio ZX: Im September vor einem Jahr wurden Sie in den Bundestag gewählt – wie war Ihr Start in Berlin?

Rasha Nasr: Es fühlt sich an, als sei das eine halbe Ewigkeit her. Die Anfangszeit war aufregend – und ein bisschen beängstigend. Der Wechsel von der Privatperson zur Politikerin und damit zu einer Person des öffentlichen Lebens ist mir zu Beginn sehr schwergefallen. Inzwischen bin ich in die Rolle hineingewachsen. Zumindest sagt mir das mein Gefühl.

Was hat Ihnen in dieser Umbruchphase geholfen?

Ich hatte das Glück, Menschen an meiner Seite zu haben, die sich seit Jahren durch den Bundestag bewegen. Menschen, denen ich vertrauen kann und die Fragen beantworten können wie: Wer ist die Expertin für diesen oder jenen Bereich? Wie komme ich von A nach B? Allein schon jemanden zu haben, der die Wege durch den Bundestag kennt, hat geholfen – die Gebäude sind so unübersichtlich. (lacht)

Sie sagen, dass Ihnen der Wechsel von der Privatperson zur Politikerin schwergefallen ist. Inwiefern haben Sie sich im vergangenen Jahr verändert?

Meine Ideale und die Ziele, die ich vor der Wahl definiert habe, sind dieselben geblieben. Verändert hat sich mein Verständnis davon, wie politische Prozesse funktionieren und wie langwierig diese oft sind. Aber ich bin noch immer die Rasha, die ich vor einem Jahr war. Ich trage weiterhin keine Kostüme. Und auf Gruppenbildern erkennt man mich immer an den Sneakern. (lacht) Ich höre oft: Mensch, Rasha, du passt gar nicht in diesen Betrieb.

Wie reagieren Sie, wenn das jemand zu Ihnen sagt?

Dann weiß ich, dass ich alles richtig gemacht habe. Ich bin schließlich angetreten, um frischen Wind reinzubringen – und das bezieht sich nicht nur auf die Kleidung. Tatsächlich lerne ich sehr viele Menschen kennen, die darauf gewartet haben, dass Politiker:innen so aussehen wie sie selbst. Ich habe es mir zur Mission gemacht, dafür zu sorgen, dass es irgendwann nicht mehr außergewöhnlich ist, wenn Menschen wie wir – junge Leute, migrantisch gelesene Personen – im Parlament sitzen. Es sollte normal sein, dass Bundestagsabgeordnete Namen wie Rasha Nasr tragen.

Rasha Nasr
© Richard Hübner

Rasha Nasr kam 1992 in Dresden zur Welt – und hat in der sächsischen Landeshauptstadt Politikwissenschaft und Philosophie studiert. Nach prägenden beruflichen Stationen als Asylkoordinatorin und Integrationsbeauftragte trat sie 2017 in die SPD ein. 2021 wurde Rasha Nasr in den Bundestag gewählt. Sie ist die erste sächsische SPD-Bundestagsabgeordnete mit Migrationsbiografie. Im Wahlkampf wurde sie von der Initiative Brand New Bundestag unterstützt, die progressive Politik fördert.

Um in den Bundestag gewählt zu werden, haben Sie sich mit der Initiative Brand New Bundestag zusammengetan. Wie blicken Sie auf diese Zusammenarbeit zurück?

Im Wahlkampf war Brand New Bundestag eine Community, die mich noch mal anders aufgefangen hat als meine Partei, die ganz andere Strukturen hat. BNB ist in einem offenen Raum zusammengekommen, wo Platz war für Utopien und wo man Menschen abseits der eigenen Blase kennenlernen konnte. Das war bereichernd. Und beim Crowdfunding haben nicht Betriebe oder Großkonzerne gespendet, sondern Privatpersonen, die ein paar Euro übrig hatten und herausfinden wollten, was passiert, wenn sie uns ihr Vertrauen schenken.

Vorbild für BNB ist die Initiative Brand New Congress aus den USA. Die mittlerweile weltweit bekannte demokratische Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez konnte durch ihre Unterstützung ins Repräsentantenhaus einziehen. War ihr Vorbild auch Motivation für Sie, sich bei BNB zu bewerben?

Ja! Ich liebe AOC, also Alexandria Ocasio-Cortez. Man muss aber sagen, dass Politik in den USA ganz anders funktioniert, mit viel mehr Marketing, Geld und Populismus. Dort gilt: Je lauter, desto besser. AOC hat es geschafft, als No-Name durchzustarten. Ich fand es toll, das in Deutschland zu probieren.

Inwiefern prägt das Vorbild von AOC Ihre Arbeit als Bundestagspolitikerin?

Um Vorbilder für meine Arbeit zu finden, muss ich nicht in andere Länder schauen. Da reicht der Blick ins Bundeskanzleramt. Unsere Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Reem Alabali-Radovan, ist eine unglaubliche Inspiration. Als sie ihre erste Rede im Amt gehalten hat, habe ich wie ein Schlosshund geheult. Eine Person, die weiß, wie es sich anfühlt, nicht zur Mehrheitsgesellschaft zu gehören, als Sprecherin für unsere Interessen zu haben, ist wahnsinnig toll.

Mit welchen Erwartungen und Zielen sind Sie ins Amt als Bundestagsabgeordnete gestartet?

Als ich angetreten bin, war ich überzeugt, dass wir die Welt verbessern. Das bin ich noch immer, die Hoffnung stirbt schließlich zuletzt. Wir standen im vergangenen Jahr vor vielen Herausforderungen, und doch ist da ein anderer Drive als bei der vorherigen Regierung. Und das bei drei Parteien, die inhaltlich auseinandergehen. Vorhaben wie das Bürgergeld und das Selbstbestimmungsgesetz oder Reformen wie die Abschaffung des Paragrafen 219a haben das Potenzial, das Leben vieler Menschen zu verbessern. Wichtig ist mir zudem, mit den Bürger:innen in Kontakt zu treten und Politik nachvollziehbar zu machen. Deshalb gebe ich mich sehr persönlich bei Instagram und bespiele den Account selbst. Dass das ankommt, merke ich an den Reaktionen der Leute. Ich sitze nicht auf diesem Posten, weil ich mich selbst so toll finde, sondern für uns alle. Dieses Haus gehört allen, das ist unsere Demokratie.

Sie haben die Herausforderungen des letzten Jahres erwähnt. Wie gehen Sie mit Frustration um, wenn es nicht vorwärts geht wie erhofft?

Ärgern, Mund abputzen, weitermachen. Ich komme aus einem Landesverband, der sehr klein ist. Die Sozialdemokrat:innen in Sachsen wissen, was es bedeutet, zu kämpfen und enttäuscht zu werden. Dennoch hat mich beispielsweise das Hickhack rund um die Impfpflichtdebatte fertiggemacht. Dass wir nach Monaten des Ringens nicht mal die abgeschwächte Form durchbekommen haben, hat mich geärgert. Als Parlamentarierin habe ich das akzeptiert, aber als Bürgerin konnte ich nur den Kopf schütteln.

Wie nehmen Sie denn das Spannungsfeld aus eigenen politischen Zielen, Parteipolitik und Abstimmung mit den anderen Parteien wahr?

Bestimmte Personen in der Koalition versteifen sich auf Punkte, bei denen ich mich frage: Ist das nötig? Wir reden über den großen Wurf, und dann verstrickt man sich an einzelnen Stellen. Ich will mich nicht damit aufhalten, wer welchen Satz gesagt oder wer wen blöd angekuckt hat. Wir haben echte Probleme in diesem Land und müssen pragmatische Lösungen finden.

Haben Sie in diesem ersten Jahr herausgefunden, wie Sie dieses Brennen für die eigenen Ziele und die Abstimmung mit anderen ausbalancieren?

Ich bin eine sehr pragmatische Person und keine Revoluzzerin. Wer gehört werden und etwas voranbringen will, sollte eine Sprache wählen, bei der Menschen bereit sind, zuzuhören. Ich habe durch all die Verhandlungen und neuen Posten gelernt, selbstbewusster zu kommunizieren und Dinge durchzusetzen. Natürlich gibt es Momente, in denen mich alles nervt. Aber ich bin Idealistin und mache diese Arbeit zum Wohle des Landes, so pathetisch das klingt.

Sie haben von Idealismus, aber auch vom Frustriertsein gesprochen. Ist dieser Jetzt-kann-ich-was-verändern-Vibe noch so lebendig wie vor einem Jahr?

Das erste Jahr war eine Achterbahn der Gefühle. Als Putins Armee Ende Februar in die Ukraine einmarschiert ist, nahm mir das den Wind aus den Segeln. Die ersten 48 Stunden verbrachte ich wie im Film. Ich saugte alle erhältlichen Informationen auf und dachte: Was soll ich tun? Wie sollen wir nun Politik machen und unsere Themen voranbringen? Das wird nix mehr. Doch dann habe ich erlebt, wie schnell wir Dinge möglich machen konnten, beispielsweise dass geflüchtete Menschen rasch Zugang zu Arbeit bekommen. Daraus ziehe ich neue Motivation.