ZEIT für X
Sabine Fischer

Wie steht es um den Zusammen­halt in der EU, Frau Fischer?

10. Januar 2023
Ein Artikel von Studio ZX

Europa steht unter dem Druck einer Vielzahl von Krisen. Mit Sabine Fischer, Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sprachen wir über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und des Ukraine-Krieges auf Europa.

von Stella Pfeiffer und Julia Loibl, Studio ZX

Klimawandel, Pandemie, Ukraine-Krieg – der Zusammenhalt Europas steht angesichts kontinentaler und globaler Krisen vor einer Zerreiß­probe. Während russische Propaganda in den Reibereien der Mitglieds­staaten schon das Ende der Europäischen Union sah, ist laut Sabine Fischer das Gegen­teil der Fall. Die Politik­wissenschaftlerin und Russland­expertin ist Senior Fellow bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik – und erkennt trotz des Krieges und anti­europäischer Kräfte ein Zusammen­rücken Europas. Im Interview mit ZEIT für Demokratie erklärt sie ihre Sicht der Dinge.

Studio ZX: Frau Fischer, im Kampf gegen das Coronavirus wurde oft gewarnt, dass die EU-Mitglieds­staaten sich voneinander distanzieren könnten. Mit Beginn des russischen Angriffs­krieges gegen die Ukraine hat das Europäische Bündnis allerdings einheitlich und gemeinsam gehandelt. Bringen sicher­heits­politische Fragen die EU-Mitglieds­staaten tatsächlich wieder näher zusammen – oder trügt der Schein?

Sabine Fischer: Zu Pandemiebeginn reagierten viele EU-Mitglieds­staaten erst einmal auf nationaler und nicht auf europäischer Ebene. Die Grenz­schließungen und die Konkurrenz um medizinische Ausrüstung erinnerten an ein Europa der national­staatlichen Interessen­konkurrenz. Ich habe in dieser Phase in Russland gelebt und die Situation in der EU auch aus der russischen Perspektive beobachtet: In den staatlich kontrollierten russischen Medien wurden die Reibungen zwischen den EU-Mitglieds­staaten wahnsinnig hoch­gespielt. Die schrecklichen Bilder davon, wie das Virus in Norditalien wütete, wurden missbraucht, um der russischen Bevölkerung den Niedergang Europas zu beweisen. Nicht berichtet wurde in den folgenden Monaten, wie es den EU-Mitglieds­staaten und den EU-Institutionen gelang, zu einer gemeinsamen Pandemie­politik zu finden. Ganz wichtig war in diesem Zusammenhang die Einigung über den Wieder­auf­bau­fonds, aber auch die Entwicklung von Vakzinen und die Impf­kampagnen, die nicht in allen EU-Staaten gleich erfolgreich verliefen, aber in jedem Fall erfolgreicher als in Russland. Ich erwähne das, weil wir uns mit der eigenen Analyse der EU-Pandemie­politik nicht zu stark dem russischen Propaganda­narrativ nähern dürfen. Der erste Schock nach dem Ausbruch der Pandemie hat zu Distanzierungen geführt, aber danach gab es eine gemeinsame Politik – und es gibt sie bis heute.

Steht die Einigkeit, mit der die EU auf die erneute russische Invasion in die Ukraine reagierte, im Kontrast zu ihrer Pandemie­politik?

Nein, aber dennoch ist die Einigkeit beeindruckend, wenn man bedenkt, wie schnell und tief­greifend die Veränderung ist. Auch hier gibt es Reibungen – im letzten Herbst zum Beispiel bei den Gesprächen über das 9. Sanktionspaket und die Höhe der Preis­deckelung für russische Ölexporte. Vor allem Ungarn betreibt Balancing und Opportunismus gegenüber Moskau. Aber der Konsens und die Entschlossenheit der EU sind dadurch nicht gefährdet – und das wird auch so bleiben.

Wie hat sich die Rolle der post­sozialistischen EU-Mitglieds­staaten seit Beginn des Angriffs­krieges verändert?

Der groß angelegte russische Überfall auf die Ukraine hat die bisherige Politik Deutschlands und Frankreichs in den Augen vieler europäischer Partner­länder weitgehend diskreditiert. Der Glaube, dass Sicherheit in Europa auch nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 nur mit und nicht gegen Russland möglich sei, oder die Weigerung, die Energie­beziehungen mit Russland kritisch zu über­denken, haben sich als falsch erwiesen. Auch das Festhalten an Nord Stream 2 und die beharrliche Ablehnung einer engeren sicher­heits­politischen Zusammenarbeit mit der Ukraine werden der deutschen und französischen Politik heute von vielen mittel­ost­europäischen Staaten zur Last gelegt. Die zögerliche deutsche Haltung im Hinblick auf die Lieferung von Kampf­panzern und anderen schweren Waffen­systemen erscheint aus ihrer Perspektive wie eine Fortführung dieser Politik. Manchmal schießt die Kritik über das Ziel hinaus, aber unterm Strich lagen Polen oder die baltischen Staaten mit ihren Warnungen vor der Politik des russischen Regimes viel richtiger als Deutschland oder Frankreich. Das stärkt sie nun politisch, während Deutschland und Frankreich mit einem Vertrauens­verlust umgehen müssen.

Die EU-Mitgliedschaft ist für die Ukraine und Moldau angesichts der russischen Aggression überlebens­wichtig.

Sabine Fischer, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

Seit dem russischen Angriffskrieg haben sich mehrere Staaten, darunter die Republik Moldau und die Ukraine, um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beworben. Halten Sie deren Beitritt für realistisch? Und wie würde sich eine derartige Ost­erweiterung auf das bestehende Bündnis auswirken?

Ich halte den Beitritt für sehr realistisch, wenn auch der Weg dorthin kompliziert und lang­wierig sein wird. Die EU-Mitgliedschaft ist für die Ukraine und Moldau angesichts der russischen Aggression über­lebens­wichtig – das Gleiche gilt für Georgien. Das Land hat noch keinen Kandidaten­status, aber eine Beitritts­perspektive erhalten. Eine europäische Integration ist die einzige Möglichkeit, diese Länder und Gesellschaften in der extrem angespannten geopolitischen Situation langfristig von innen heraus und nachhaltig zu stabilisieren.

Können Sie das noch ein wenig ausführen?

Es geht dabei nicht nur um den Export von Normen und Werten. Die Beitritts­prozesse und die demokratische Entwicklung dieser Staaten sind ein elementares Sicherheits­interesse der EU selbst. Es kann nicht genug betont werden, welch katastrophale Folgen es für die europäische Sicherheit hätte, wenn Russland seine Kriegs­ziele in der Ukraine erreichen würde und damit auch seine imperialistische Politik Bestätigung fände – mit möglicher­weise schwer­wiegenden Folgen auch für andere Länder in der russischen Nachbarschaft. In der Ukraine selbst entstünde ein riesiger rechts­freier Raum, der mit Russland und Belarus ein Dreieck der Instabilität mitten in Europa bilden würde. Angesichts dieser Alternative liegt es auf der Hand, dass die EU-Mitgliedschaft auf lange Sicht die bessere Lösung für Gesamt­europa ist – und dabei schließe ich die russische Gesellschaft, nicht jedoch das Regime, ausdrücklich mit ein.

Aber ist die Erweiterung nicht auch eine große Heraus­forderung für die EU?

Ja, darüber darf nicht hinweggesehen werden. Das betrifft die stockenden Beitritts­prozesse der West­balkan­länder ebenso wie die politischen Prozesse innerhalb der EU und zwischen den EU-Mitglieds­staaten. Hier gilt es, die Beziehungen bewusst und sorgsam zu gestalten und Fehl­entwicklungen immer wieder zu korrigieren.

Die deutsche Politik weist viel Kontinuität auf. Weder der Brexit noch der Konflikt mit Russland haben die westlichen Bündnisse zerstören können.

Sabine Fischer, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

Brexit, ein neuer deutscher Kanzler und veränderte geopolitische Verhältnisse – wie haben sich die Dynamiken innerhalb der Europäischen Bündnisse verändert?

Ich würde den Brexit oder die geopolitischen Konflikte mit Russland nicht auf eine Stufe mit der Ablösung von Merkel durch Scholz stellen. Die deutsche Politik weist viel Kontinuität auf. Weder der Brexit noch der Konflikt mit Russland haben die westlichen Bündnisse zerstören können. Gerade die Bedrohung durch die russische Aggression hat im Rahmen der NATO neue Spielräume für die Kooperation mit Großbritannien eröffnet. Das ist eine der vielen vom Kreml sicher nicht beabsichtigten Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine.

Zwar sind die Mitgliedsstaaten der EU in bestimmten Punkten näher zusammen­gerückt, aber auf nationaler Ebene sind große Heraus­forderungen weiterhin sichtbar. In Italien ist ein Rechts­ruck schon länger zu beobachten – auch in Deutschland versuchen Stimmen von rechts, den Unmut der Bevölkerung über die Sanktionen für sich zu instrumentalisieren. Fürchten Sie, dass anti­europäische Einstellungen im Zuge der Krisen innerhalb der EU-Mitglieds­staaten wachsen?

Die innenpolitischen Entwicklungen in Italien sind in der Tat besorgnis­erregend. Ihre Ursache liegt in der Krise und im Zerfall des Parteien­systems – diese Entwicklung hat bereits in den 2000er-Jahren begonnen. Eine ganz ähnliche Situation haben wir in Frankreich: Auch Emmanuel Macron und seine Partei „Renaissance“ sind ein Produkt dieses Zerfalls­prozesses – mit seiner lang­jährigen rechts­populistischen Widersacherin Marine Le Pen könnten die nächsten französischen Präsidentschafts­wahlen sehr schwierig für Frankreich werden. In Deutschland ist das Parteien­system bislang wesentlich stabiler. Die Versuche politischer Kräfte am rechten und linken Rand, größere Bevölkerungs­gruppen gegen die Regierungs­politik zu mobilisieren, haben bisher eher mäßigen Erfolg. Natürlich ist nicht ausgemacht, dass das weiterhin so bleibt.

Der russische Krieg gegen die Ukraine und seine wirtschaftlichen Folgen für Europa setzen alle europäischen Gesellschaften enorm unter Druck.

Sabine Fischer, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin

Das klingt nicht sehr optimistisch …

Der russische Krieg gegen die Ukraine und die wirtschaftlichen Folgen setzen Europa enorm unter Druck. Anti­europäische Kräfte werden auch in den kommenden Jahren versuchen, das für sich zu nutzen. Die EU und die Regierungen ihrer Mitglieds­staaten müssen deshalb besonders auf Aufklärung und sozialen Ausgleich in der wirtschaftlichen Krise setzen, damit das Spaltpotenzial nicht weiter wächst. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Krieg nicht schnell enden und der Druck auch nicht bald verschwinden wird.

Sabine Fischer ist Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die studierte Politik­wissenschaftlerin und ausgewiesene Russland­expertin forscht und berät zu russischer Innen- und Außen­politik, der Politik der EU gegenüber Russland und der östlichen Nachbarschaft sowie den Kriegen und Konflikten in der östlichen Nachbarschaft. Sie ist außerdem geschäfts­führende Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Ost­europa­kunde und als Beirätin zum Beispiel für Russland­analysen und politische Stiftungen tätig. Von 2018 bis 2021 leitete sie gemeinsam mit Jens Siegert am Goethe-Institut Moskau das EU-finanzierte Projekt „Public Diplomacy. EU and Russia“.

Sabine Fischer
© Andreas Henn für Studio ZX