Wie steht es um den Zusammenhalt in der EU, Frau Fischer?
Europa steht unter dem Druck einer Vielzahl von Krisen. Mit Sabine Fischer, Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, sprachen wir über die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und des Ukraine-Krieges auf Europa.
Klimawandel, Pandemie, Ukraine-Krieg – der Zusammenhalt Europas steht angesichts kontinentaler und globaler Krisen vor einer Zerreißprobe. Während russische Propaganda in den Reibereien der Mitgliedsstaaten schon das Ende der Europäischen Union sah, ist laut Sabine Fischer das Gegenteil der Fall. Die Politikwissenschaftlerin und Russlandexpertin ist Senior Fellow bei der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik – und erkennt trotz des Krieges und antieuropäischer Kräfte ein Zusammenrücken Europas. Im Interview mit ZEIT für Demokratie erklärt sie ihre Sicht der Dinge.
Studio ZX: Frau Fischer, im Kampf gegen das Coronavirus wurde oft gewarnt, dass die EU-Mitgliedsstaaten sich voneinander distanzieren könnten. Mit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat das Europäische Bündnis allerdings einheitlich und gemeinsam gehandelt. Bringen sicherheitspolitische Fragen die EU-Mitgliedsstaaten tatsächlich wieder näher zusammen – oder trügt der Schein?
Sabine Fischer: Zu Pandemiebeginn reagierten viele EU-Mitgliedsstaaten erst einmal auf nationaler und nicht auf europäischer Ebene. Die Grenzschließungen und die Konkurrenz um medizinische Ausrüstung erinnerten an ein Europa der nationalstaatlichen Interessenkonkurrenz. Ich habe in dieser Phase in Russland gelebt und die Situation in der EU auch aus der russischen Perspektive beobachtet: In den staatlich kontrollierten russischen Medien wurden die Reibungen zwischen den EU-Mitgliedsstaaten wahnsinnig hochgespielt. Die schrecklichen Bilder davon, wie das Virus in Norditalien wütete, wurden missbraucht, um der russischen Bevölkerung den Niedergang Europas zu beweisen. Nicht berichtet wurde in den folgenden Monaten, wie es den EU-Mitgliedsstaaten und den EU-Institutionen gelang, zu einer gemeinsamen Pandemiepolitik zu finden. Ganz wichtig war in diesem Zusammenhang die Einigung über den Wiederaufbaufonds, aber auch die Entwicklung von Vakzinen und die Impfkampagnen, die nicht in allen EU-Staaten gleich erfolgreich verliefen, aber in jedem Fall erfolgreicher als in Russland. Ich erwähne das, weil wir uns mit der eigenen Analyse der EU-Pandemiepolitik nicht zu stark dem russischen Propagandanarrativ nähern dürfen. Der erste Schock nach dem Ausbruch der Pandemie hat zu Distanzierungen geführt, aber danach gab es eine gemeinsame Politik – und es gibt sie bis heute.
Steht die Einigkeit, mit der die EU auf die erneute russische Invasion in die Ukraine reagierte, im Kontrast zu ihrer Pandemiepolitik?
Nein, aber dennoch ist die Einigkeit beeindruckend, wenn man bedenkt, wie schnell und tiefgreifend die Veränderung ist. Auch hier gibt es Reibungen – im letzten Herbst zum Beispiel bei den Gesprächen über das 9. Sanktionspaket und die Höhe der Preisdeckelung für russische Ölexporte. Vor allem Ungarn betreibt Balancing und Opportunismus gegenüber Moskau. Aber der Konsens und die Entschlossenheit der EU sind dadurch nicht gefährdet – und das wird auch so bleiben.
Wie hat sich die Rolle der postsozialistischen EU-Mitgliedsstaaten seit Beginn des Angriffskrieges verändert?
Der groß angelegte russische Überfall auf die Ukraine hat die bisherige Politik Deutschlands und Frankreichs in den Augen vieler europäischer Partnerländer weitgehend diskreditiert. Der Glaube, dass Sicherheit in Europa auch nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbass 2014 nur mit und nicht gegen Russland möglich sei, oder die Weigerung, die Energiebeziehungen mit Russland kritisch zu überdenken, haben sich als falsch erwiesen. Auch das Festhalten an Nord Stream 2 und die beharrliche Ablehnung einer engeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit der Ukraine werden der deutschen und französischen Politik heute von vielen mittelosteuropäischen Staaten zur Last gelegt. Die zögerliche deutsche Haltung im Hinblick auf die Lieferung von Kampfpanzern und anderen schweren Waffensystemen erscheint aus ihrer Perspektive wie eine Fortführung dieser Politik. Manchmal schießt die Kritik über das Ziel hinaus, aber unterm Strich lagen Polen oder die baltischen Staaten mit ihren Warnungen vor der Politik des russischen Regimes viel richtiger als Deutschland oder Frankreich. Das stärkt sie nun politisch, während Deutschland und Frankreich mit einem Vertrauensverlust umgehen müssen.
Die EU-Mitgliedschaft ist für die Ukraine und Moldau angesichts der russischen Aggression überlebenswichtig.
Sabine Fischer, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin
Seit dem russischen Angriffskrieg haben sich mehrere Staaten, darunter die Republik Moldau und die Ukraine, um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beworben. Halten Sie deren Beitritt für realistisch? Und wie würde sich eine derartige Osterweiterung auf das bestehende Bündnis auswirken?
Ich halte den Beitritt für sehr realistisch, wenn auch der Weg dorthin kompliziert und langwierig sein wird. Die EU-Mitgliedschaft ist für die Ukraine und Moldau angesichts der russischen Aggression überlebenswichtig – das Gleiche gilt für Georgien. Das Land hat noch keinen Kandidatenstatus, aber eine Beitrittsperspektive erhalten. Eine europäische Integration ist die einzige Möglichkeit, diese Länder und Gesellschaften in der extrem angespannten geopolitischen Situation langfristig von innen heraus und nachhaltig zu stabilisieren.
Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Es geht dabei nicht nur um den Export von Normen und Werten. Die Beitrittsprozesse und die demokratische Entwicklung dieser Staaten sind ein elementares Sicherheitsinteresse der EU selbst. Es kann nicht genug betont werden, welch katastrophale Folgen es für die europäische Sicherheit hätte, wenn Russland seine Kriegsziele in der Ukraine erreichen würde und damit auch seine imperialistische Politik Bestätigung fände – mit möglicherweise schwerwiegenden Folgen auch für andere Länder in der russischen Nachbarschaft. In der Ukraine selbst entstünde ein riesiger rechtsfreier Raum, der mit Russland und Belarus ein Dreieck der Instabilität mitten in Europa bilden würde. Angesichts dieser Alternative liegt es auf der Hand, dass die EU-Mitgliedschaft auf lange Sicht die bessere Lösung für Gesamteuropa ist – und dabei schließe ich die russische Gesellschaft, nicht jedoch das Regime, ausdrücklich mit ein.
Aber ist die Erweiterung nicht auch eine große Herausforderung für die EU?
Ja, darüber darf nicht hinweggesehen werden. Das betrifft die stockenden Beitrittsprozesse der Westbalkanländer ebenso wie die politischen Prozesse innerhalb der EU und zwischen den EU-Mitgliedsstaaten. Hier gilt es, die Beziehungen bewusst und sorgsam zu gestalten und Fehlentwicklungen immer wieder zu korrigieren.
Die deutsche Politik weist viel Kontinuität auf. Weder der Brexit noch der Konflikt mit Russland haben die westlichen Bündnisse zerstören können.
Sabine Fischer, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin
Brexit, ein neuer deutscher Kanzler und veränderte geopolitische Verhältnisse – wie haben sich die Dynamiken innerhalb der Europäischen Bündnisse verändert?
Ich würde den Brexit oder die geopolitischen Konflikte mit Russland nicht auf eine Stufe mit der Ablösung von Merkel durch Scholz stellen. Die deutsche Politik weist viel Kontinuität auf. Weder der Brexit noch der Konflikt mit Russland haben die westlichen Bündnisse zerstören können. Gerade die Bedrohung durch die russische Aggression hat im Rahmen der NATO neue Spielräume für die Kooperation mit Großbritannien eröffnet. Das ist eine der vielen vom Kreml sicher nicht beabsichtigten Folgen des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Zwar sind die Mitgliedsstaaten der EU in bestimmten Punkten näher zusammengerückt, aber auf nationaler Ebene sind große Herausforderungen weiterhin sichtbar. In Italien ist ein Rechtsruck schon länger zu beobachten – auch in Deutschland versuchen Stimmen von rechts, den Unmut der Bevölkerung über die Sanktionen für sich zu instrumentalisieren. Fürchten Sie, dass antieuropäische Einstellungen im Zuge der Krisen innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten wachsen?
Die innenpolitischen Entwicklungen in Italien sind in der Tat besorgniserregend. Ihre Ursache liegt in der Krise und im Zerfall des Parteiensystems – diese Entwicklung hat bereits in den 2000er-Jahren begonnen. Eine ganz ähnliche Situation haben wir in Frankreich: Auch Emmanuel Macron und seine Partei „Renaissance“ sind ein Produkt dieses Zerfallsprozesses – mit seiner langjährigen rechtspopulistischen Widersacherin Marine Le Pen könnten die nächsten französischen Präsidentschaftswahlen sehr schwierig für Frankreich werden. In Deutschland ist das Parteiensystem bislang wesentlich stabiler. Die Versuche politischer Kräfte am rechten und linken Rand, größere Bevölkerungsgruppen gegen die Regierungspolitik zu mobilisieren, haben bisher eher mäßigen Erfolg. Natürlich ist nicht ausgemacht, dass das weiterhin so bleibt.
Der russische Krieg gegen die Ukraine und seine wirtschaftlichen Folgen für Europa setzen alle europäischen Gesellschaften enorm unter Druck.
Sabine Fischer, Senior Fellow, Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin
Das klingt nicht sehr optimistisch …
Der russische Krieg gegen die Ukraine und die wirtschaftlichen Folgen setzen Europa enorm unter Druck. Antieuropäische Kräfte werden auch in den kommenden Jahren versuchen, das für sich zu nutzen. Die EU und die Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten müssen deshalb besonders auf Aufklärung und sozialen Ausgleich in der wirtschaftlichen Krise setzen, damit das Spaltpotenzial nicht weiter wächst. Aber wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Krieg nicht schnell enden und der Druck auch nicht bald verschwinden wird.
Sabine Fischer ist Senior Fellow bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Die studierte Politikwissenschaftlerin und ausgewiesene Russlandexpertin forscht und berät zu russischer Innen- und Außenpolitik, der Politik der EU gegenüber Russland und der östlichen Nachbarschaft sowie den Kriegen und Konflikten in der östlichen Nachbarschaft. Sie ist außerdem geschäftsführende Vorständin der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und als Beirätin zum Beispiel für Russlandanalysen und politische Stiftungen tätig. Von 2018 bis 2021 leitete sie gemeinsam mit Jens Siegert am Goethe-Institut Moskau das EU-finanzierte Projekt „Public Diplomacy. EU and Russia“.