ZEIT für X
Blick in das DUHL mit Stadtmodellen und Rekonstruktionsprozessen.

Digitales Forschungslabor zur histo­rischen Stadt­entwicklung

08. Dezember 2022
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Ein Beitrag der Hochschule Mainz.

Digitaler Wandel und die Erforschung unserer Vergangenheit – Möglichkeiten und Herausforderungen.

Ein Beitrag aus dem Themenschwerpunkt „Angewandte Forschung an Hochschulen“.

„Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten” (August Bebel 1840-1913). Welche neuen Möglichkeiten und Herausforderungen bringt der digitale Wandel für die Erforschung, Dokumentation und Vermittlung unserer Vergangenheit? Wie kann die komplexe räumliche Entwicklungsgeschichte unserer Städte für ein breites Publikum begreifbar gemacht werden? Diesen Fragen widmet sich das Projekt DIGITAL URBAN HISTORY LAB im Landesmuseum Mainz.

Die digitale 3D Rekonstruktion unserer Städte und ihrer Architektur hält seit den 1990er Jahre verstärkt Einzug in Dokumentationssendungen und Museumsausstellungen, aber auch in die Kinderzimmer der „Digital Natives“ mit fotorealistischen Bildern bzw. in Form immersiver Spielewelten. Wie verhält es sich jedoch um die Wissenschaftlichkeit, d.h. die Nachvollziehbarkeit, Zugänglichkeit, Zitierfähigkeit und Wiederverwendbarkeit, der digital (re-)konstruierten 3D-Welten? Hier offenbart sich ein langanhaltendes Desiderat im Bereich digitaler Forschungsmethoden, das vorrangig auf fehlende Standards, Interoperabilität und Infrastrukturen in Bezug auf die 3D-Modelle und das dahinterliegende Wissen zurückzuführen ist.

Steuerung am Touchscreen, Hintergrund: 3D-Stadtmodell von Mainz um 1250.
© Hochschule Mainz /​ Olaf Hirschberg, 2021 Abb. 2: Steuerung am Touchscreen, Hintergrund: 3D-Stadtmodell von Mainz um 1250.

Unsere Institutionen des kulturellen Gedächtnisses erfassen, erforschen, verwalten und vermitteln die Vergangenheit und sichern so für zukünftige Generationen das kulturelle Erbe als identifikationsstiftendes Moment unserer Gesellschaft. Auch die Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz (GDKE) stellte sich im Rahmen der Vorbereitung der Landesausstellung „Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht – Von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa“ (09.09.2020 – 13.06.2021) diese Frage: Wie können die neuesten Erkenntnisse der Stadtarchäologie und Bauforschung zu den mittelalterlichen Städten Mainz, Worms und Speyer aufgearbeitet und vermittelt werden?

Entlang des Rheins entwickelte sich im Hochmittelalter eine der zentralen Kulturlandschaften Europas. Insbesondere Mainz, Worms und Speyer stiegen schnell zu den wichtigsten Städten des Heiligen Römischen Reiches auf und besaßen damit weitreichende soziale und kulturelle Bedeutung. Die zentrale Stellung der drei Reichsstädte spiegelte sich vor allem in der Errichtung großer, repräsentativer Sakralbauten wider, die von Kaisern und Bischöfen in Auftrag gegeben wurden. Durch spätere Zerstörungen und Überbauungen sind allerdings viele Denkmäler dieser Zeit verloren gegangen und heute nur noch durch moderne Bauforschung, durch archäologische Ausgrabungen oder mit Hilfe historischer Quellen nachvollziehbar.

Um die Bedeutung von Mainz, Worms und Speyer zu bewahren und die Identifikation in der Bevölkerung zu fördern, wurde 2018 ein Antrag für das Projekt „Mainz – Worms – Speyer. Drei mittelalterliche Städte im Zentrum Europas als Linked Data“ bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien gestellt. Ziel des bewilligten Projekts war es in enger Kooperation zwischen GDKE und dem Architekturinstitut der Hochschule Mainz (AI MAINZ) digitale Modelle der Städte am Rhein zu erstellen und das diesen Modellen zugrundeliegende Wissen nachhaltig zu sichern. Dabei beschränkte sich die Nachhaltigkeit nicht auf den physischen 3D-Druck der digitalen Modelle und die Ausstellung der Modelle im Maßstab 1:1000, sondern auf die Entwicklung eines Datenmodells zur Dokumentation der Forschungsarbeit in Anlehnung an internationale Standards. Hier hat das Team von AI MAINZ auf die Vorarbeiten bei der Dokumentation von quellen-basierten, hypothetischen 3D-Rekonstruktionen, u.a. der Neue Synagoge Breslau, zurückgegriffen, um eine virtuelle Forschungsumgebung unter Verwendung der Linked Data-Technologien und einem CIDOC CRM-referenzierten Datenmodell zu erstellen1. Diese Umgebung sichert die Nachvollziehbarkeit, Nachhaltigkeit und Interoperabilität der digitalen Forschungsdaten für weitere Forschung.

Virtuelle Forschungsumgebung, Rekonstruktionsprozesse und 3D-Druck.
© Hochschule Mainz /​ Olaf Hirschberg, 2021 Abb. 3: Virtuelle Forschungsumgebung, Rekonstruktionsprozesse und 3D-Druck.

Die Kuratoren und Projektleiter der Landesausstellung erkannten das Potenzial der digitalen 3D-Rekonstruktion und einer cross-medialen Vermittlung der abgebildeten Erkenntnisse. Im Frühjahr 2020 entschied man sich die Ergebnisse des Projektes in einem eigens dafür eingerichteten Raum auch über den Zeitraum der Landesausstellung hinaus einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Das DIGITAL URBAN HISTORY LAB wurde in Kooperation zwischen AI MAINZ und dem Studiengang Zeitbasierte Medien konzipiert und im Juli 2021 im Landesmuseum Mainz eröffnet. Auf die Besucher warten im Lab jeweils zwei gedruckte Modellen zu einer Stadt im Zeitschnitt 800 und 1250 n. Chr., sowie erläuternde Filmsequenzen zu der hypothetischen 3D-Rekonstruktion. Die Stadtmodelle zu Mainz stellen eine Verbindung von verschiedenen Informationsebenen, die über die Bedienung am Touchscreen eine interaktive Abbildung der Inhalte auf dem physischen Modell ermöglicht. Darüber hinaus erläutert das Lab den Prozess der digitalen Rekonstruktion, der Varianten und Versionen sowie die Dokumentation innerhalb der Forschungsumgebung.

Die Ergebnisse werden zum einen innerhalb einer VR-Applikation der offiziellen Mainz App verwendet, die den Besuchern ein Eintauchen in ausgewählte Orte um 800 und 1250 ermöglicht. Zum anderen werden die Erkenntnisse in Lehrveranstaltungen an der Hochschule Mainz angewendet, bei denen digitale Rekonstruktionen der Stadt im Zustand vor den Bombenangriffen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg in Abstimmung mit den digitalen 3D-Stadtmodellen vom Bauamt der Stadt Mainz stattfinden.

Projektpartner/-leitung:

Hochschule Mainz
  • AI MAINZ – Architekturinstitut der Hochschule Mainz / Prof. Dr.-Ing. Piotr Kuroczyński
  • Hochschule Mainz, Fachrichtung Gestaltung, Studiengang Zeitbasierte Medien / Prof. Olaf Hirschberg
  • Landesmuseum Mainz, Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz / Dr. Birgit Heide