Forschende Algorithmen
Techniken der Künstlichen Intelligenz (KI) unterstützen Ärzt:innen bei der Identifizierung von Hautkrebs und helfen Landwirt:innen beim effizienten Einsatz von Düngemitteln. Aber auch Forschenden eröffnet KI neue Möglichkeiten.
Ohne Proteine läuft nichts im Körper: Die Eiweißstoffe geben den Zellen nicht nur ihre Struktur, als molekulare „Maschinen“ erfüllen sie auch vielfältige und lebenswichtige Aufgaben – ob im Immunsystem, Hormonhaushalt, Verdauungstrakt oder in den Muskeln. Zu den kniffligsten Fragen der Molekularbiologie gehört, zu welcher Form faltet sich die lange Aminosäurekette eines Proteins zusammenfaltet. Denn diese dreidimensionale Struktur bestimmt die Funktion der Eiweißstoffe. Wer sie kennt, kann herausfinden, was ein Protein tut. Und mit welchen Wirkstoffen man die Funktion beeinflussen kann.
Diese Entschlüsselung der Proteinstruktur war für Forschende bislang eine ebenso herausfordernde wie langwierige Angelegenheit. „Schließlich geht es dabei darum, die Position von Tausenden von Atomen im Raum korrekt vorherzusagen. Und das ist natürlich extrem komplex“, erläutert Gunnar Schröder, Professor für Molekulare Biophysik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.
Ein Prozess, der sich mithilfe von Algorithmen der KI erheblich erleichtern und beschleunigen lässt. Der Google-Tochter DeepMind ist es 2020 mit ihrer KI namens AlphaFold gelungen, die Faltung von Proteinen ähnlich präzise zu bestimmen wie menschliche Wissenschaftler:innen – allerdings in kürzester Zeit statt in teils jahrelanger Fleißarbeit. Das Programm wurde dazu mit einer großen Menge von Proteindaten gefüttert, deren 3-D-Struktur bekannt war, da sie von Forschenden bereits aufwendig vermessen wurde. AlphaFold trainierte dann anhand dieser Daten, wie man von der Aminosäuresequenz auf die 3-D-Struktur schließt. Mittlerweile hat das Unternehmen DeepMind die vorhergesagten Strukturen für mehr als 200 Millionen Proteine in einer offenen Datenbank bereitgestellt. Ein großer Schritt für die Wissenschaft, sagt Schröder. Zwar seien noch nicht alle Proteinstrukturen korrekt prognostiziert, „aber weit mehr, als man vorher erreichen konnte“.
Sprachmodelle zur Entschlüsselung von Proteinstrukturen
Mit dem System ESMFold von Meta setzt seit jüngerer Zeit ein weiterer Internetkonzern auf die Vorhersage von Proteinstrukturen mittels KI. Grundlage für die Vorhersagen ist ein sogenanntes Large Language Model (LLM). Diese Sprachmodelle werden normalerweise dafür eingesetzt, Texte aus wenigen Buchstaben oder Wörtern zu vervollständigen. ESMFold arbeitet zwar nicht ganz so akkurat wie AlphaFold – aber dafür nach eigenen Angaben rund zehnmal so schnell. 617 Millionen Proteinstrukturen ließen sich mithilfe der KI-Algorithmen bereits vorhersagen. Anders als AlphaFold kann ESMFold für die Charakterisierung von Bakterien, Viren und anderen Mikroben genutzt werden.
Dieser gewaltige Fundus macht für Biophysiker Schröder die geringere Genauigkeit wett. Er erlaube Forschenden vorab eine Orientierung, bei welchen Proteinstrukturen eine weitere und genauere Untersuchung ertragreich sein könnte. „Auf diese Weise kann man auf Dinge stoßen, die man in einer kleineren Datenbank nie entdeckt hätte“, erklärt der Experte.
KI in der Medikamentenentwicklung
Das liefert wichtige Impulse für die Grundlagenforschung, vor allem aber auch für die Entwicklung neuer Wirkstoffe. Überhaupt spielt KI in der Medikamentenentwicklung eine immer größere Rolle. „Derzeit dauert es rund zehn Jahre, bis ein neuer Wirkstoff auf den Markt kommt“, sagt Helena Müller, Doktorandin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der TU Darmstadt. Durchschnittlich verschlingt die Entwicklung einer neuen Arznei 2,6 Milliarden Euro. „Der Einsatz von KI kann diesen Prozess stark beschleunigen und damit auch günstiger machen“, konstatiert Müller.
Derzeit dauert es rund zehn Jahre, bis ein neuer Wirkstoff auf den Markt kommt. Der Einsatz von KI kann diesen Prozess stark beschleunigen und damit auch günstiger machen.
Helena Müller, Doktorandin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik der TU Darmstadt
Der Vorteil von KI: Mit ihrer Hilfe lassen sich große Datenmengen viel schneller analysieren und auf Muster durchleuchten. Aus Abermillionen von Wirkstoffkandidaten können so jene Moleküle ausgewählt werden, die präzise gegen verschiedene Erkrankungen helfen. Das ist das erklärte Ziel der Darmstädter Forscher:innen, die dabei mit Microsoft und dem Pharmakonzern Novartis kooperieren.
Resistente Keime unschädlich machen
Jenseits des Atlantiks, am Massachusetts Institute of Technology, haben Forscher:innen mittels KI ein neuartiges Antibiotikum entdeckt, das resistente Bakterien effizient bekämpft. Und das tut Not. Schließlich haben sich antibiotikaresistente Erreger längst zu einem Problem globalen Ausmaßes entwickelt – für den Menschen und in der Landwirtschaft. In 50 Prozent der Fälle versagt ein Drittel der gängigen Mittel bei Hühnern, bei Schweinen ist es ein Viertel. Alleine in Deutschland sterben Schätzungen zufolge jedes Jahr zwischen 1.000 und 4.000 Menschen, weil sich die krankmachenden Erreger mithilfe von Antibiotika nicht mehr bekämpfen lassen. Bis das von der KI ermittelte Antibiotikum namens Halicin in der Humanmedizin eingesetzt werden kann, wird es zwar noch einige Jahre dauern. Bei Mäusen konnte es Bakterienstämme aber bereits verlässlich unschädlich machen.
Neue Möglichkeiten im Proteindesign
KI-Systeme zur Vorhersage von Proteinfaltungen werden mittlerweile nicht mehr nur von großen Konzernen vorangetrieben, sondern auch von offenen Initiativen der Wissenschafts-Community selbst. Durch die erzielten Fortschritte werde sich auch die Möglichkeit, Proteine gezielt zu designen, drastisch erweitern, ist sich Biophysiker Schröder sicher. Das mögliche Spektrum reicht von neuartigen Wirkstoffen bis hin zu biokompatiblen Materialien, die etwa zertrennte Nervenenden wieder zusammenwachsen lassen. Denkbar wären aber auch spezielle Kunststoffe, die nach Gebrauch wieder in ihre Bestandteile zerfallen, wenn sie mit Energie einer bestimmten Wellenlänge bestrahlt werden. „Die Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz eröffnen, sind noch überhaupt nicht abzuschätzen“, so Schröder.
Die Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz eröffnen, sind noch überhaupt nicht abzuschätzen
Gunnar Schröder, Professor für Molekulare Biophysik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Vollständig gelöst ist das Problem der Proteinfaltung freilich noch nicht. Denn die Qualität der KI-Systeme steht und fällt mit der Qualität der Daten, mit denen sie trainiert werden können. Die ist bei den sogenannten Amyloiden bislang noch dürftig. Diese fehlgefalteten Proteine spielen bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson eine wichtige Rolle. Bislang wurden erst um die hundert solcher Strukturen von Wissenschaftler:innen entschlüsselt, eine der ersten hochaufgelösten Darstellungen stellte das Team um den Biophysiker Schröder im Jahr 2017 vor. Viel zu wenig, um damit eine KI zu füttern. „Wir brauchen entweder eine gute Idee, wie KI-Systeme von regulär gefalteten auf fehlgefaltete Proteine schließen können. Oder wir arbeiten einfach weiter, bis wir in ein paar Jahren einige Tausend dieser Strukturen gelöst haben, mit denen die KI dann arbeiten kann“, sagt Schröder. Die KI wird also auch in Zukunft niemals ohne Wissenschaftler:innen funktionieren.