Kein Land unter
Flutkatastrophen wie die im Ahrtal 2021 sind vorhersagbar – unter anderem durch die clevere Nutzung von Sensor- und Wetterdaten. Forschende Unternehmen machen es vor.
Die Warnung kommt am Tag der Katastrophe um 15.26 Uhr vom Landesumweltamt Rheinland-Pfalz. Bei diesem Hochwasser, so heißt es, könnte die Ahr einen bedrohlichen Höchststand erreichen: 5,19 Meter am Pegel Altenahr. Normalerweise ist die Ahr ein friedliches Flüsschen, nicht mal einen Meter tief. Um 20.45 Uhr misst der Pegel bereits 5,75 Meter. Das ist der letzte übermittelte Wert, danach wird das Messgerät von den Fluten fortgerissen.
Das Jahrhunderthochwasser, bei dem alleine im Ahrtal 134 Menschen ums Leben kamen, jährt sich am 14. Juli zum ersten Mal. Noch immer sind die Menschen an der Ahr mit dem Aufräumen beschäftigt, viele werden nie wieder in ihre Häuser zurückkehren können. Längst hat die Aufarbeitung der Ursachen begonnen. Das Hochwasser hätte man wohl nicht verhindern können, wohl aber die späten und ungenauen Hochwasserprognosen mit ihren katastrophalen Folgen. Wie, so fragen sich nicht nur die Menschen im Ahrtal, lassen sich solche tödlichen Fluten künftig besser vorhersagen?
Wachhund künstliche Intelligenz
Verschiedene Unternehmen feilen dafür an technischen Lösungen. So testet der Softwareentwickler tablano im schwäbischen Ammerbuch ein digitales Frühwarnkonzept. Und die Wuppertaler Heinz Berger Maschinenfabrik, die 2021 unter Wasser stand, entwickelte kurzerhand selbst ein Hochwasserfrühwarnsystem. Not macht eben erfinderisch. Einen spannenden technischen Ansatz hat der Messtechnikhersteller Endress+Hauser zusammen mit dem Start-up Okeanos entwickelt: ein Frühwarnsystem, das durch Sensormessungen und künstliche Intelligenz Gebiete, in denen Bäche und Flüsse verlaufen, permanent überwacht. Steigt die Hochwassergefahr, werden Krisenstäbe und Feuerwehr frühzeitig informiert und gewinnen dadurch wertvolle Zeit, um Menschen und Gebäude zu schützen.
Schon 2019 haben sich die beiden Unternehmen zusammengetan: die Messtechnik-Expert:innen aus der Schweiz und die Programmierer:innen, die sich auf die Entwicklung von Algorithmen für Hydrologie und Wasserwirtschaft spezialisiert haben. Beiden war aufgefallen, dass kleine Gewässer bisher kaum überwacht werden. „Große Städte haben eine eigene Hochwasservorhersage, kleineren Gemeinden fehlt dafür das Personal. Erschwerend kommt hinzu: Bei kleinen Gewässern – das heißt Bächen mit nur kurzer Fließstrecke bis zu den Hängen, an denen ein Hochwasser entsteht – ist die Anstiegszeit eines Hochwassers sehr kurz. Den Einsatzkräften bleibt also nur sehr wenig Zeit, bis eine Welle die ersten Häuser erreicht“, sagt der Hydrologe Henning Oppel, einer der beiden Okeanos-Gründer.
Große Städte haben eine eigene Hochwasservorhersage, kleineren Gemeinden fehlt dafür das Personal. Erschwerend kommt hinzu: Bei kleinen Gewässern ist die Anstiegszeit eines Hochwassers sehr kurz.
Henning Oppel, Gründer des Start-ups Okeanos
Versteckte Ermittler
Das Frühwarnsystem „Netilion Flood Monitoring“ erkennt das Hochwasser bereits an seinem Ursprung. Batteriebetriebene Pegelmessgeräte, Regenmengen- sowie Starkregen- und Bodenfeuchtesensoren sammeln Sensordaten direkt an Bach- und Flussläufen. Die Installation des Systems ist unkompliziert. Die Pegelsensoren werden unauffällig unter Brücken montiert, andere Sensoren einfach im Boden vergraben. Die Geräte senden ihre Messwerte an die Cloud-Plattform Netilion von Endress+Hauser. Dort wird mithilfe von künstlicher Intelligenz eine hydrologische Gebietswarnung erstellt.
In die Berechnung fließen neben den Sensormesswerten auch Daten von Wetterdiensten und aus Prozessleitsystemen von Wasserwerken, Zweckverbänden und Behörden ein. „Auf dieser Basis kann unsere KI vorhersagen, ob in einer bestimmten Kommune ein Hochwasser droht und an welchen Stellen die Ursachen dafür liegen“, erklärt Oppel. Dank kontinuierlich eingespeister Daten lernt die künstliche Intelligenz ständig dazu. Werden kritische Werte erreicht, alarmiert das System die Nutzer:innen automatisch per Smartphone, Tablet oder Computer. Im Durchschnitt liegt der Zeitgewinn allein durch die Messungen bei bis zu einer Stunde. Fließt auch eine Niederschlagsprognose für die nächsten Stunden mit ein, verlängert sich die Vorhersage entsprechend.
Forschung in eigener Hand
Das Projekt zeigt beispielhaft, wie forschende Unternehmen in kurzer Zeit praxistaugliche Lösungen für drängende Probleme entwickeln. Seit Ende 2019 tüftelten die Entwickler:innen von Endress+Hauser an dem Hochwasserfrühwarnsystem. Den Anfang machte die Pegelmessung mit einem damals neu entwickelten, intelligenten Radar-Füllstandmessgerät. Im Jahr darauf begann die Kooperation mit Okeanos. Der von den Gründern entwickelte Algorithmus basiert auf der Grundlagenforschung des Start-ups im Bereich Hydrologie.
„‚Netilion Flood Monitoring‘ ist ein Beispiel dafür, wie wir bei Endress+Hauser durch das Internet of Things konkrete Mehrwerte für die Nutzer:innen schaffen. Das gelingt uns hier durch die Kombination von Messwerten, einer Cloud-Plattform und einer KI“, erklärt Eric Birgel, System Owner im unternehmenseigenen Innovation Lab von Endress+Hauser. „Alle drei Zutaten dieser Kombination resultieren aus unserer eigenen Entwicklung und Forschung: Wir haben die Sensoren für die Pegelstände und die Bodenfeuchte sowie die Cloud-Plattform Netilion selbst entwickelt – und wir können dank der Skalierbarkeit unserer Cloud-Architektur den von Okeanos entwickelten KI-Algorithmus in unser digitales Ökosystem integrieren“, so Birgel.
Keimzelle für Geschäftsmodelle
Der Forschungsaufwand für solche Innovationen ist beträchtlich. Bei Endress+Hauser beschäftigen sich gruppenweit von insgesamt 15.100 Mitarbeitenden 1.200 mit Forschung und Entwicklung. Das im Geschäftsbereich Level+Pressure frisch gegründete Innovation Lab dient als Keimzelle für neue Herangehensweisen und Geschäftsmodelle. Um Innovationen gezielt zu fördern, wurde das Innovationsmanagement direkt an die Geschäftsleitung angebunden.
Wie Menschen von der Innovation profitieren, zeigt sich schon in der Praxis. Bei einem Pilotprojekt in Lenzkirch im Schwarzwald hat sich das Hochwasserfrühwarnsystem „Netilion Flood Monitoring“ bewährt. „Das System kann ein Hochwasser natürlich nicht vermeiden“, sagt der Bürgermeister von Lenzkirch, Andreas Graf. „Aber wir gewinnen durch die frühe Warnung wertvolle Zeit, um die nötigen Maßnahmen einzuleiten. Bei einer Überschwemmung zählt schließlich jede Minute.“
Forschungstreiber
Erfindergeist ist beim Messtechnikhersteller Endress+Hauser ein wichtiger Wachstumstreiber. Im Jahr 2021 wendete das Schweizer Unternehmen 213 Millionen Euro bzw. 7,4 Prozent des Umsatzes für Forschung und Entwicklung auf. Insgesamt verfügt es über 8.600 „lebende“ Patente und Patentanmeldungen. Im Jahr 2021 vermeldete das Familienunternehmen mit Sitz im schweizerischen Reinach 258 Erstanmeldungen bei Patentämtern.