ZEIT für X

Lösungen für eine bessere Welt

01. April 2022
Ein Artikel von Studio ZX.

Welches sind die wichtigsten Hebel, um die gegen­wärtigen Krisen zu bewältigen? Zukunfts­forscher Ulrich Eberl über das Potenzial wissenschaftlicher Errungenschaften.

von Nataša Ivaković, Studio ZX

Studio ZX: Herr Eberl, vom Klimawandel über Plastikmüll bis zu Pandemien und Arten­sterben – Krisen überall. Dabei bietet die Wissenschaft schon viel­versprechende Lösungen. Warum werden die Debatten so emotional geführt anstatt auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse?

Ulrich Eberl: Viele Menschen erkennen intuitiv, dass es so nicht weiter­gehen kann. Wir brauchen Revolutionen auf vielen Gebieten: Wir müssen Energie gewinnen ohne Kohle, mobil sein ohne Öl, heizen ohne Erdgas, bauen ohne Beton, wirtschaften ohne Müll, leben mit der Natur, nicht gegen sie – das sind gewaltige Heraus­forderungen. Da kann man schon in Panik geraten, aber Angst ist ein schlechter Ratgeber. Gute Wissenschaft ist viel besser, wie wir bei den Impf­stoffen gegen das Coronavirus sehen.

Aber haben wir überhaupt eine Chance? Vor genau 50 Jahren, im März 1972, wurde im Auftrag des Club of Rome die Studie „The Limits to Growth“ veröffentlicht. Darin wird der Menschheit im 21. Jahrhundert der Kollaps prophezeit, verursacht durch knapper werdende Rohstoffe und Nahrungs­mittel sowie durch die Umwelt­verschmutzung. Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?

Über Details dieser Computersimulationen lässt sich streiten, aber die Krisen sind real. Vor 50 Jahren überstieg der ökologische Fußabdruck des Menschen erstmals die Biokapazität der Erde. Heute nutzen wir die Ressourcen des Planeten 1,7-mal schneller, als sie sich regenerieren können. Wenn wir so weitermachen, bräuchten wir 2050 drei Erden. Seit 1970 hat sich die Welt­bevölkerung mehr als verdoppelt, der Welt­handel verzehnfacht, die Herstellung von Kunststoffen verzwanzigfacht. Heute blasen wir jedes Jahr doppelt so viele Treib­haus­gase in die Luft wie vor 50 Jahren. Noch schlimmer ist nur das Arten­sterben: Seit 1970 sind mehr als zwei Drittel aller Wirbeltiere – Säugetiere, Vögel, Fische, Amphibien – von der Erde verschwunden.

Ulrich Eberl
© Peter Hassiepen/Piper Verlag

Zur Person:
Der promovierte Biophysiker Ulrich Eberl, Jahrgang 1962, war unter anderem langjähriger Leiter der Innovations­kommunikation bei Siemens. Heute ist er als selbst­ständiger Zukunfts­forscher, inter­nationaler Vortrags­redner und Buch­autor tätig.

Und alles beeinflusst sich gegenseitig: Wald­rodungen verstärken das Arten­sterben und den Klima­wandel. Der lässt Äcker verdorren, Deiche brechen und beschleunigt die Ausbreitung von Infektions­krankheiten – ebenso wie die zunehmende Mobilität, die ihrerseits den Klimaw­andel treibt. Kann man all dies gleich­zeitig anpacken?

Ja, denn auch die Lösungen hängen eng miteinander zusammen. Wenn wir die entscheidenden Hebel identifizieren und sie entschlossen angehen, haben wir sozusagen unsere Überlebensformel gefunden.

Wenn wir die entscheidenden Hebel identifizieren und sie entschlossen angehen, haben wir sozusagen unsere Über­lebens­formel gefunden.

Ulrich Eberl

Sie erforschen seit 35 Jahren Zukunfts­trends. Was sind denn die wichtigsten Hebel?

Vor allem müssen wir den Klimawandel in den Griff bekommen. Der stärkste Hebel ist hier die Energie- und Fahr­zeug­technik. Wenn wir weltweit alle fossilen Kraftwerke durch Wind- und Solarstrom und die Verbrennungs­motoren durch Elektro­antriebe ersetzen, senken wir die Treib­haus­gas­emissionen der fossilen Brenn­stoffe schon um knapp zwei Drittel. Diese Revolution ist machbar, denn Strom aus Wind und Sonne ist bereits günstiger als der aus Kohle und Erdgas, und die Auto­industrie beendet gerade die Benzin- und Diesel-Ära. Mehr noch: Solar­energie ist ideal für ärmere, sonnen­reiche Länder ohne gute Stromnetze. Dezentrale Photovoltaik ist hier der Weg aus der Krise, nicht Kohle- oder Kern­kraft­werke.

Welche Hebel haben Sie darüber hinaus identifiziert?

Zum Gelingen der Energiewende muss ein komplexes Puzzle gelöst werden: Wir müssen Strom mit Wärme- und Kälte­technologien verbinden, und wir brauchen intelligente Netze, die Angebot und Nachfrage ausbalancieren, sowie leistungs­starke Speicher – insbesondere grünen Wasserstoff, der mit Wind- und Solarstrom erzeugt wird. Damit können dann auch Schwerlaster umwelt­freundlich fahren, Flugzeuge mit synthetischen Treib­stoffen fliegen, aus den Schornsteinen der Stahlwerke käme statt Kohlen­dioxid nur Wasserdampf, und selbst eine klima­neutrale Chemie mitsamt Kreis­lauf­wirtschaft wäre machbar.

Und was muss in der Land- und Forst­wirtschaft passieren?

Am wichtigsten ist die Verringerung unseres Fleisch­konsums, vor allem von Rindern. Da jedes Rind im Jahr so viele Treib­haus­gase ausstößt wie ein benzin­getriebener Mittel­klasse-Pkw und es weltweit 1,4 Milliarden Rinder gibt, wäre eine Halbierung des Rind­fleisch­konsums klima­wirksamer als die Abschaffung jedes zweiten Pkw. Wenn dann noch in den Tropen weniger Wälder für Weiden und Futter – etwa für Soja­pflanzen – abgeholzt werden, senkt das nicht nur die Klima­gase, sondern schützt auch die Ökosysteme. Es ist ja kaum zu glauben: Direkt und indirekt braucht die Fleisch­industrie weltweit fast 80 Prozent der land­wirtschaftlichen Fläche.

Die 2020er-Jahre könnten das Goldene Jahrzehnt des technologischen Wandels werden.

Ulrich Eberl

Sicher haben Sie auch Lösungen gefunden, die auf den ersten Blick überraschen. Welche zum Beispiel?

Forscher haben unlängst entdeckt, dass Rinder, die jeden Tag außer ihrem Grün- und Kraft­futter 80 Gramm einer Rotalge verschlingen, 80 Prozent weniger Methan ausstoßen. Ein verblüffender Weg, um dieses starke Treib­haus­gas zu reduzieren. Oder die Wieder­vernässung trocken­gelegter Moore: Das käme sowohl dem Arten- wie auch dem Klima­schutz zugute. Welt­weit könnte man damit pro Jahr 1,8 Milliarden Tonnen Kohlen­dioxid aus der Luft holen – mehr als das Doppelte der deutschen Emissionen. Auch die Schließung der offenen Müllkippen in ärmeren Ländern ist extrem wichtig. Damit würde man nicht nur Gift­stoffe und Plastik­müll verringern, sondern pro Jahr eine weitere Milliarde Tonne an Klima­gasen einsparen.

Was ist also Ihr Fazit? Können wir den Umschwung noch schaffen?

Durchaus. Die 2020er-Jahre könnten das Goldene Jahrzehnt des technologischen Wandels werden, so wie die 1920er, als die Quanten­mechanik, das Penicillin und das Tutanchamun-Grab entdeckt wurden, als Goldenes Jahrzehnt der Wissenschaft gelten. Doch dafür muss die Welt endlich zusammen­arbeiten. Die Politik muss die richtigen Rahmen­bedingungen setzen, Finanz­ströme müssen umgeleitet und soziale Härten abgefedert werden. Und vor allem müssen nationale Egoismen aufhören, denn globale Krisen machen nicht an Länder­grenzen halt. Geschlossene Schlagbäume oder gar Kriege sind keine Lösung – sie verschärfen nur das Problem.

© Piper Verlag

Unsere Überlebensformel: Neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft
Klima­wandel und Abholzung der Regen­wälder, Arten­sterben und Pandemien, Konsum­explosion und Plastik­müll, Mobilitäts­krise, Welt­ernährung und lebens­werte Städte: Ulrich Eberl liefert in seinem neuen Sachbuch eine Zusammen­schau der größten Krisen und zeigt die wichtigsten Hebel der Wissenschaft auf, um diese global zu lösen.
Erschienen am 10. März 2022 im Piper Verlag, 416 Seiten, 24,00 Euro.