Blaumann für alle
ZEIT RedaktionWie können Teams ihr Wissen besser austauschen? Diese Frage treibt viele Mittelständler um. Einer schickt seine Ingenieure für mehrere Monate in die Fabrik.
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2023.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.
Lars Stephan-Büldt könnte sich jetzt umdrehen und weiterschlafen, wenn dieser Tag im Frühjahr ein normaler Arbeitstag für ihn wäre. Vor wenigen Wochen hat der 33-Jährige einen neuen Job beim Sicherheitstechnik-Spezialisten Tueg Schillings begonnen, normalerweise arbeitet er in Gleitzeit und startet bis neun Uhr. Heute klingelt sein Wecker aber schon um halb sechs – und später aufzustehen ist keine Option. Denn den Ingenieur erwartet nicht sein üblicher Job am Schreibtisch. Stattdessen steigt er in einen blauen Arbeitsoverall und fährt zum Chemiepark in Hürth bei Köln. Dort soll er heute eine Produktionsanlage inspizieren, Messinstrumente begutachten und Abschaltanlagen prüfen.
Solche Anlagen zu prüfen, zu vermessen und ihre Sicherheit zu bescheinigen ist das Kerngeschäft von Tueg Schillings. Die Abkürzung Tueg steht für „Technische Überwachungsgesellschaft“. Das Unternehmen aus Kerpen macht einen Umsatz von fünf Millionen Euro im Jahr, die meisten Kunden stammen aus der Chemiebranche. Läuft bei ihnen etwas in der Produktion oder Verarbeitung schief, kann das weitreichende Folgen für Menschen und Umwelt haben. Kontrollen gehören also zum Betriebsalltag.
Für Lars Stephan-Büldt heißt das heute: Schichtbeginn um 7 Uhr, Feierabend um 17 Uhr. Für ihn ist es ein langer Tag. Zwar arbeiten alle Ingenieure wie Handwerker 40 Stunden pro Woche, aber gerade bei großen Anlagen können schon mal Überstunden anfallen, die später ausgeglichen werden.
Trotzdem lächelt Stephan-Büldt beim Treffen auf dem Parkplatz: „Die Arbeit im Chemiepark ist wirklich etwas anderes als acht Stunden Schreibtischarbeit“, sagt er, „das ist auf andere Art anstrengend.“ Dann springt er am Auto schnell in seine Jeans. Der Blaumann hat Feierabend.
Die Fachkräfte hier aus der Region wissen, dass wir mit der Blaumann-Phase einen besonderen Weg gehen
Nicolas Bennerscheid, Geschäftsführer
Als sich Stephan-Büldt für die Stelle entschied, wusste er, worauf er sich einlässt: Wer bei Tueg Schillings als Ingenieur oder Ingenieurin anfängt, wird im ersten Arbeitsjahr für sechs Monate in den Blaumann gesteckt. „Das machen wir ausnahmslos bei allen Ingenieuren und nicht nur bei Berufsanfängern“, sagt Nicolas Bennerscheid, einer von drei Geschäftsführern. Sogar die Recruiterin von Tueg Schillings sei schon in den Blaumann geschlüpft – auf eigenen Wunsch. „Für ihren Arbeitsalltag bringt das unserer Kollegin natürlich nicht so viel, aber sie wollte den Betrieb gerne rundum kennenlernen“, sagt Bennerscheid.
Auf seiner Website thematisiert der Betrieb diese „Blaumannpflicht“, auch in Bewerbungsgesprächen wird sie angesprochen. „Die Fachkräfte hier aus der Region kennen uns aber bereits und wissen, dass wir mit der Blaumann-Phase einen besonderen Weg gehen“, sagt der Geschäftsführer. Da die Praxis im Unternehmen eine entscheidende Rolle spielt, sitzt bei Einstellungen auch ein Meister aus dem Unternehmen mit am Tisch. „Ist er gegen den Bewerber, sagen wir ab“, erklärt Bennerscheid.
Aber warum leistet sich der Mittelständler diese Arbeitseinsätze, die auf den ersten Blick Personal binden, also Geld kosten? Weshalb mutet er Neueinsteigern den Einsatz im Blaumann zu und riskiert damit, mögliche Bewerber abzuschrecken – während andere Unternehmen mit möglichst flexiblen Arbeitsbedingungen um die knappen Fachkräfte werben?
Die Geschäftsführung verspricht sich davon einen besseren Wissensaustausch. Im Jahr 1990 war das Sicherheitsunternehmen als kleiner Handwerksbetrieb gestartet. Heute beschäftigt die Firma 95 Menschen, 20 Prozent sind Ingenieure, der Rest nach wie vor Handwerker. Im Alltag müssen sie gut miteinander arbeiten. Die Ingenieure planen und konzipieren, die Handwerker setzen um und warten bestehende Anlagen. Damit das reibungslos klappt, müssen beide Seiten die Welt des anderen kennen, Probleme nachvollziehen können und Verständnis entwickeln. Dafür hat Tueg Schillings das Projekt „Expert*innen im Blaumann“ im Jahr 2008 gestartet, etwa 15 Ingenieurinnen und Ingenieure haben bisher daran teilgenommen.
Axel Koch ist davon überzeugt, dass solche Arbeitseinsätze in der Produktion für Akademiker etwas bringen und nachahmenswert sind. Koch ist Dekan der Fakultät Wirtschaftspsychologie an der Hochschule für angewandtes Management in Ismaning bei München. Damit so eine Praxisphase wirklich erfolgreich sei, müsse sie gut begleitet werden, sagt er. Der Wirtschaftspsychologie-Professor berät regelmäßig Unternehmen zu Wissenstransfer. Er meint, dass Chefs oder Abteilungsleiter die Mitarbeitenden gut auf solche Praxisphasen vorbereiten müssten. Damit die Theoretiker nicht nur beim Arbeiten zugucken, sondern auch mit anpacken. Neben der praktischen Vorbereitung müssten sie dafür wissen, was auf sie zukommt und was sie daraus mitnehmen können. „Denn lernen können Menschen nur, wenn sie mit einer mindestens neutralen Haltung ohne Vorurteile rangehen.“
Bei Tueg Schillings erhalten Kollegen wie Lars Stephan-Büldt vor der Praxisphase an der unternehmenseigenen Akademie eine mehrstündige Theorie-Schulung. Diese soll in wenigen Monaten durch eine Chemieanlage im Kleinformat ergänzt werden. An dieser könnten Mitarbeiter und Kunden dann lernen, welche Technik geprüft wird und warum das wichtig ist. Da Tueg Schillings in sicherheitskritischen Bereichen tätig ist, müssen auch die Ingenieure vor dem Einsatz konkrete Wissenstests bestehen. Sonst dürfen sie viele Anlagen gar nicht betreten.
Sind die Ingenieure dann geschult, müssen sie beim Kunden auch mit anpacken. Für Stephan-Büldt hieß das beim Einsatz im Chemiepark heute, dass er gemeinsam mit dem sechsköpfigen Prüfteam die Messwerte mit der Leitstelle abgeglichen hat.
Eine Erkenntnis hat er schon nach wenigen Tagen mitgenommen: „Wenn ich jetzt eine Anlage planen würde, hätte ich eine andere Sicht darauf und würde Prüfstellen und Messeinheiten möglichst leicht zugänglich einplanen – auch wenn es aus technischer Sicht nicht unbedingt notwendig wäre.“ Allein für solche Aha-Momente der Mitarbeiter lohnt sich der Einsatz für die Firma.
Doch neben den Ingenieuren sollen auch die Handwerker bei Tueg Schillings von den Arbeitseinsätzen profitieren. Weil sie anders ausgebildete und oft jüngere Menschen wie Stephan-Büldt führen und ihnen komplexe Prozesse erklären müssen. Dafür können sie im Austausch mit den Ingenieuren dann besser nachvollziehen, wie die Kollegen die Anlagen konstruieren und Prozesse planen.
Damit dieses gegenseitige Verständnis entsteht, komme es auch auf geschickt gestellte Fragen an, meint der Wirtschaftspsychologe Axel Koch. „Warum-Fragen“ seien dabei meist kontraproduktiv, auch wenn sie ohne bösen Hintergedanken gestellt würden. Selbst wenn das Gegenüber wirklich nur verstehen wolle, warum eine Prüfung in einer bestimmten Reihenfolge erfolgt, könne allein das Wort „Warum“ eine Abwehrhaltung provozieren. „Die Frage nach dem Warum führt schnell zu einer defensiven Haltung, das Gegenüber versucht dann, sich zu rechtfertigen“, sagt Koch.
Besser seien Fragen wie: Seit wann macht ihr das so? Was sind eure Gedanken zu dem Thema? Welche Probleme gibt es hier? Solche Fragen regten zum Austausch ein.
Für einen erfolgreichen Wissenstransfer sei es zudem nötig, über das Gelernte nachzudenken und es zu verinnerlichen, sagt der Wissenschaftler. Er rät dazu, dass Arbeitgeber während der Praxisphasen längere Pausen für die Reflexion einplanen. Auch der Austausch mit dem Chef oder dem Abteilungsleiter könne helfen.
Bei Tueg Schillings sind für diese Reflexion Feedbackgespräche eingeplant, außerdem werden Praxisphasen gezielt durch Pausen unterbrochen. Die sechs Monate lange Feldphase wird nicht am Stück umgesetzt. Stattdessen wechseln Ingenieure wie Lars Stephan-Büldt zwischen Schreibtisch und Anlagen hin und her.
Die Praxiseinsätze böten nicht nur Vorteile bei der Arbeit, sie verbesserten auch die Stimmung im Betrieb, sagt der Geschäftsführer Bennerscheid. Weil sich Handwerker und Ingenieure besser kennenlernen und leichter aufeinander zugehen könnten: „Wir haben nicht zwei Lager bei uns.“
Das spiegelt sich auch in den Bewertungen wider, die Beschäftigte von Tueg Schillings auf der Plattform Kununu anonym hinterlassen. Dort geben sie dem Unternehmen im Schnitt 4,1 von 5,0 Punkten. Den „Umgang miteinander“ bewerten sie deutlich positiver, als es der Durchschnitt der Branche tut. „Sehr guter Teamzusammenhalt“, schreibt ein Mitarbeiter. Ein anderer lobt das „freundliche Arbeitsklima“, aber er hat auch was zu mäkeln: Die blauen Arbeitshosen sind ihm einfach zu unbequem.