Wie qualifiziert man Menschen für Berufe, die es noch gar nicht gibt?
AnzeigeDie digitale Transformation verändert Organisationsstrukturen. Über diese Herausforderung für den Mittelstand spricht der Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsinformatiker Helmut Krcmar im Interview.
Studio ZX: Herr Professor Krcmar, die digitale Transformation führt dazu, dass es mittlerweile Berufe und Tätigkeiten gibt, die wir uns vor wenigen Jahren noch gar nicht hätten vorstellen können. Welches Beispiel fällt Ihnen ein?
Prof. Dr. Helmut Krcmar: Ich würde gerne etwas ausholen. Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur darum, Dinge oder Abläufe einfach zu digitalisieren, sondern auch darum, einen organisatorischen Veränderungsprozess zu gestalten. Das, was wir als Berufsbildverschiebung bezeichnen, ist eher eine Verschiebung der Tätigkeiten. Das beste Beispiel ist die Nutzung von Videokonferenzen, für die es mittlerweile Interaktionsgestalter gibt – eine Berufsbezeichnung, die vor Ausbruch der Coronapandemie niemand für möglich gehalten hätte. Solche Bedarfe und Anwendungen werden in kürzester Zeit entwickelt und individuell angepasst. Das passiert in großer Geschwindigkeit und auf individueller Ebene. Für die Firmen bedeutet digitale Transformation aber auch, dass sie ihre Geschäftsmodelle verändern können.
Diese Kontextverschiebung macht es sehr spannend.
Und dabei entsteht neuer Weiterbildungsbedarf?
Genau, der Weiterbildungsbedarf entsteht durch alle diese Veränderungen, vor allem aber durch neue Geschäftsmodelle, die sich digital abbilden lassen. Des Weiteren macht sich auch der demografische Wandel bemerkbar. Man kann nicht mehr sagen: „Ich nehme einfach die Jungen, die können das schon.“ Es ist eher so, dass wir heute vor allem über Arbeiterlosigkeit reden statt über Arbeitslosigkeit. Diese Kontextverschiebung macht das Thema Weiterbildung so spannend.
In dem Zusammenhang ist Reskilling ein wichtiges Stichwort. Ist das Neulernen inzwischen nicht auch schon veraltet, müssten wir also nicht eigentlich das Ständiglernen lernen?
Die Technische Universität München hat mit dem TUM Institute for LifeLong Learning diesen Trend aufgegriffen. Früher konnte man sagen: „Ich habe meinen Meister gemacht, und das reicht für ein Berufsleben.“ Das geht so nicht mehr unbedingt. Interessanterweise war ich erst kürzlich auf einer Konferenz des LearnTech Hubs in Heilbronn, bei der ein Teilnehmer bemerkte, wie schrecklich er dieses ständige Lernen finde. Er müsse immer wieder zurück auf die Schulbank. Und das ist genau die Herausforderung: den Menschen wieder die Lust und die Neugier zu vermitteln, neue Dinge auszuprobieren. Man muss einer Belegschaft daher zugleich den Freiraum geben, das zu entdecken, was sie gerne tut. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Innerhalb eines unserer Projekte mit Audi in Neckarsulm nutzen wir den Begriff „digital versierte Belegschaft“, um zu verdeutlichen, dass der souveräne Umgang mit den Techniken im Vordergrund steht. Souveräner Umgang heißt, den Nutzen und auch den Nichtnutzen von Technologien für das Unternehmen und für sich selbst gut einschätzen zu können. Denn klar ist: Die Veränderung hin zu erhöhter Individualisierung des Lernens im Laufe des Lebens – und das lebenslang – ist eine wirkliche Herausforderung für die starren Strukturen, die wir uns so schön über die Jahrzehnte organisiert haben und die wir jetzt wirklich auf einen neuen Stand bringen müssen.
Wie vermittelt man seinen Mitarbeitenden, was sie lernen sollen, und wie lässt man sie es auch selbst herausfinden?
Das heißt aber auch, dass Führungskräfte nun mit austarieren müssen, welche Tätigkeiten es gibt und wie ihre Mitarbeitenden diese gestalten können?
Genau, wir müssen auch die Führungskräfte in die Lage versetzen, mit Menschen umzugehen, die ihren Beruf sozusagen selbst gestalten wollen. Wie vermittelt man seinen Mitarbeitenden, was sie lernen sollen, und wie lässt man sie es auch selbst herausfinden? Und was mache ich mit Menschen, die mit einem Nine-to-five-Job eigentlich ganz zufrieden sind? Wir haben parallel zu den technischen Veränderungen ja auch noch die Tatsache, dass neben Internet und Vernetzung die Künstliche Intelligenz als neue Technik dazukommt. Ein Beispiel: Durch den Einsatz von Robotern kommen neue Akteure ins Spiel und erhöhen die Komplexität des Austarierens im täglichen Miteinander. Der Veränderungsprozess potenziert sich dadurch. Vieles, was wir gesellschaftlich auch in arbeitsrechtlicher Form definiert haben, wird hinterfragt und neu diskutiert.
Professor Dr. Helmut Krcmar ist Gründungsdekan und Beauftragter des Präsidenten für den TUM Campus Heilbronn. Er leitet das KrcmarLab an der TUM School of Computation, Information and Technology. Er forscht und publiziert auf dem Gebiet der digitalen Transformation, des Informations- und Wissensmanagements, der plattformbasierten Ökosysteme, des Managements IT-basierter Dienstleistungen und des E-Governments.
Sie haben eben angesprochen, dass sich diese arbeitsrechtlichen Festlegungen und sozialen Erwartungen über einen langen Zeitraum verfestigt haben. In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch der Mittelstand. Was sind die besonderen Herausforderungen, die sich dem Mittelstand hier stellen?
Ich glaube, ich würde dem Mittelstand gerne mehr Mut zusprechen. Sehr große Firmen sind meistens so breit aufgestellt, dass sie ein sehr umfangreiches Spektrum an Produkten und Dienstleistungen anbieten. Viele Mittelständler sind zwar Weltmarktführer, haben aber ihre USP eher in einer spezifischen Domäne oder Nische. Über das Forschungscenter „Global Center for Family Enterprise“ am TUM Campus Heilbronn erhalten wir wertvolle Kenntnisse über Themen, mit denen die Firmen zu kämpfen haben. Und jetzt kommen die beschriebenen Veränderungen auf einen Mittelstand zu, der zwar in seiner Tätigkeit und seinen fachlichen Kompetenzen sehr gut ist, aber sein Wachstumsmodell nicht auf Wachstum getrimmt hat. Das haben wir uns in der klassischen Betriebswirtschaftslehre systematisch ausgetrieben: Bloß nichts ausprobieren! Start-ups können nicht genug ausprobieren, aber der Mittelstand fürchtet, dadurch seine Kunden zu verlieren. Die Frage ist aber: Was kann man mit den Kunden gemeinsam entwickeln und welche Wege beschreiten? Im Mittelstand ist es im Gegensatz zu Großunternehmen nicht möglich, zu sagen: Experimentieren wir einfach mal, koste es, was es wolle. Kosten und Nutzen werden stets in enger Relation gesehen. Wenn Firmen aber ein sehr gutes Kerngeschäft aufweisen, können sie sich überlegen, wie sie dieses weiterentwickeln. Sie müssen also nicht Satelliten in den Umlauf bringen, wenn sie bisher Tunnelbohrmaschinen gebaut haben, sondern sollten erst mal schauen, was die nächsten Schritte sein könnten. Dazu braucht es Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Viele Geschäftsleitungen mittelständischer Unternehmen haben dies erkannt und ermutigen ihre Mitarbeitenden dazu, ihre Fähigkeiten einzubringen. Das kann ich nur bestärken ermutigen und den Unternehmen unsere Weiterbildungsmethoden mitgeben: Wie entwickelt man sein Geschäft weiter?
Das ist die Herausforderung: den Menschen wieder die Lust und die Neugier zu vermitteln, neue Dinge auszuprobieren.
Also das Plädoyer, mehr auszuprobieren?
Ja, ein Plädoyer dafür, zu wissen, was ich mit digitalen Techniken machen kann und was ich eben nicht tun möchte. Aber auch zu beurteilen, wie man Organisationen baut für die jetzige Generation. Wie man die neuen Techniken dazu nutzt, um Mitarbeitenden die Freiheit zu geben, vernetzte Organisationen zu gestalten. In einer Welt, in der es sehr viele digitale Technologien gibt, muss man beurteilen können, wie diese zu den Kunden passen und wie man dabei auch Klimaschutz und Nachhaltigkeit berücksichtigen kann. Es ist eben nicht nur die Frage, welche Technik aktuell schick ist und welches Machine Learning gerade ein Thema, sondern welchen Kundennutzen man als Unternehmen auf Dauer stiften kann.