ZEIT für X
Frau arbeitet an großer Leinwand

Wie qualifiziert man Menschen für Berufe, die es noch gar nicht gibt?

05. Oktober 2022
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Ein Artikel von Studio ZX in Kooperation mit TUM

Die digitale Transformation verändert Organisations­strukturen. Über diese Heraus­forderung für den Mittel­stand spricht der Wirtschafts­wissenschaftler und Wirtschafts­informatiker Helmut Krcmar im Interview.

Studio ZX: Herr Professor Krcmar, die digitale Transformation führt dazu, dass es mittler­weile Berufe und Tätigkeiten gibt, die wir uns vor wenigen Jahren noch gar nicht hätten vorstellen können. Welches Beispiel fällt Ihnen ein?

Prof. Dr. Helmut Krcmar: Ich würde gerne etwas ausholen. Bei der digitalen Transformation geht es nicht nur darum, Dinge oder Abläufe einfach zu digitalisieren, sondern auch darum, einen organisatorischen Veränderungs­prozess zu gestalten. Das, was wir als Berufs­bild­verschiebung bezeichnen, ist eher eine Verschiebung der Tätigkeiten. Das beste Beispiel ist die Nutzung von Video­konferenzen, für die es mittler­weile Interaktions­gestalter gibt – eine Berufs­bezeichnung, die vor Ausbruch der Corona­pandemie niemand für möglich gehalten hätte. Solche Bedarfe und Anwendungen werden in kürzester Zeit entwickelt und individuell angepasst. Das passiert in großer Geschwindigkeit und auf individueller Ebene. Für die Firmen bedeutet digitale Transformation aber auch, dass sie ihre Geschäfts­modelle verändern können.

Diese Kontextverschiebung macht es sehr spannend.
Und dabei entsteht neuer Weiter­bildungs­bedarf?

Genau, der Weiterbildungsbedarf entsteht durch alle diese Veränderungen, vor allem aber durch neue Geschäfts­modelle, die sich digital abbilden lassen. Des Weiteren macht sich auch der demografische Wandel bemerkbar. Man kann nicht mehr sagen: „Ich nehme einfach die Jungen, die können das schon.“ Es ist eher so, dass wir heute vor allem über Arbeiter­losig­keit reden statt über Arbeits­losig­keit. Diese Kontext­verschiebung macht das Thema Weiter­bildung so spannend.

ZEIT für Unternehmer Baden-Württemberg ist die neue exklusive Konferenz für Entscheider:innen und Gesellschafter:innen aus Familienunternehmen in Baden-Württemberg. Am 18. Oktober laden wir Sie ein, an Diskussionsrunden und Masterclasses im „K – Kongresszentrum“ Kornwestheim teilzunehmen. Von 15.15-16 wird dort auch eine Masterclass zum Thema „Künstliche Intelligenz im Mittelstand zwischen Fantasie und Anwendung“ mit Prof. Dr. Helmut Krcmar, sowie Evgeni Kouris (Gründer, New Mittelstand) und Jonas Andrulis (Gründer und Geschäftsführer, Aleph Alpha GmbH) stattfinden.

In dem Zusammenhang ist Reskilling ein wichtiges Stichwort. Ist das Neulernen inzwischen nicht auch schon veraltet, müssten wir also nicht eigentlich das Ständiglernen lernen?

Die Technische Universität München hat mit dem TUM Institute for LifeLong Learning diesen Trend aufgegriffen. Früher konnte man sagen: „Ich habe meinen Meister gemacht, und das reicht für ein Berufs­leben.“ Das geht so nicht mehr unbedingt. Interessanter­weise war ich erst kürzlich auf einer Konferenz des LearnTech Hubs in Heilbronn, bei der ein Teilnehmer bemerkte, wie schrecklich er dieses ständige Lernen finde. Er müsse immer wieder zurück auf die Schulbank. Und das ist genau die Heraus­forderung: den Menschen wieder die Lust und die Neugier zu vermitteln, neue Dinge aus­zu­probieren. Man muss einer Belegschaft daher zugleich den Freiraum geben, das zu entdecken, was sie gerne tut. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Innerhalb eines unserer Projekte mit Audi in Neckarsulm nutzen wir den Begriff „digital versierte Belegschaft“, um zu verdeutlichen, dass der souveräne Umgang mit den Techniken im Vorder­grund steht. Souveräner Umgang heißt, den Nutzen und auch den Nicht­nutzen von Technologien für das Unternehmen und für sich selbst gut einschätzen zu können. Denn klar ist: Die Veränderung hin zu erhöhter Individualisierung des Lernens im Laufe des Lebens – und das lebenslang – ist eine wirkliche Heraus­forderung für die starren Strukturen, die wir uns so schön über die Jahr­zehnte organisiert haben und die wir jetzt wirklich auf einen neuen Stand bringen müssen.

Wie vermittelt man seinen Mitarbeitenden, was sie lernen sollen, und wie lässt man sie es auch selbst heraus­finden?

Das heißt aber auch, dass Führungskräfte nun mit austarieren müssen, welche Tätigkeiten es gibt und wie ihre Mitarbeitenden diese gestalten können?

Genau, wir müssen auch die Führungskräfte in die Lage versetzen, mit Menschen umzugehen, die ihren Beruf sozusagen selbst gestalten wollen. Wie vermittelt man seinen Mitarbeitenden, was sie lernen sollen, und wie lässt man sie es auch selbst heraus­finden? Und was mache ich mit Menschen, die mit einem Nine-to-five-Job eigentlich ganz zufrieden sind? Wir haben parallel zu den technischen Veränderungen ja auch noch die Tatsache, dass neben Internet und Vernetzung die Künstliche Intelligenz als neue Technik dazu­kommt. Ein Beispiel: Durch den Einsatz von Robotern kommen neue Akteure ins Spiel und erhöhen die Komplexität des Austarierens im täglichen Miteinander. Der Veränderungs­prozess potenziert sich dadurch. Vieles, was wir gesellschaftlich auch in arbeits­rechtlicher Form definiert haben, wird hinter­fragt und neu diskutiert.

Professor Dr. Helmut Krcmar
© FOTOATELIER M

Professor Dr. Helmut Krcmar ist Gründungs­dekan und Beauftragter des Präsidenten für den TUM Campus Heilbronn. Er leitet das KrcmarLab an der TUM School of Computation, Information and Technology. Er forscht und publiziert auf dem Gebiet der digitalen Transformation, des Informations- und Wissens­managements, der platt­form­basierten Ökosysteme, des Managements IT-basierter Dienst­leistungen und des E-Governments.

Sie haben eben angesprochen, dass sich diese arbeits­rechtlichen Fest­legungen und sozialen Erwartungen über einen langen Zeitraum verfestigt haben. In diesem Spannungs­feld bewegt sich auch der Mittel­stand. Was sind die besonderen Heraus­forderungen, die sich dem Mittelstand hier stellen?

Ich glaube, ich würde dem Mittelstand gerne mehr Mut zusprechen. Sehr große Firmen sind meistens so breit auf­gestellt, dass sie ein sehr umfang­reiches Spektrum an Produkten und Dienst­leistungen anbieten. Viele Mittel­ständler sind zwar Welt­markt­führer, haben aber ihre USP eher in einer spezifischen Domäne oder Nische. Über das Forschungs­center „Global Center for Family Enterprise“ am TUM Campus Heilbronn erhalten wir wertvolle Kenntnisse über Themen, mit denen die Firmen zu kämpfen haben. Und jetzt kommen die beschriebenen Veränderungen auf einen Mittel­stand zu, der zwar in seiner Tätigkeit und seinen fachlichen Kompetenzen sehr gut ist, aber sein Wachstums­modell nicht auf Wachstum getrimmt hat. Das haben wir uns in der klassischen Betriebs­wirtschafts­lehre systematisch aus­getrieben: Bloß nichts ausprobieren! Start-ups können nicht genug ausprobieren, aber der Mittelstand fürchtet, dadurch seine Kunden zu verlieren. Die Frage ist aber: Was kann man mit den Kunden gemeinsam entwickeln und welche Wege beschreiten? Im Mittelstand ist es im Gegensatz zu Groß­unternehmen nicht möglich, zu sagen: Experimentieren wir einfach mal, koste es, was es wolle. Kosten und Nutzen werden stets in enger Relation gesehen. Wenn Firmen aber ein sehr gutes Kern­geschäft aufweisen, können sie sich über­legen, wie sie dieses weiter­entwickeln. Sie müssen also nicht Satelliten in den Umlauf bringen, wenn sie bisher Tunnel­bohr­maschinen gebaut haben, sondern sollten erst mal schauen, was die nächsten Schritte sein könnten. Dazu braucht es Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Viele Geschäfts­leitungen mittel­ständischer Unternehmen haben dies erkannt und ermutigen ihre Mitarbeitenden dazu, ihre Fähigkeiten einzubringen. Das kann ich nur bestärken ermutigen und den Unternehmen unsere Weiter­bildungs­methoden mitgeben: Wie entwickelt man sein Geschäft weiter?

Das ist die Herausforderung: den Menschen wieder die Lust und die Neugier zu vermitteln, neue Dinge auszuprobieren.

Also das Plädoyer, mehr auszuprobieren?

Ja, ein Plädoyer dafür, zu wissen, was ich mit digitalen Techniken machen kann und was ich eben nicht tun möchte. Aber auch zu beurteilen, wie man Organisationen baut für die jetzige Generation. Wie man die neuen Techniken dazu nutzt, um Mitarbeitenden die Freiheit zu geben, vernetzte Organisationen zu gestalten. In einer Welt, in der es sehr viele digitale Technologien gibt, muss man beurteilen können, wie diese zu den Kunden passen und wie man dabei auch Klima­schutz und Nach­haltigkeit berück­sichtigen kann. Es ist eben nicht nur die Frage, welche Technik aktuell schick ist und welches Machine Learning gerade ein Thema, sondern welchen Kunden­nutzen man als Unternehmen auf Dauer stiften kann.