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Ein Sparschwein hängt an einer Hauswand

Das passt!

30. Januar 2023
ZEIT Redaktion

Dorothea Dosenbach findet keine Fachkräfte mehr für ihre Metzgerei. Kamesh Ahire und zwei weitere Azubis aus Indien sollen ihr Problem lösen. Das geht aber nur, weil die drei vorher viel aufs Spiel gesetzt haben.

von Felix Leitmeyer

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 4/2022.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Um ein großes Problem zu lösen, braucht es manchmal viele kleine Schritte. Zum Beispiel diesen: „Der Herr ist ganz beeindruckt, dass du wusstest, was Weckle und Schäufele sind“, flüstert Dorothea Dosenbach ihrem neuen Auszubildenden zu. Der heißt Kamesh Ahire und packt gerade ein Frikadellen­brötchen in eine knisternde Papier­tüte; alles ist noch etwas ungewohnt, die Kunden in der Schlange beobachten jede Hand­bewegung. „Das wird, keine Sorge, viel Erfolg noch!“, meint einer. Und eine Kundin sagt: „Ich bin froh, dass es auch dank Ihnen hier im Ort noch eine Metzgerei gibt.“

138 Jahre ist die Metzgerei Dosenbach aus Bad Bellingen am Rande des Südschwarzwalds jetzt alt, doch im Jahr 2022 ist manches neu. Weil die Firma hierzulande keine Lehrlinge mehr findet, hat sie drei junge Männer aus Indien eingestellt. Kamesh Ahire, 25, aufgewachsen in der Stadt Malegaon im indischen Bundes­staat Maharashtra, macht nun eine Lehre zum Fleischerei­fach­verkäufer. Arjun Moo-thedath Parambil Gopalakrihnan, 25, und Joseph Pallivathukal Alex, 27, werden zu Fleischern ausgebildet. Keiner der drei hatte je Deutschland besucht, bis Dorothea Dosenbach sie am Frankfurter Flughafen abholte. Sie hat ihnen eine Wohnung gesucht und wäscht jetzt manchmal ihre Wäsche. Sie macht das gerne, sagt sie, „die Azubis von heute sind ja die Fachkräfte von morgen“.

Und die sind allerorten knapp. Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln hat anhand von Stellen­angeboten ermittelt, dass dem Land zwischen Juli 2021 und Juli 2022 eine halbe Million Fachkräfte gefehlt haben. Laut einer aktuellen Studie der Beratung Boston Consulting Group büßt die Bundes­republik durch den Personal­mangel jährlich 86 Milliarden Euro an Wirtschafts­leistung ein – das entspräche etwa zwei Prozent des Brutto­inlands­produkts.

Die schwierige Suche nach Azubis

Auch der Nachwuchs wird knapp: 1,25 Millionen Auszubildende und Lehrlinge hat es dem Statistischen Bundesamt zufolge im Jahr 2021 in Deutschland gegeben – noch vor zehn Jahren waren es rund 1,45 Millionen. Und im August, also einen Monat vor Beginn des Ausbildungs­jahres, waren laut der Bundes­agentur für Arbeit noch 182.000 Ausbildungs­plätze frei. Manche Branchen trifft es besonders hart. Schon im Mai 2021 klagte der Deutsche Fleischer-Verband, dass fast jedem zweiten Betrieb Lehrlinge fehlten. Womöglich kann die Branche nun von Dorothea Dosenbach und ihren indischen Azubis lernen – und von dem ungewöhnlichen Projekt, mit dem sie sich geholfen hat.

Die Unternehmerin blickt auf anstrengende Wochen zurück, als sie im Frühsommer 2021 an ihrem Schreibtisch sitzt und durch ihre Mails scrollt. Um die Betreuung ihrer neun und elf Jahre alten Töchter und die Arbeit in der Metzgerei mit immerhin vier Fach­geschäften zu stemmen, arbeitet sie an manchen Tagen von drei Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Danach nimmt sie oft an Sitzungen des Gemeinde­rats teil, in dem sie sich für die CDU engagiert. Manchmal bleiben ihr nur vier Stunden Schlaf. Und jetzt rückt der Beginn des neuen Lehrjahrs näher – Bewerbungen bisher: Fehlanzeige. Nun liest sie eine Mail der Handwerks­kammer Freiburg, die Metzger­nachwuchs aus Indien anwerben will. Später ruft die Kammer bei ihr an, Dosenbach entscheidet sofort: Da mach ich mit.

Kamesh Ahire lebt zu dieser Zeit knapp 6600 Kilometer Luftlinie entfernt in Nashik, im indischen Bundesstaat Maharashtra. Er arbeitet bei einer großen Hühner­zucht­firma. Im Durchschnitt verbringt er ein bis zwei Stunden täglich im Zug, er fährt dann zum Beispiel zu den Stallungen seiner Firma, um Hühner zu impfen. Die Arbeit empfindet er als belastend, die Bezahlung als schlecht. Da hört er über einen Freund von einer indischen Personal­agentur, die Fachkräfte für deutsche Firmen anwirbt.

Dorothea Dosenbach vor Urkunden und Jagdtrophäen ihrer Familie.
© Mathias Kutt für ZEIT für Unternehmer Dorothea Dosenbach vor Urkunden und Jagdtrophäen ihrer Familie.

Die Agentur heißt Magic Billion, und sie sucht in Indien auch nach Menschen, die bei deutschen Baufirmen und Pflegediensten anheuern wollen. Ein Unternehmer aus Deutschland, der Ärzte und Pflegekräfte für Krankenhäuser rekrutiert, lobt Magic Billion auf dessen Website – und die Firma preist die Bundes­republik: „Die Deutschen legen großen Wert auf Zeit zur Entspannung“, steht da, Mitarbeiter erwarte „eine ausgezeichnete und gesunde Work-Life-Balance“.

Eine riskante Entscheidung für eine bessere Zukunft

Kamesh Ahire trifft eine Entscheidung: Er wird alles riskieren, um in Deutschland „nach mehr Erfüllung, Perspektive und einem höheren Lebens­standard zu suchen“, wie er heute sagt. Dafür durch­läuft er noch mal eine Ausbildung, obwohl er in Indien schon Geflügel­wissenschaften studiert hat und sich mit der Zucht auskennt. Er findet, dass er dabei noch einmal etwas Neues lernen könne, etwa die Zubereitung von Gerichten und den Umgang mit Kunden. Und er möchte seiner Familie später Geld senden können. Also klickt er auf der Website von Magic Billion auf „Apply now!“ und lädt seinen Lebenslauf hoch.

Schnell wird Kamesh Ahire angenommen und zu einem Highspeed-Sprachkurs in Neu-Delhi eingeladen. Um in Deutschland arbeiten zu dürfen, muss er die deutsche Sprache mindestens auf B1-Niveau beherrschen. Solche Sprach­kenntnisse und eine Berufs­ausbildung setzt das deutsche Fach­kräfte­einwanderungs­gesetz von 2020 für Menschen jenseits der EU-Grenzen voraus. B1 steht für „fortgeschrittene Sprach­verwendung“; wer sie beherrscht, kann laut Definition unter anderem „Träume, Hoffnungen und Ziele beschreiben“. Die hat Kamesh Ahire zweifellos; er muss jetzt nur noch lernen, sie auf Deutsch zu formulieren.

Ein kleines Vermögen für einen Job in Deutschland

Im Oktober 2021 zieht er in die indische Hauptstadt. Und er muss in Vorleistung gehen: Umgerechnet etwa 6000 Euro investiert er in seinen Sprachkurs, den Aufenthalt und die Vermittlung an ein deutsches Unternehmen. Wenn er die Sprachprüfung nicht besteht, dann ist sein mühsam angespartes Geld umsonst investiert.

Kamesh Ahire hat gerade seine Ausbildung bei der Metzgerei Dosenbach in Bad Bellingen begonnen.
© Mathias Kutt für ZEIT für Unternehmer Kamesh Ahire hat gerade seine Ausbildung bei der Metzgerei Dosenbach in Bad Bellingen begonnen.

Ob es fair ist, dass er das ganze Risiko trägt? Kamesh Ahire hat kaum Zeit, darüber nach­zu­denken. Denn er hängt sich rein, büffelt eine Sprache, die er bis dahin nie gesprochen hat. Das ist schließlich seine Chance, vielleicht die einzige. Er hat Erfolg: Er ist einer der 13 von anfangs 30 Azubi-Anwärtern, die das B1-Zertifikat erhalten.

Nun steht Kamesh Ahires Name auf einer Liste, die Magic Billion zusammen mit 13 Lebensläufen an die Handwerks­kammer Freiburg schickt. Die macht sich ans sogenannte Matching und kombiniert die Wünsche und Erwartungen der Arbeitgeber und die der Inder – und ordnet Kamesh Ahire den Dosenbachs zu.

Nun ist es Zeit fürs Speed-Dating. An einem Tag im Mai 2022 nimmt Kamesh Ahire in Neu-Delhi vor einem Bildschirm Platz. Virtuell sitzt er Dorothea Dosenbach und ihrem Mann Patric gegenüber. Die Dosenbachs führen ihn per Video durch ihre Metzgerei, er begrüßt seine zukünftigen Kollegen. Alle sind etwas aufgeregt, wie sie später erzählen.

Drei Azubis lernt Dorothea Dosenbach an diesem Tag per Video kennen und nimmt sie alle. Jetzt ist sie gefordert. Sie muss sich um die Visa der drei kümmern und eine Wohnung für sie finden. Die darf nicht teuer sein, soll aber in der Nähe der Metzgerei liegen und eine gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr haben. Über Monate durchkämmt Dosenbach Anzeigen. „Ich möchte ja, dass meine Azubis lange und gerne bei mir arbeiten“, sagt sie. „Das geht nur, wenn sie sich ein schönes Leben hier aufbauen und eine berufliche Perspektive haben.“

Der Lohn vieler Azubis reicht kaum für den Alltag

Aber die Chefin macht nun eine Erfahrung, die viele Lehrlinge im Land kennen: Was Azubis mit harter Arbeit und nicht selten mit Überstunden verdienen, reicht oft kaum, um die stark gestiegenen Mieten zu bezahlen. Wenn man über die Gründe für den Azubimangel spricht, gehört auch das zur Wahrheit. Nur über einen guten Freund wird Dorothea Dosenbach fündig, kurz bevor die Azubis aus Indien landen. Sie richtet die Wohnung ein, besorgt Haushalts­waren und Arbeits­kleidung.

Joseph Pallivathukal Alex wird bei den Dosenbachs zum Fleischer ausgebildet. Hier holt er Waren aus einer Räucherkammer.
© Mathias Kutt für ZEIT für Unternehmer Joseph Pallivathukal Alex wird bei den Dosenbachs zum Fleischer ausgebildet. Hier holt er Waren aus einer Räucherkammer.

In Indien packt derweil Kamesh Ahire seine Koffer. Seine Familie und Freunde fahren mit ihm nach Mumbai, um ihn dort in ein Flugzeug zu setzen und zu verabschieden. Zwei Jahre werden sie sich nicht sehen, mindestens. Ahire sagt, sie alle hätten seine Entscheidung unter­stützt, „doch besonders meine Mutter war sehr traurig“.

Als Ahire im Flugzeug sitzt, holt ihn alles ein: „Ich war traurig und glücklich zugleich. Und ich hatte auch ein wenig Angst.“ Acht Stunden später landet Ahire in Frankfurt. Es ist 18.40 Uhr am 16. September 2022. Vor gut einem Jahr hat sich Kamesh Ahire für diesen Weg entschieden. Er begreift: „Jetzt beginnt ein neues Leben. Ich muss alles neu lernen.“

Die Ampelkoalition will Einwanderung „künftiger Fachkräfte“ erleichtern

Bitte lächeln, Blitzlicht, das Gruppenfoto der Ankömmlinge wird geschossen. Ein Reisebus bringt sie zu ihren Betrieben in Südbaden. Gegen 23.30 Uhr erreicht Ahire sein neues Zuhause. Die Wohnung, die er mit seinen beiden Mit-Auszubildenden bezieht, ist geräumiger als gedacht. Er selbst hat wenig dabei: warme Kleidung. Schuhe. Indische Gewürze, die ihn an zu Hause erinnern sollen. Ahire sagt, in dem Moment sei ihm klar gewesen: „Alles wird gut.“ Auch Dorothea Dosenbach ist erleichtert: „Für diesen Moment hat sich alles gelohnt.“

Seit Anfang Oktober steht Ahire hinter der Dosenbachschen Metzgertheke, von halb sechs bis zwei Uhr mittags. Zwei Tage pro Woche verbringt er in der Berufs­schule im nahen Lörrach. Die Dosenbachs zahlen ihm für die Ausbildung etwa 100 Euro mehr, als sie laut Tarif müssten: nach Steuern rund 750 Euro. Das ist zwar ein Mehrfaches dessen, was Ahire in Indien verdient hat, aber allein für die Miete gehen davon nun 350 Euro drauf. Es wird also dauern, bis Ahire seine Investition wieder hereingeholt hat. Und er will Geld in seine Heimat schicken – spätestens wenn er nach seiner drei­jährigen Lehre ein volles Gehalt erhält. Gelingt die Gesellen­prüfung, bekommt er von den Dosen­bachs außerdem eine Prämie von 1000 Euro. Er will dann noch mindestens zehn Jahre in Deutschland bleiben und arbeiten, gerne bei den Dosenbachs, gerne auch für eine noch längere Zeit.

Es gibt sie also, die Lösungen für den Mangel an Personal. Und es werden mehr: Die Deutsche Bahn hat Auszubildende aus Tunesien angeworben, der Europapark Rust Arbeits­kräfte aus Usbekistan. Womöglich lassen sich solche Projekte bald noch leichter realisieren: Im Oktober hat Bundes­arbeits­minister Hubertus Heil (SPD) angekündigt, deutlich mehr Einwanderung von Fachkräften zu ermöglichen. Laut einem Strategiepapier geht es der Ampelkoalition dabei auch um diejenigen, „die als künftige Fachkräfte nach Deutschland kommen“. Es brauche dafür eine „wertschätzende Willkommens­kultur“ und „attraktive Arbeits­bedingungen“. Kamesh Ahire sagt, er habe bei den Dosenbachs beides vorgefunden: „Wir passen zusammen.“