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Impulse des Monats: Über Sprache, Sicherheit und eine synthetische Partei

20. September 2022
Ein Artikel von Studio ZX.

Welche Ideen haben das Potenzial, unser Miteinander zu verändern? Und was können Unternehmen, Politik und Zivil­gesellschaft daraus lernen? Eine Auswahl neuer Ansätze für unser Zusammenleben.

von Anna-Lena Limpert, Studio ZX

Trends kommen und gehen, das liegt in der Natur der Sache. Aber manchmal kann aus einem Trend echter Wandel werden, der lang­fristig für Veränderung sorgt. Vor allem dann, wenn viele Menschen von der Idee dahinter profitieren. In dieser Reihe stellen wir einmal im Monat genau solche Lösungen vor: drei Initiativen, Ideen, Gründungen oder Forschungs­ergebnisse, die inspirieren.

Die Sprache der Berührung

Ungefähr 6.500 unterschiedliche Sprachen existieren auf unserer Welt. In Deutschland werden neben Deutsch am häufigsten Russisch, Türkisch und Polnisch gesprochen. Viel Raum für Vielfalt, aber unweigerlich auch für Ab- und Ausgrenzung. Was wäre also, wenn es eine universelle Sprache für alle gäbe? Die Studierenden­gruppe HART aus den Niederlanden arbeitet daran.

Für seine Idee hat das Team der Technischen Universität Eindhoven bereits ein Proof of Concept, also den Beleg der Machbarkeit, abgegeben. Die Student:innen haben einen Ärmel entwickelt, mit dem die Träger:innen unabhängig von ihren sonstigen Sprach­kenntnissen und der Fähigkeit, zu sprechen, kommunizieren können. Das Gerät sieht aus wie der Ärmel eines Pullovers und wird über den Unterarm gezogen. Ein integriertes Mikrofon nimmt Wörter aus der Umgebung auf, verarbeitet und über­setzt sie ins Englische, um dann bestimmte Sprach­muster daraus abzuleiten. Diese wiederum werden in ein haptisches Feedback über­setzt, das der Ärmel in Form von Vibrations­mustern an die Träger:innen zurück­gibt. Nach „einer kurzen Zeit des Lernens“, so die Studierenden­gruppe, würde das Gehirn diese Muster – und demnach die neue Sprache – erkennen. „A unified language of touch“ nennt das die Gruppe. Eine einheitliche Sprache der Berührung.

Besonders für gehörlose Menschen oder jene, die sich in einer neuen Sprache zurechtfinden müssen, kann die Erfindung hilf­reich sein. Unklar ist noch, ob, wann und in welchem Umfang der Sprach-Ärmel in der Realität einsetzbar ist. Die Idee dahinter kann bisweilen aber Inspiration genug sein: Sprache stellt häufig eine Barriere für unser Miteinander dar, ihre Beherrschung und die Fähigkeit, zu sprechen, entscheidet nicht selten auch über die Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe. Das Ziel, eine einheitliche Art der Kommunikation zu schaffen, könnte unser Zusammen­leben deshalb lang­fristig revolutionieren.

Zwei sind besser als eine

„80 Prozent aller Frauen erleben sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum“, schreiben die Gründer:innen der App „Bibti“ auf ihrer Website. Und genau deswegen gibt es diese App. Bibti soll Frauen helfen, ihre Wege sicherer zu meistern. „Zwei sind besser als eine“ lautet die Devise des US-amerikanischen Unternehmens, das die App herausgibt. Diese Erkenntnis hat das Start-up deswegen zur zentralen Funktion der App gemacht, bei der sich Frauen anmelden und verifizieren lassen können, um dann andere Nutzerinnen in einem gewissen Radius zu finden, mit denen sie einen Weg gemeinsam zurücklegen können. Die App ist bislang noch in der Entwicklungs­phase, soll aber zu Beginn des kommenden Jahres verfügbar sein.

Natürlich kann auch eine solche Lösung keinen vollkommenen Schutz gewähren. Auch eine Garantie für das Wohlwollen der anderen Nutzerinnen und die gewünschte Nutzung der App kann es trotz Verifizierung nie sicher geben. Die Idee zeigt aber, wie technische Möglichkeiten und Netzwerke genutzt werden können, um gesellschaftliche Miss­stände zu adressieren und Menschen in ähnlichen und gefährlichen Situationen sinnvoll miteinander zu verknüpfen. Denn niemand soll sich ausgeliefert oder allein fühlen – erst recht nicht in vulnerablen Situationen.

Computer Lars und die Synthetische Partei

Computer Lars, ein Kollektiv von Künstler:innen aus Dänemark, hat eine neue Partei gegründet, die bei den nächsten Parlaments­wahlen in Dänemark antreten soll. Das Besondere: Das Partei­programm haben nicht die Mitglieder des Kollektivs aufgestellt, sondern eine Künstliche Intelligenz (KI). Das erklärte Ziel der Partei ist es, genau die Menschen anzusprechen, die sich von den Inhalten der Parteien, die derzeit im dänischen Parlament sitzen, nicht abgeholt fühlen.

Computer Lars zufolge sind das hauptsächlich Nichtwähler:innen, also ungefähr 15 Prozent der dänischen Bevölkerung. Deswegen habe die KI alle Veröffentlichungen dänischer Rand­parteien seit 1970 analysiert – in der Hoffnung, dass sich Menschen im Partei­programm wieder­finden, die sich sonst nicht repräsentiert fühlen.

Tatsächlich ist der Inhalt des Parteiprogramms und seine kreative Entstehung aber nur ein Grund für die Partei­gründung. Die „Syntetiske Parti“ soll als eine Mischung aus „Protest gegen die politische Klasse“ und Provokation gesehen werden, sagt das Kollektiv Computer Lars auf seiner Website. Gegen den Politik­verdruss, den es in Dänemark beobachtet, und die Parteien, die ihre Wähler:innen aus dem Blick verlieren.

Das Kollektiv experimentiert mit der Verknüpfung von Politik und Technologie. Ein Zusammen­spiel, das auch in der deutschen Parteien­landschaft und im Politik­betrieb alles andere als alltäglich ist. Ungeachtet der Inhalte der Synthetischen Partei macht das Kollektiv auf die ungenutzten Potenziale aufmerksam, die allein durch die Digitalisierung von internen Partei­prozessen möglich wären.