ZEIT für X
Mitarbeiterinnen in Bangalore sortieren den Müll, bevor er zu Granulat verarbeitet wird

Die Kraft der kleinen Schritte

27. Juli 2023
ZEIT Redaktion

Eine Tochter des Familien­konzerns Melitta lässt in Indien altes Plastik recyceln und zahlt faire Löhne. Das Projekt soll der Umwelt nutzen – und das Image bei den eigenen Mitarbeitern aufpolieren

von Ann-Kathrin Nezik und Jens Tönnesmann, Redakteur im Wirtschaftsressort, DIE ZEIT, verantwortlicher Redakteur, ZEIT für Unternehmer

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2023.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Raheema Delly führt in eine Halle mit Wellblechwänden, in der sich ein meterhoher Müllberg auftürmt. Fliegen schwirren umher, es stinkt. Hier, zwischen Chipstüten und Papp­kartons und Dosen, liegt Dellys Arbeitsplatz. Wenn Last­wagen morgens den Müll bringen, den sie in Hotels oder Haus­halten der südindischen Großstadt Bangalore eingesammelt haben, hockt sich die 22-Jährige an den Fuß des Müllbergs auf einen Plastik­stuhl und fängt an zu sortieren: Pappe wirft sie auf einen Haufen, Plastik auf einen anderen, Blech auf einen dritten. Elf Stunden geht das so, inklusive Mittagspause. Umgerechnet 130 Euro verdient Delly pro Monat, was in ihrem Land mehr als das Doppelte des Mindestlohns bedeutet.

Auch sonst hat es die junge Frau etwas besser als die meisten Müll­sortierer im Land: Statt im Freien arbeitet sie unter einem Dach. Statt barfuß im Unrat zu hocken, trägt sie Schlappen. Es sind kleine Fortschritte in einem Job, den in Indien meist die Aller­ärmsten erledigen, Wander­arbeiter, die von Stadt zu Stadt ziehen, ohne Kranken­versicherung oder Schutz vor tyrannischen Chefs.

Fair Recycled Plastic heißt das Projekt, für das Delly arbeitet. 2000 Tonnen Müll sollen im Jahr eingesammelt und – anders als bei den meisten Firmen – recycelt statt verbrannt werden, ohne die „waste picker“ auszubeuten. Geschätzte 15.000 bis 20.000 Menschen verdienen in Bangalore ihr Geld mit dem Sammeln und Sortieren von Müll. Fair Recycled Plastic will sie fair bezahlen und die Gewinne des Projekts in die Gesundheit und Bildung der Arbeiter und ihrer Familien fließen lassen.

Was, Gewinne?

Genau: All diese Ziele will Fair Recycled Plastic erreichen, indem es wie andere Unternehmen profitabel wirtschaftet. Die Firma ist ein sogenanntes Sozial­unternehmen. Und sie ist eine Tochter des deutschen Familien­unternehmens Melitta, das im westfälischen Minden sitzt, zuletzt gut 1,9 Milliarden Euro Jahres­umsatz erwirtschaftete und etwa 6000 Menschen beschäftigt. Weltweit bekannt für seine Kaffee­filter, Frisch­halte­folien und Staub­sauger­beutel, stellte Melitta im Jahr 2021 laut Nach­haltig­keits­bericht mehr als 60.000 Tonnen Kunststoffe und Kunst­stoff­produkte her. Verständlich, dass man sich da ums Recyceln kümmert.

Nur: Was verbindet Minden in Westfalen mit Bangalore in Karnataka? Wie kommt ein deutsches Familien­unternehmen auf die Idee, etwa 7500 Kilometer Luft­linie entfernt Müll recyceln zu lassen?

Wir wollten uns wieder in die Augen schauen können

Oliver Strelecki, CEO der Melitta-Tochter Cofresco

Angefangen hat alles vor einigen Jahren in der Chefetage von Cofresco. So heißt die Tochter von Melitta, die Frisch­halte­folien der Marke Toppits und Müllbeutel der Marke Swirl herstellt. Nach ihren Angaben nutzen europaweit etwa 70 Millionen Haushalte diese Kunst­stoff­produkte. Und manche bringt das zum Nachdenken: Vor einigen Jahren war die Tochter eines Cofresco-Managers in Nepal unterwegs und schickte ihrem Vater ein Foto von dem Plastik­müll, der dort herumlag. Dann fragte sie ihn, was er denn dagegen tue – als Mitarbeiter eines Unternehmens, das kilometer­weise Plastik­folien herstellt. Das beschäftigte auch Oliver Strelecki, der damals der Marketingchef von Cofresco war und seit 2020 ihr Geschäfts­führer ist. „Wir wollten uns wieder in die Augen schauen können“, erzählt Strelecki. „Also haben wir damals überlegt, was wir als Hersteller von Plastik­produkten gegen die weltweite Verschmutzung mit Plastik tun können.“

Diese Verschmutzung ist gewaltig: Laut dem Umwelt­programm der Vereinten Nationen Unep werden welt­weit pro Minute eine Million Plastik­flaschen verkauft und pro Jahr fünf Billionen Plastik­tüten verwendet. Etwa die Hälfte dieser Plastik­teile wird nur einmal benutzt und dann oft einfach weg­geworfen. So entstehen pro Jahr rund 400 Millionen Tonnen Plastik­müll.

In Summe haben sich auf der Erde über die Jahrzehnte etwa sieben Milliarden Tonnen Plastik­müll angehäuft. Denn geschätzt wurden weniger als zehn Prozent des Mülls recycelt. Ein großer Teil des Rests verschmutzt die Städte, landet in Flüssen und wird ins Meer gespült, wo jedes Jahr Hundert­tausende Meeres­vögel, Säugetiere und Fische daran verenden. Unep warnt: „Unser Planet erstickt am Plastik.“

Strelecki und seine Kollegen beschlossen also, etwas zu tun, und kamen ins Gespräch mit der Organisation Yunus Social Business. Die gemein­nützige GmbH sitzt in Berlin und finanziert seit 2012 weltweit Sozialunternehmen – also Firmen, die einen sozialen Geschäfts­zweck verfolgen, aber zugleich profitabel arbeiten sollen. Das soll sie unabhängiger von Spenden machen und das Überleben sichern. In den vergangenen zehn Jahren hat Yunus Social Business nach eigenen Angaben mehr als 2000 Sozial­unternehmer unterstützt, mehr als 60 Sozial­unternehmer finanziert und dabei oft mit etablierten Unternehmen wie der Anwaltsfirma Fresh­fields, dem Beratungs­riesen BCG und dem Lebensmittelkonzern Danone zusammen­gearbeitet. Die Idee: Die Welt lässt sich leichter verändern, wenn man mit Unternehmen kooperiert, als wenn man gegen sie vorgeht.

Gegründet wurde Yunus Social Business von der ehemaligen BCG-Beraterin Saskia Bruysten und dem Friedens­nobel­preis­träger Muhammad Yunus aus Bangladesch. Der Namens­patron wurde einst durch Kleinst­kredite bekannt, mit denen er Menschen aus der Armut half. Bruysten ist außerdem Mitglied im ZEIT Green Council, den die ZEIT zum Start ihres neuen Ressorts Green im Jahr 2021 gründete. Sie sagt: „Unternehmen haben eine Art Immun­system, das Projekte aussortiert, die sich nicht schnell genug finanziell lohnen.“ Bei Melitta und Cofresco habe sie das anders erlebt, „weil dahinter eine Unternehmer­familie steckt und dort ein Management arbeitet, das Ideen hartnäckig verfolgt, auch wenn man einen langen Atem braucht“.

Und den braucht das Unternehmen aus Minden tatsächlich. Im Jahr 2018 beschlossen Melitta und Yunus Social Business ihre Kooperation. Melitta gründete die Tochter­firma Vishuddh Recycle. Vishuddh ist Hindi und bedeutet so viel wie „rein“ oder „Reinheit“. Ausgesprochen klingt der Name wie „We should recycle“. Die Firma steht hinter Fair Recycled Plastic.

Yunus Social Business hält nach eigenen Angaben einen „golden share“ an dem Unternehmen – einen marginalen Firmen­anteil, der einem indes Mitsprache- und Veto­rechte gewährt. So ist ausgeschlossen, dass die Melitta-Chefs doch auf die Idee kommen, Gewinne aus Bangalore nach Minden zu transferieren, statt damit Bildungs- und Gesundheits­projekte zu finanzieren. Außerdem unterstützt das Bundes­ministerium für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung den Versuch mit Mitteln aus einem Programm namens develoPPP. Es finanziert Projekte, bei denen „unternehmerische Chancen und entwicklungspolitischer Handlungs­bedarf zusammen­treffen“.

Auf die Millionen-Stadt Bangalore fiel die Wahl, weil in Indien viel Plastik über Flüsse im Meer landet. Das demokratische Land leidet unter großer Armut, Müll­trennung und Recycling sind die Ausnahme. Das berichtet Ashustosh Singh, der Chef von Fair Recycled Plastic. Er hat Gas- und Öl-Ingenieur­wesen studiert und sagt: „Ich weiß sehr gut, wie aus Öl Plastik hergestellt wird – aber ich wusste lange nicht, wie wir es wieder von der Straße kriegen.“

Mit Fair Recycled Plastic will er den Menschen nahe­bringen, warum Recyceln wichtig ist. Weil die Corona-Pandemie das Projekt erst mal in den Still­stand zwang, kamen die Container mit den Recycling­maschinen verspätet; monatelang ruhte die Arbeit. Erst 2022 produzierte die Anlage aus den gesammelten Abfällen erstmals Rezyklat, das tatsächlich wieder­verwendet wird.

Singh wirkt wie ein Manager, nicht wie ein Sozialarbeiter. An der Müllhalle steigt er in sein SUV und quält sich durch den dichten Nachmittagsverkehr Bangalores. Er will unbedingt seine Recycling-Anlage zeigen, auch wenn die am anderen Ende der Stadt liegt. Man merkt, wie stolz er darauf ist, dass die nun endlich in Betrieb ist.

Dort, in einem Industriegebiet, wird es laut: Maschinen donnern, in meterdicken Boxen werden die Plastik­flaschen gereinigt und geschmolzen. „Das funktioniert im Prinzip wie eine riesige Waschmaschine“, sagt Singh, während er die Anlage umrundet. Am Ende angekommen, greift er in einen Behälter mit grauen Körnern, so groß wie Linsen: das Granulat aus Polyethylen.

Von Bangalore aus wird das Granulat zum nächsten Hafen transportiert und dann per Seefracht nach Europa. Die Reise endet in Brodnica in Polen, wo Cofresco gut 500 Menschen beschäftigt. Hier wird das Rezyklat zu neuen Kunst­stoff­produkten wie Mülltüten verarbeitet, laut Strelecki stammen fünf Prozent inzwischen aus dem Projekt in Bangalore. Ein kleiner Beitrag, aber der Cofresco-Chef hat eine Vision: Auf lange Sicht sollten Müll­beutel zu hundert Prozent aus dem Granulat gefertigt werden, das aus Bangalore und vergleichbaren Projekten in anderen Städten gewonnen wird. Bangalore soll also „erst der Anfang“ sein.

Das Problem: Nach eigenen Angaben kostet es Cofresco rund 30 Prozent mehr, das Granulat in Bangalore zu recyceln, als vergleichbare Rohstoffe am Markt einzukaufen. Entsprechend finanziert sich das Projekt bisher noch nicht selbst: Statt Gewinne zu erzielen und in soziale Projekte zu stecken, schießt Cofresco bisher Geld zu; wie viel genau, sagt das Unternehmen nicht. „Das Projekt muss sich refinanzieren“, sagt Oliver Strelecki, „und auf lange Sicht werden wir das auch schaffen.“ Das ist ein hehres Ziel.

Allein wird Fair Recycled Plastic die Plastik­flut ohnehin nicht eindämmen. Aber es könnte Nachahmer finden: Konzerne, die ebenfalls Sozial­unternehmen gründen – auch wenn diese anfangs einen Verlust bedeuten und ein Erfolg nicht garantiert ist. Saskia Bruysten rät, dann ein Projekt aufzubauen, das zum Kerngeschäft und zur Strategie passt. Bei Fair Recycled Plastic sei das der Fall: Cofresco will ab 2025 nur noch recycelte oder nach­wachsende Rohstoffe für Produkte und Verpackungen verwenden. Für Melitta ist das Projekt eine „Leucht­turm­maßnahme“ in einem Prozess, der den ganzen Konzern nach­haltiger machen soll.

Laut Oliver Strelecki geht die Rechnung noch weiter. Fair Recycled Plastic auf­zu­bauen bringe zwar keine zusätzlichen Kunden. Aber das Projekt bedeute den Mitarbeitern viel. „Wenn ich mal alt bin, werde ich mich an dieses Projekt erinnern“, sagt er selbst. So überzeuge es auch Bewerber, die sonst wohl kaum bei einem Plastik­produzenten anheuern würden.