
Die Kraft der kleinen Schritte
ZEIT RedaktionEine Tochter des Familienkonzerns Melitta lässt in Indien altes Plastik recyceln und zahlt faire Löhne. Das Projekt soll der Umwelt nutzen – und das Image bei den eigenen Mitarbeitern aufpolieren
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2023.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.
Raheema Delly führt in eine Halle mit Wellblechwänden, in der sich ein meterhoher Müllberg auftürmt. Fliegen schwirren umher, es stinkt. Hier, zwischen Chipstüten und Pappkartons und Dosen, liegt Dellys Arbeitsplatz. Wenn Lastwagen morgens den Müll bringen, den sie in Hotels oder Haushalten der südindischen Großstadt Bangalore eingesammelt haben, hockt sich die 22-Jährige an den Fuß des Müllbergs auf einen Plastikstuhl und fängt an zu sortieren: Pappe wirft sie auf einen Haufen, Plastik auf einen anderen, Blech auf einen dritten. Elf Stunden geht das so, inklusive Mittagspause. Umgerechnet 130 Euro verdient Delly pro Monat, was in ihrem Land mehr als das Doppelte des Mindestlohns bedeutet.
Auch sonst hat es die junge Frau etwas besser als die meisten Müllsortierer im Land: Statt im Freien arbeitet sie unter einem Dach. Statt barfuß im Unrat zu hocken, trägt sie Schlappen. Es sind kleine Fortschritte in einem Job, den in Indien meist die Allerärmsten erledigen, Wanderarbeiter, die von Stadt zu Stadt ziehen, ohne Krankenversicherung oder Schutz vor tyrannischen Chefs.
Fair Recycled Plastic heißt das Projekt, für das Delly arbeitet. 2000 Tonnen Müll sollen im Jahr eingesammelt und – anders als bei den meisten Firmen – recycelt statt verbrannt werden, ohne die „waste picker“ auszubeuten. Geschätzte 15.000 bis 20.000 Menschen verdienen in Bangalore ihr Geld mit dem Sammeln und Sortieren von Müll. Fair Recycled Plastic will sie fair bezahlen und die Gewinne des Projekts in die Gesundheit und Bildung der Arbeiter und ihrer Familien fließen lassen.
Was, Gewinne?
Genau: All diese Ziele will Fair Recycled Plastic erreichen, indem es wie andere Unternehmen profitabel wirtschaftet. Die Firma ist ein sogenanntes Sozialunternehmen. Und sie ist eine Tochter des deutschen Familienunternehmens Melitta, das im westfälischen Minden sitzt, zuletzt gut 1,9 Milliarden Euro Jahresumsatz erwirtschaftete und etwa 6000 Menschen beschäftigt. Weltweit bekannt für seine Kaffeefilter, Frischhaltefolien und Staubsaugerbeutel, stellte Melitta im Jahr 2021 laut Nachhaltigkeitsbericht mehr als 60.000 Tonnen Kunststoffe und Kunststoffprodukte her. Verständlich, dass man sich da ums Recyceln kümmert.
Nur: Was verbindet Minden in Westfalen mit Bangalore in Karnataka? Wie kommt ein deutsches Familienunternehmen auf die Idee, etwa 7500 Kilometer Luftlinie entfernt Müll recyceln zu lassen?
Wir wollten uns wieder in die Augen schauen können
Oliver Strelecki, CEO der Melitta-Tochter Cofresco
Angefangen hat alles vor einigen Jahren in der Chefetage von Cofresco. So heißt die Tochter von Melitta, die Frischhaltefolien der Marke Toppits und Müllbeutel der Marke Swirl herstellt. Nach ihren Angaben nutzen europaweit etwa 70 Millionen Haushalte diese Kunststoffprodukte. Und manche bringt das zum Nachdenken: Vor einigen Jahren war die Tochter eines Cofresco-Managers in Nepal unterwegs und schickte ihrem Vater ein Foto von dem Plastikmüll, der dort herumlag. Dann fragte sie ihn, was er denn dagegen tue – als Mitarbeiter eines Unternehmens, das kilometerweise Plastikfolien herstellt. Das beschäftigte auch Oliver Strelecki, der damals der Marketingchef von Cofresco war und seit 2020 ihr Geschäftsführer ist. „Wir wollten uns wieder in die Augen schauen können“, erzählt Strelecki. „Also haben wir damals überlegt, was wir als Hersteller von Plastikprodukten gegen die weltweite Verschmutzung mit Plastik tun können.“
Diese Verschmutzung ist gewaltig: Laut dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen Unep werden weltweit pro Minute eine Million Plastikflaschen verkauft und pro Jahr fünf Billionen Plastiktüten verwendet. Etwa die Hälfte dieser Plastikteile wird nur einmal benutzt und dann oft einfach weggeworfen. So entstehen pro Jahr rund 400 Millionen Tonnen Plastikmüll.
In Summe haben sich auf der Erde über die Jahrzehnte etwa sieben Milliarden Tonnen Plastikmüll angehäuft. Denn geschätzt wurden weniger als zehn Prozent des Mülls recycelt. Ein großer Teil des Rests verschmutzt die Städte, landet in Flüssen und wird ins Meer gespült, wo jedes Jahr Hunderttausende Meeresvögel, Säugetiere und Fische daran verenden. Unep warnt: „Unser Planet erstickt am Plastik.“
Strelecki und seine Kollegen beschlossen also, etwas zu tun, und kamen ins Gespräch mit der Organisation Yunus Social Business. Die gemeinnützige GmbH sitzt in Berlin und finanziert seit 2012 weltweit Sozialunternehmen – also Firmen, die einen sozialen Geschäftszweck verfolgen, aber zugleich profitabel arbeiten sollen. Das soll sie unabhängiger von Spenden machen und das Überleben sichern. In den vergangenen zehn Jahren hat Yunus Social Business nach eigenen Angaben mehr als 2000 Sozialunternehmer unterstützt, mehr als 60 Sozialunternehmer finanziert und dabei oft mit etablierten Unternehmen wie der Anwaltsfirma Freshfields, dem Beratungsriesen BCG und dem Lebensmittelkonzern Danone zusammengearbeitet. Die Idee: Die Welt lässt sich leichter verändern, wenn man mit Unternehmen kooperiert, als wenn man gegen sie vorgeht.
Gegründet wurde Yunus Social Business von der ehemaligen BCG-Beraterin Saskia Bruysten und dem Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus aus Bangladesch. Der Namenspatron wurde einst durch Kleinstkredite bekannt, mit denen er Menschen aus der Armut half. Bruysten ist außerdem Mitglied im ZEIT Green Council, den die ZEIT zum Start ihres neuen Ressorts Green im Jahr 2021 gründete. Sie sagt: „Unternehmen haben eine Art Immunsystem, das Projekte aussortiert, die sich nicht schnell genug finanziell lohnen.“ Bei Melitta und Cofresco habe sie das anders erlebt, „weil dahinter eine Unternehmerfamilie steckt und dort ein Management arbeitet, das Ideen hartnäckig verfolgt, auch wenn man einen langen Atem braucht“.
Und den braucht das Unternehmen aus Minden tatsächlich. Im Jahr 2018 beschlossen Melitta und Yunus Social Business ihre Kooperation. Melitta gründete die Tochterfirma Vishuddh Recycle. Vishuddh ist Hindi und bedeutet so viel wie „rein“ oder „Reinheit“. Ausgesprochen klingt der Name wie „We should recycle“. Die Firma steht hinter Fair Recycled Plastic.
Yunus Social Business hält nach eigenen Angaben einen „golden share“ an dem Unternehmen – einen marginalen Firmenanteil, der einem indes Mitsprache- und Vetorechte gewährt. So ist ausgeschlossen, dass die Melitta-Chefs doch auf die Idee kommen, Gewinne aus Bangalore nach Minden zu transferieren, statt damit Bildungs- und Gesundheitsprojekte zu finanzieren. Außerdem unterstützt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung den Versuch mit Mitteln aus einem Programm namens develoPPP. Es finanziert Projekte, bei denen „unternehmerische Chancen und entwicklungspolitischer Handlungsbedarf zusammentreffen“.
Auf die Millionen-Stadt Bangalore fiel die Wahl, weil in Indien viel Plastik über Flüsse im Meer landet. Das demokratische Land leidet unter großer Armut, Mülltrennung und Recycling sind die Ausnahme. Das berichtet Ashustosh Singh, der Chef von Fair Recycled Plastic. Er hat Gas- und Öl-Ingenieurwesen studiert und sagt: „Ich weiß sehr gut, wie aus Öl Plastik hergestellt wird – aber ich wusste lange nicht, wie wir es wieder von der Straße kriegen.“
Mit Fair Recycled Plastic will er den Menschen nahebringen, warum Recyceln wichtig ist. Weil die Corona-Pandemie das Projekt erst mal in den Stillstand zwang, kamen die Container mit den Recyclingmaschinen verspätet; monatelang ruhte die Arbeit. Erst 2022 produzierte die Anlage aus den gesammelten Abfällen erstmals Rezyklat, das tatsächlich wiederverwendet wird.
Singh wirkt wie ein Manager, nicht wie ein Sozialarbeiter. An der Müllhalle steigt er in sein SUV und quält sich durch den dichten Nachmittagsverkehr Bangalores. Er will unbedingt seine Recycling-Anlage zeigen, auch wenn die am anderen Ende der Stadt liegt. Man merkt, wie stolz er darauf ist, dass die nun endlich in Betrieb ist.
Dort, in einem Industriegebiet, wird es laut: Maschinen donnern, in meterdicken Boxen werden die Plastikflaschen gereinigt und geschmolzen. „Das funktioniert im Prinzip wie eine riesige Waschmaschine“, sagt Singh, während er die Anlage umrundet. Am Ende angekommen, greift er in einen Behälter mit grauen Körnern, so groß wie Linsen: das Granulat aus Polyethylen.
Von Bangalore aus wird das Granulat zum nächsten Hafen transportiert und dann per Seefracht nach Europa. Die Reise endet in Brodnica in Polen, wo Cofresco gut 500 Menschen beschäftigt. Hier wird das Rezyklat zu neuen Kunststoffprodukten wie Mülltüten verarbeitet, laut Strelecki stammen fünf Prozent inzwischen aus dem Projekt in Bangalore. Ein kleiner Beitrag, aber der Cofresco-Chef hat eine Vision: Auf lange Sicht sollten Müllbeutel zu hundert Prozent aus dem Granulat gefertigt werden, das aus Bangalore und vergleichbaren Projekten in anderen Städten gewonnen wird. Bangalore soll also „erst der Anfang“ sein.
Das Problem: Nach eigenen Angaben kostet es Cofresco rund 30 Prozent mehr, das Granulat in Bangalore zu recyceln, als vergleichbare Rohstoffe am Markt einzukaufen. Entsprechend finanziert sich das Projekt bisher noch nicht selbst: Statt Gewinne zu erzielen und in soziale Projekte zu stecken, schießt Cofresco bisher Geld zu; wie viel genau, sagt das Unternehmen nicht. „Das Projekt muss sich refinanzieren“, sagt Oliver Strelecki, „und auf lange Sicht werden wir das auch schaffen.“ Das ist ein hehres Ziel.
Allein wird Fair Recycled Plastic die Plastikflut ohnehin nicht eindämmen. Aber es könnte Nachahmer finden: Konzerne, die ebenfalls Sozialunternehmen gründen – auch wenn diese anfangs einen Verlust bedeuten und ein Erfolg nicht garantiert ist. Saskia Bruysten rät, dann ein Projekt aufzubauen, das zum Kerngeschäft und zur Strategie passt. Bei Fair Recycled Plastic sei das der Fall: Cofresco will ab 2025 nur noch recycelte oder nachwachsende Rohstoffe für Produkte und Verpackungen verwenden. Für Melitta ist das Projekt eine „Leuchtturmmaßnahme“ in einem Prozess, der den ganzen Konzern nachhaltiger machen soll.
Laut Oliver Strelecki geht die Rechnung noch weiter. Fair Recycled Plastic aufzubauen bringe zwar keine zusätzlichen Kunden. Aber das Projekt bedeute den Mitarbeitern viel. „Wenn ich mal alt bin, werde ich mich an dieses Projekt erinnern“, sagt er selbst. So überzeuge es auch Bewerber, die sonst wohl kaum bei einem Plastikproduzenten anheuern würden.