ZEIT für X
Weniger Zement ist besser für das Klima

Gegen die Betonköpfe

30. Juni 2023
ZEIT Redaktion

Ein Vater und ein Sohn arbeiten daran, dass beim Straßenbau weniger Zement verbraucht und das Klima geschont wird. Sie stoßen auf hartnäckige Widerstände

von Carolyn Braun

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 2/2023.“ Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Die Irritation

Das geht nicht: Diesen Satz hat Hansjörg Bihl oft zu hören bekommen, als er in seinen ersten 20 Berufsjahren für ein schwäbisches Zementwerk arbeitete. „Ich war dort im Labor ziemlich unbeliebt“, erzählt der 60-Jährige. Bihl wollte: Abfall vermeiden, Material wiederverwerten, weniger Zement verwenden. Solche Ideen interessierten im letzten Jahrtausend allerdings kaum jemanden. „Und wenn’s keiner probiert, ist doch klar, dass es nicht geht“, sagt er.

Die Idee

Lange kümmerte auch kaum jemanden, wie sehr die Zementherstellung den Klimawandel verschärft. Sie verursacht zwei Prozent der deutschen und acht Prozent der globalen Treibhausgasemissionen – pro Jahr sind das mehr als drei Milliarden Tonnen CO₂, das Drei- bis Vierfache des weltweiten Flugverkehrs. Dass der Bau in absehbarer Zeit ganz ohne Zement auskommen wird, konnte sich auch Bihl nicht vorstellen – aber schon, dass man davon weniger verwenden kann. Dank eines mineralischen Pulvers, das er zusammen mit seinem Kollegen Michael Hermann entwickelte. Das Additiv namens Novocrete wird normalem Zement beigemischt. Es erlaubt, Straßen schneller, billiger und mit weniger CO₂-Ausstoß zu sanieren.

Die Marktlücke

Dafür rollt eine Fräse an, hackt den alten Belag in Stücke und pflügt ihn um. Ein Streuwagen verteilt eine genau berechnete Menge des Novecrete-Zement-Gemischs, die Fräse fügt Wasser hinzu. Schließlich plätten Walze und Grader den Boden, bevor er hart wird. Der Clou: Der alte Belag wird nicht abgetragen und per Lkw auf der Deponie entsorgt, sondern an Ort und Stelle wiederverwendet. Das passiert bisher sehr selten: In Deutschland werden jährlich rund 130 Millionen Tonnen Baumaterial einfach entsorgt.

Zweifler und Förderer

Bihls Arbeitgeber, die Zementfirma, fand die Idee nicht so reizvoll: Warum einen Stoff vermarkten, der dafür sorgt, dass weniger Zement gebraucht wird? Also machten Bihl und Hermann sich im Jahr 2002 selbstständig. Weniger Emissionen, geringerer Rohstoffbedarf, kürzere Bauzeit, längere Haltbarkeit – man sollte meinen, dass die Kunden Schlange gestanden hätten. Aber nein: „Die Baubranche ist unheimlich konservativ“, sagt Bihl senior. „Die haben mich gefragt: Wie lange machst du das schon? Drei Jahre? Komm mal in zehn wieder.“ Am Ende dauerte es fast 20. Zentrale Erfolgsfaktoren: steigende Deponiegebühren und eine neue Verordnung in Baden-Württemberg. Sie bewirkt, dass die öffentliche Hand künftig den CO₂-Ausstoß ihrer Bauprojekte mehr berücksichtigen muss.

Der Erfolg

Hermann hat sich vor acht Jahren in den Ruhestand verabschiedet, Hansjörg Bihls Sohn Julian hat übernommen. Der 30-Jährige hat den Zeitgeist erkannt, der Umsatz stieg zuletzt jedes Jahr um die Hälfte. Dieses Jahr soll es ein Plus von 70 Prozent sein. Inzwischen arbeiten 20 Angestellte für die Bihls, ihre IBS GmbH aus Bösingen ist in 30 Ländern aktiv, Novocrete wird etwa beim Bau eines Hafens in Kamerun eingesetzt. Gerade hat die Familienfirma den Deutschen Innovationspreis in der Kategorie Mittelstand erhalten. Die Jury verpasste Novocrete den Spitznamen „Mondamin der Straße“. Wenn das Mineralpulver nur halb so erfolgreich wird wie das Stärkemehl, haben die Bihls ausgesorgt.