ZEIT für X
Kugeln

Ins Rollen gebracht

09. April 2024
ZEIT Redaktion

Junge Gründer aus Duisburg bauen einen Ball, um wieder mit ihren demenzkranken Großeltern interagieren zu können. Mittlerweile rollt er in Hunderten Händen

von Carolyn Braun

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 1/2024. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“.

Ohne seine Oma wäre Steffen Preuß vor etwa zehn Jahren nicht auf die Idee gekommen, die heute seinen Alltag prägt. „Wenn man Anfang 20 ist, interessiert man sich ja normalerweise eher nicht für Alter und Krankheit“, sagt der 34-Jährige.

Während er noch im Studium steckt, erkrankt seine Großmutter schwer an Demenz. Als er 2013 in einer Projektwerkstatt an der Hochschule Düsseldorf Produktideen entwickeln soll, möchte er etwas bauen, womit er wieder mit ihr kommunizieren kann. Gemeinsam mit Mario Kascholke, dessen Großvater ebenfalls an Demenz leidet, und Eleftherios Efthimiadis, dessen Oma erkrankt ist, beginnt er an einer Lösung zu tüfteln.

Das Marktpotenzial ist groß: 2022 lebten hierzulande laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft 1,8 Millionen Menschen mit Demenz.

Die Studenten, zwei angehende Kommunikationsdesigner und ein künftiger Elektroingenieur und Medieninformatiker, entwickeln eine Art Lernspielzeug: einen mit Elektronik vollgestopften Ball, den sie Ichó nennen. Das ist griechisch und bedeutet übersetzt Echo oder Klang. Der Ball kann Geschichten erzählen und Rätselaufgaben stellen, er spielt Musik und animiert zum Singen, vibriert und leuchtet in verschiedenen Farben. Und er registriert, wie er bewegt, gedrückt oder geworfen wird. Rund 100 Förderspiele kann die interaktive Kugel abspielen. So soll sie die kognitiven und motorischen Fähigkeiten von Menschen mit allen möglichen neurologischen Erkrankungen trainieren.

Den ersten Prototyp – „eher ein Modell aus Hasendraht, das Mario übers Wochenende zusammengebaut hatte“ – testet Preuß’ Oma. Damals habe sie ihren Enkel schon nicht mehr erkannt. Aber als sie den Ball bewegt und er ein Lied von Roy Black spielt, fängt sie an zu schunkeln.

Im Social Impact Lab in Duisburg entwickeln die Tüftler die Silikonkugel weiter. 2018 gründen sie eine GmbH, die Betriebswirtin Alkje Stuhlmann verstärkt das Team als Fachfrau für Finanzen, und Ichó beantragt die Zulassung als EU-Medizinprodukt der Klasse 1. In diese Kategorie fallen Produkte mit geringem Sicherheitsrisiko, etwa Rollatoren oder Pflaster. 2020 sollen die ersten 1.000 Bälle verkauft werden, Stückpreis: rund 1.500 Euro.

Doch der geplante Markteintritt fällt mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammen. Kliniken und Pflegeeinrichtungen schotten sich ab, an Vertrieb ist nicht zu denken. Das zweite Problem: Studien über die tatsächliche Wirksamkeit des Balls fehlen damals noch. Den Erfindern gelingt es nicht, die Investoren der bei Gründern beliebten Fernsehsendung Höhle der Löwen zu überzeugen – obwohl die Präsentation zwei der „Löwinnen“, Judith Williams und Dagmar Wöhrl, zu Tränen rührt.

Heute sind nach Firmenangaben deutschlandweit in 850 Kliniken und stationären Pflegeeinrichtungen zwischen einem und 20 Bällen im Einsatz, und Ichó beschäftigt 13 Mitarbeiter.

Zusammen mit der NRW Bank und dem Frühphasen-Investor Capacura haben eine Handvoll Business-Angels rund zwei Millionen Euro in Ichó investiert. Im Januar holte das Start-up den IT-Dienstleister Meerkat als Investor an Bord. Zukünftig möchten der Geschäftsführer Preuß und seine Kollegen nicht nur Bälle verkaufen, sondern auch Daten liefern, die helfen sollen, Menschen mit verschiedenen Krankheitsbildern zu behandeln. Derzeit läuft dazu ein Pilotprojekt mit den Unikliniken Köln und Düsseldorf.