ZEIT für X
Dunkle Couch und Pflanzen im Foyer von Marantec.

Scheuklappen runter

30. August 2022
ZEIT Redaktion

Viel Ostwestfalen, reichlich Berlin, ziemlich viel zu tun: Wie eine Familien­unternehmerin einen Weg sucht, ihre Firma zu modernisieren – und den Mittelstand gleich mit

Als der große Moment des Tages kurz bevorsteht, wird es plötzlich hektisch im Hinter­zimmer eines Ladenlokals in Berlin-Mitte. In einer halben Stunde soll Kerstin Hochmüller mit drei Mitstreitern vor einem zugeschalteten Publikum darüber sprechen, wie Mittel­ständler besser zusammen­arbeiten können, aber die Mägen knurren, und der Burger-Laden kann die Groß­bestellung so schnell nicht liefern. „Nimm mein Fahrrad“, ruft Hochmüller und wirft ihren Schlüssel einer jüngeren Mitarbeiterin zu.

Es ist nicht das erste Mal, dass Hochmüller an diesem Tag improvisieren muss. Die 54-Jährige ist Geschäfts­führerin der Marantec-Gruppe, die Steuerungen und Antriebe für Tore herstellt – Garagen­tore, Schiebe­tore, Dreh­tore. Sie will den Hidden Champion aus dem Kreis Gütersloh in ein Vorzeige­unternehmen für einen modernen Mittel­stand umbauen. Credo: Lieber vorangehen als untergehen, wenn digitale Transformation und Fach­kräfte­mangel zusammen­kommen. Hochmüller pendelt dafür zwischen ost­westfälischem Maschinen­bau-Kosmos und Berliner Start-up-Welt; bewegt sich permanent zwischen großer Vision und Mikromanagement.

An diesem Frühlingstag hat die Initiative „New Mittelstand“ zum „Summit“ in die Hauptstadt geladen. Hochmüller gehört zu den Gründungs­mitgliedern, unter den Unter­stützern sind auch Bahlsen und Frosta. Erklärtes Ziel der Initiative: eine „nach­haltige Wirtschaft der Zukunft“ gestalten – aus der Erkenntnis heraus, dass der Mittelstand in Deutschland erfolg­reich, aber ziemlich angestaubt ist. Und längst nicht mehr so erfinderisch wie früher. Die Quote der Innovatoren ist laut der KfW von über 40 Prozent in den Nuller­jahren auf 22 Prozent im Jahr 2020 gefallen – Zahlen, die Hoch­müllers Initiative oft bemüht. Und deshalb fordert, die „Scheuklappen“ abzunehmen und den Mittelstand „radikal innovativer“ zu machen.

Aber was heißt das konkret? Wie arbeitet eine moderne Unternehmerin, wie füllt sie diese Begriffe mit Leben?

Begleitet man Kerstin Hochmüller einen Tag lang, dann bekommt man ein Gefühl dafür, wie das gehen kann – aber auch, wie anstrengend es ist.

Kurz nach sieben, Hochmüller setzt sich auf ihr Leih­fahrrad und radelt von ihrer Unterkunft – Motel One, nicht Adlon – zu einem Haus in der Berliner Torstraße, das so manches Start-up-Klischee atmet: siebter Stock, Altbau, ein Co-Working-Büro.

Im Rucksack hat Hochmüller alles dabei, was sie braucht, um ihren Mittel­ständler mit etwa 100 Millionen Euro Umsatz und mehr als 600 Mitarbeitern von unterwegs aus zu führen, darunter ein Colle­geblock, auf dem sie immer wieder Stichworte notiert, Begriffe umkreist und Gedanken mit Strichen verbindet.

Hochmüller klappt ihren Laptop auf, erlaubt einen Blick auf ihren digitalen Termin­kalender. Blau steht für interne Termine, Orange für Netz­werk­treffen, Grün für Blöcke, in denen sie ungestört arbeiten möchte, Rot für private Dinge. Die Balance muss stimmen: „Ich gucke immer mal wieder auf die Woche und darauf, ob die Farben gut verteilt sind“, sagt sie.

Man lernt: Einen Mittelständler modern führen, das kann man heute von überall – es braucht kein Chefbüro mit Hoch­flor­teppich und schalldichter Tür mehr.

Mit blauen Terminen geht es heute los. Aus Wien grüßt der Marantec-Marketing­leiter, zeigt Bilder von einem internen Dreh – zwei Marken innerhalb der Gruppe werden gerade zusammen­geführt. „Da würde ich auch gerne etwas für LinkedIn machen“, sagt Hochmüller. Auf der Plattform postet, likt und kommentiert sie permanent. Modernes Unternehmertum bedeutet für sie: präsent und ansprechbar sein.

Kurze Zeit später berichtet der Produktionsleiter aus dem Stammwerk in Marienfeld nordwestlich von Gütersloh, eine Nach­haltig­keits­zertifizierung steht an. Eine Handvoll solcher fixen Termine strukturieren Hochmüllers Woche, egal wo sie gerade den Laptop aufklappt. Am Stammsitz gibt es einen gemeinsamen Raum für das Führungs­team. Voll ist es dort selten: „Niemand erwartet mehr, dass ich im Büro bin“, sagt Hochmüller. Statt offener Türen gibt es ein offenes E-Mail-Postfach.

Heute wird ein Unternehmens-Blog starten, in dem Mitarbeiter über Transformations­prozesse bei Marantec berichten sollen. Darum geht es in Hochmüllers nächstem Gespräch. „Legt doch bitte noch einen anderen Filter aufs Titelfoto des Blogs“, sagt sie. Der Pressesprecher auf dem Bildschirm nickt, ihr Projektleiter für Nach­haltig­keits­themen ebenso – der sitzt mit im Co-Working-Space. Das Logo über­zeugt sie nicht völlig, aber sie winkt es durch. „Früher hätte ich das nicht ausgehalten“, sagt sie nach Ende der Video­konferenz.

Sie hat gelernt, nicht überall die letzte Entscheidung zu treffen. Auch wenn die Farben zu grell wirken oder im Unternehmens-Blog ein paar Grammatik­fehler auftauchen könnten. Hochmüller steht exemplarisch für einen neuen Mittelstand, der eher pragmatisch als perfektionistisch ist. Denn ihr Kalender ist schon so gut gefüllt.

Das Unternehmen, das Hochmüller führt, liegt eine halbe Autostunde von Bielefeld entfernt: ostwestfälischer Mittelstand, grundsolide; acht Produktions­stand­orte, acht Vertriebs­gesellschaften – und ein in Unternehmer­kreisen bekannter Gründer: Michael Hörmann, Spross der Garagen­tor-Familie Hörmann. 1989 startete er den Betrieb für Elektro­motoren, mit denen man Tore öffnet und schließt. Mittlerweile entwickelt Marantec Elektronik, Antriebe und vernetzte Geräte, um Garagen- und Industrietore zu bewegen.

Ende der 1990er-Jahre engagierte der Gründer Kerstin Hochmüller als externe Marketing­beraterin. Erst wurde sie seine Ehefrau – und 2013 Geschäfts­führerin. Zuvor hatte ein familienfremder Geschäfts­führer über­nommen, als sich Hörmann zurück­ziehen wollte. Doch der brachte den Mittel­ständler nicht so voran, wie es sich die Gesellschafter­familie wünschte.

Hochmüller will nicht verwalten, sondern verändern. Ein bisschen aus innerem Antrieb. Aber auch, weil Marantec zu einer Firmengruppe gewachsen war, in der nicht mehr jeder wusste, was der andere so tut; und so etwas führt schnell dazu, dass die Kosten aus dem Ruder laufen und kaum noch neue Ideen entstehen.

Gute Ideen will Hochmüller heute auch in der Start-up-Welt finden. Statt des Titels Hidden Champion, den viele mittel­ständische Welt­markt­führer stolz tragen, will sie ein „Open Champion“ sein. Der Mittel­stand, davon ist Hochmüller über­zeugt, müsse sich öffnen, wenn er innovativ bleiben will – gegen­über jungen Gründern und etablierten Konkurrenten. Diese Haltung sorgt mitunter für Befremden, im eigenen Betrieb und in der Branche. Schließlich stellt Hochmüller so auch das Erfolgs­rezept der letzten Generationen infrage.

Immerhin: „Das Interesse an unserem Weg wächst“, sagt Hochmüller. Je härter der Preiskampf, je brüchiger die Liefer­ketten, je schwerer die Suche nach Fachkräften, desto mehr Familien­unternehmer klopfen an; der Initiative New Mittel­stand haben sich neben Bahlsen und Frosta eine ganze Reihe von Firmen angeschlossen. „Der Druck muss schon groß sein, bevor sich manche bewegen“, sagt Hochmüller.

Die Herausforderung: der alten und der neuen Welt gerecht zu werden. Hochmüllers Co-Geschäfts­führer Andreas Schiemann reist an diesem Tag zu einem ehemaligen Konkurrenten aus der klassischen Industrie­welt, um eine Zusammen­arbeit auszuloten. Sie selbst war zuletzt oft in den USA, um dort ein neues Produkt auf den Markt zu bringen, mit dem beispiels­weise Paket­lieferanten ein Garagen­tor öffnen können. „An manchen Kooperationen habe ich zwei Jahre gearbeitet“, erzählt Hochmüller.

In der Start-up-Welt geht das alles schneller. Auf dem kurzen Weg zum Mittag­essen – quer durch die Co-Working-Küche, sieben Stockwerke runter und raus aus dem Hinterhof, rein ins koreanische Restaurant – pitcht ihr ein Organisator der New-Mittelstand-Initiative die Idee für ein gemeinsames Unternehmen. Kerstin Hochmüller hört zu, nickt, bedankt sich, ordert vegetarische Maul­taschen und Grüntee. Und gibt zu bedenken: „Das müssen wir natürlich auch erst mit den Gesellschaftern besprechen.“

Hochmüller ist beharrlich und diszipliniert. Auf dem Konferenztisch des Co-Working-Büros steht eine Schokoladenbox. Am Morgen hatte sie angekündigt, sie frühestens mittags anzurühren. Und tatsächlich: Erst nachdem sie vom Lunch wieder im temporären Büro im siebten Stock angekommen ist, greift sie zu. Eine Videoschalte in die Heimat steht an. An der Fach­hoch­schule Bielefeld soll sie morgen eine Rede per Video halten, ein nervöser Student führt sie durch die Technik. Immer häufiger wird sie für solche Veranstaltungen angefragt, der energische Einsatz für ein neues Mittel­stands­image sorgt für Aufmerksamkeit.

Wenn es wie in dieser Videoschalte mal nicht so richtig vorangeht, wenn jemand unnötig lange seine Gedanken erklärt, dann wippt Hochmüller mit den Beinen. Der Lohn: Unter den Studierenden kann sie am nächsten Tag für Marantec als Arbeitgeber werben. „Programmierer können wir immer gebrauchen“, sagt sie.

In Sachen Pragmatismus kann sich der Mittelstand normaler­weise viel bei der Start-up-Welt abschauen. Beim Bielefelder Start-up Valuedesk etwa, einer Plattform für besseres Kosten­management, war Marantec ein Pionier­kunde. Doch als die Pandemie begann und bei Valuedesk die Umsätze weg­brachen, übernahm Hochmüller kurzerhand für ein paar Monate einen Software-Entwickler des Start-ups in ihr Team – Zeitarbeit unter Freunden.

Und jetzt, am frühen Nachmittag, taucht Valuedesk-Gründer Torsten Bendlin im Zoom-Call auf dem Berliner Bildschirm auf. Ein paar Jahre jünger als Hochmüller ist er, schwarzer Pullover, weiße Airpods im Ohr, große Begeisterung: „Kerstin ist die krasseste Unternehmerin, die ich kenne“, ruft Bendlin.

Gemeinsam haben er und Hochmüller die Initiative „Unternehmer­herz“ gegründet. Die Idee: Gestandene Familien­unter­nehmer sollen sich von ihresgleichen „challengen“ lassen – welcher Kern steckt wirklich in ihrer Firma, wie würde man sie heute vielleicht anders bauen? „Es ist super, wenn Leute das ohne die Angst machen können, Aufträge zu verlieren“, sagt Bendlin. Um das Projekt größer zu machen, will Hoch­müller ihre Kontakte in den Mittelstand von Ostwest­falen nutzen, sie notiert ein paar To-dos im Collegeblock.

Jetzt wartet die finale Abend­veranstaltung, einen Straßenblock weiter in den Büros der Initiative New Mittel­stand. Nach fünf Minuten im Lauf­schritt atmet Hochmüller einmal tief durch. Sie weiß, in welchem Kühl­schrank das Bier steckt, findet auch die Tüte Chips. Nach und nach gesellen sich die Mitarbeiter der Initiative dazu, alle eine knappe Generation jünger als Hochmüller. Mit ihren Nike-Sneakern, dem blauen Pulli und der Apple-Watch fällt sie in der Gruppe nicht auf.

Um halb neun beginnt die Podiumsdiskussion via Stream. Lange Tage gehören zum Alltag, so ganz passen die zwei Welten der Kerstin Hochmüller nicht in einen Arbeits­tag. Trotzdem ist sie in der Gesprächs­runde noch hellwach. Darin wird auf die Politik geschimpft, aber Hochmüller sieht auch die Unternehmer in der Verantwortung: „Alles wird gut, wenn wir dafür sorgen, dass es gut wird“, sagt sie in die Kamera. Der Stream endet, es folgt ein spätes Mahl mit Pommes, Burgern und Wein – dank der tatkräftigen Mitarbeiterin und Hochmüllers Fahrrad. Der letzte Chili-Lemon-Burger wird natürlich in der Gruppe geteilt.