ZEIT für X
Die Geschäftsführerinnen von Deguma-Schütz Viktoria Schütz (links) und Daniela Dingfelder

Am fünften Tage sollst du ruhn

05. Dezember 2023
ZEIT Redaktion

Ein mittelständischer Maschinenbauer führt die Viertagewoche ein, um Fachkräfte anzulocken. Kann das funktionieren? Zu Besuch bei Deguma in Thüringen

von Maximilian Münster

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 4/2023“. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.

Eine Idee muss groß sein, wenn sie nun auch einen sehr kleinen Ort in der deutschen Provinz erreicht hat. Genauer: Geisa, eine Stadt mit 5000 Einwohnern im Wartburgkreis in Thüringen. Nahe der Einfahrt zum Industriegebiet wirbt ein Schild um Fachkräfte mit dem Slogan: „Du bist mehr wert“. Am Ende der Straße erhebt sich eine Werkstatthalle, an der eine rote Weltkugel prangt. Das Logo des Familienbetriebs Deguma steht für 30 Jahre Tradition. Seit Kurzem steht es auch ein bisschen für Revolution.

An einem Mittwoch im Herbst sitzt die Chefin Daniela Dingfelder am Konferenztisch. Sie spricht über die Walzen für die Kautschukindustrie, die die Monteure in der Werkstatt zusammenschrauben. Nur an Freitagen nicht. Da ruht die Produktion. Das Unternehmen hat im April die Viertagewoche eingeführt. Wenn Dingfelder und ihre Co-Chefin Viktoria Schütz davon bei den Nachbarbetrieben oder auf Tagungen erzählen, reagierten viele interessiert, sagt Dingfelder. Manche würden aber auch sagen: Das kommt mir nicht ins Haus.

Daniela Dingfelder
© Marzena Skubatz Daniela Dingfelder, 44, leitet das Unternehmen Deguma mit ...
Viktoria Schütz
© Marzena Skubatz ... Viktoria Schütz, 39, die es von ihren Eltern übernahm

So läuft die Diskussion nicht nur in Geisa. In Deutschland ist die Debatte um die Viertagewoche heiß wie ein Hochofen, spätestens seit die IG Metall sie diesen September für die Stahlindustrie gefordert hat. Gewerkschaften versprechen sich davon gesündere Mitarbeiter mit mehr Zeit fürs Privatleben. Für die Arbeitgeber ist es aber jetzt genau der falsche Zeitpunkt, darüber zu reden. Die Stahlindustrie und viele andere müssen grün werden. Dafür braucht man Fachkräfte, die es nicht gibt, und die wenigen wollen jetzt auch noch weniger arbeiten.

Oder ist das vielleicht zu kurz gedacht?

Die Viertagewoche soll nämlich dazu dienen, sich als Arbeitgeber schick zu machen. Spätestens seit Corona wollen die Beschäftigten flexible Arbeitszeiten und die Möglichkeit, zu Hause oder im Wohnmobil arbeiten zu dürfen. Eine Befragung des WSI-Instituts der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung unter 2575 Beschäftigten hat ergeben, dass sich mehr als 70 Prozent der Befragten eine Viertagwoche wünschen – bei vollem Lohn, versteht sich. Weil nun überall Fachkräfte fehlen, können Bewerber das bei der Jobsuche selbstbewusst verlangen. Eine neue Arbeitskultur ist in die Büros eingezogen, sie strahlt aber auch an die Hochöfen und Fließbänder aus.

Ein Mitarbeiter steuert die Produktion eines Walzwerks in der Fertigung von Deguma
© Salih Usta Ein Mitarbeiter steuert die Produktion eines Walzwerks in der Fertigung von Deguma

So kam es, dass sich ein 50-Mitarbeiter-Betrieb wie Deguma an der Viertagewoche versucht, um an Fachkräfte zu kommen. Kann das funktionieren?

Seit den 1970ern gibt es Studien, die die Vorteile einer kürzeren Arbeitswoche bewiesen haben wollen. Ihnen zufolge sollen Menschen damit zufriedener in ihrem Job sein, psychisch gesünder und gleichzeitig produktiver. Die Idee dahinter: Mitarbeiter fühlen sich mehr wertgeschätzt und sind motivierter. Aber lässt sich belegen, dass das auch den Arbeitgebern nutzt?

Ein großer Feldversuch in Großbritannien hat in diesem Jahr für Schlagzeilen gesorgt: 61 Firmen mit insgesamt 2900 Mitarbeitern arbeiteten testweise einen Tag weniger oder reduzierten ihre Arbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche. Sie gaben an, psychisch stabiler zu sein, besser zu schlafen und ein gesünderes Privatleben zu führen. Das machte sie im Betrieb leistungsfähiger. Der Umsatz der Unternehmen blieb gleich oder stieg sogar. Experimente mit ähnlichem Ergebnis gab es auch in Island.

Am Ende sollte die Wirtschaft dem Menschen dienen und nicht andersherum

Viktoria Schütz, Unternehmerin

Das Problem: Aus Branchen wie dem Maschinenbau oder dem Handwerk haben nur wenige Firmen mitgemacht. „Die Studien, über die alle sprechen, sind nur schwer zu verallgemeinern“, sagt Norbert Bach. Der Betriebswirtschaftler leitet das Fachgebiet Unternehmensführung/Organisation an der TU Ilmenau. Mit einem Team begleitet er den Versuch von Deguma und zwei anderen Unternehmen. Er will herausfinden, ob sich neue Formen der Arbeit in strukturschwachen Regionen auszahlen und im besten Fall Mitarbeiter anlocken.

Denn es ist ja so: Thüringen ist nicht das Silicon Valley. Deguma baut Walzwerke und rüstet gebrauchte Maschinen mit neuen Bedienelementen oder Sicherheitsvorrichtungen aus. Die Maschinen kommen etwa bei der Produktion von Autoreifen zum Einsatz. Die Walzwerke mischen dann Kautschuk mit Stoffen wie Ruß zu einem Gummierzeugnis, aus dem später die Reifen geformt werden. In der Werkstatthalle in Geisa reihen sich solche Walzwerke aneinander, manche sind groß wie ein Kleinlaster. Hier wird geschraubt, gefräst, verkabelt. Deguma ist kein Betrieb, in dem New Work üblich ist.

Und doch beschloss die Geschäftsführung, es mit der Viertagewoche zu versuchen, zunächst ein halbes Jahr lang. Einen Tag weniger arbeiten bei gleichbleibendem Gehalt. Im Dezember 2022 traf sich die Belegschaft im Kulturhaus in Geisa, der Plan wurde verkündet. Mittendrin saß Daniela Vögler, 44. Seit 26 Jahren arbeitet sie für Deguma im Vertrieb. „Im ersten Moment habe ich mich gefreut – und mich dann gefragt: Wie soll das gehen?“

Jetzt, zehn Monate später, tippt sie eilig auf ihrem Laptop. „An den Tagen, an denen ich da bin, arbeite ich mehr“, sagt sie. Die Arbeitstage sind dichter, weil das Unternehmen produktiver werden muss. An vier Tagen muss das weggearbeitet werden, was die Mitarbeiter früher an fünf geschafft haben. Deguma hat Workshops organisiert, um die Zusammenarbeit neu zu strukturieren. Auch Vögler selbst feilte an ihrer Arbeitsstruktur. Sie geht nun große Aufgaben direkt an und liest ihre Mails erst später. Ein kleiner Kniff. Sie verbringt weniger Zeit in Meetings. Die sollten nicht länger dauern als 60 Minuten pro Woche. In der Produktion fräsen die Mitarbeiter auch mal Teile selbst, wenn die Bestellung zu lange dauert. Noch bauen sie Schaltschränke, mit denen die Walzwerke verkabelt sind. Diesen Arbeitsschritt will Deguma auslagern.

Der Betrieb experimentiert, stößt an Grenzen, wirft Konzepte über den Haufen, sucht Alternativen. Im Service etwa lässt sich die Viertagewoche nicht konsequent durchsetzen. Wer rausfährt zum Kunden und Donnerstag an dessen Maschine nicht fertig wird, macht Freitag nicht frei. Oder: Anfangs besetzte der Betrieb die Produktion durchgehend. Folge: Manche Arbeiter fehlten montags, andere freitags. Das erschwerte die Absprachen. Deshalb nehmen in der Werkstatt jetzt alle den Freitag frei. Die Büros sind jeden Tag besetzt, damit der Betrieb immer erreichbar ist.

Früher sei der Samstag sehr gedrängt gewesen, sagt Daniela Vögler: „einkaufen, putzen, die Kinder“. Der freie Tag entzerre das Wochenende. Ein Azubi erzählt, er habe jetzt mehr Zeit für die freiwillige Feuerwehr. Ein anderer Kollege denkt nun darüber nach, nebenbei zu studieren.

Vögler sagt, die größte Schwierigkeit sei die Kommunikation. Zum Beispiel könnte sie freitags bei einem Kunden sitzen, der nicht weiß, ob er eine Wasserkühlung an der Walze braucht. Vögler will beim Kollegen in Geisa nachfragen. Der hat aber seinen freien Tag. Montags ist sie wiederum zu Hause. Die Rückmeldung liest sie dann erst am Dienstag. Um unnötige Schleifen zu vermeiden, formuliert Vögler Mails jetzt so klar wie möglich. Der Kollege soll nicht nachfragen müssen. Das bewirkt, dass die Mitarbeiter ungestörter arbeiten, unnötige Kommunikation fällt weg, dafür auch manches Gespräch am Kaffeeautomaten.

Die Chefin Daniela Dingfelder sagt, es sei nicht leicht, einem Maschinenbauer diese Arbeitskultur einzuhauchen: „Am Anfang konnte ich mir nicht vorstellen, dass es funktioniert.“ In Deutschland hätten viele Menschen gelernt, hierarchisch geführt zu werden. „Dann auf einmal die Freiheit zu geben, selbst Entscheidungen zu treffen, kann im ersten Moment überfordernd sein.“

Bis vor ein paar Jahren war Deguma ein klassischer Maschinenbauer. Angefangen hat alles 1990. Das Unternehmerpaar Winfried und Barbara Schütz kaufte in einer alten Limonadenfabrik gebrauchte Maschinen, reparierte und überholte sie. Dann verkaufte das Paar sie in die ganze Welt. Das Geschäft mit den Gebrauchtmaschinen läuft heute noch. Seit 2018 baut Deguma auch eigene Walzwerke. Damals übernahm die Tochter Viktoria den Betrieb.

Man erreicht Viktoria Schütz per Videotelefonat in Berlin. Sie leitet den Betrieb von einer Art Co-Working-Büro für Familienunternehmer, alle zwei Wochen pendelt sie nach Geisa. Vor ihrer Zeit bei Deguma hatte sie sich einer Gemeinschaft digitaler Nomaden angeschlossen. Sie saß auf Konferenzen in Estland und Thailand und dachte darüber nach, wie der Mensch künftig arbeiten sollte. Viktoria Schütz sagt: „Am Ende sollte die Wirtschaft dem Menschen dienen und nicht andersherum.“ Als es darum ging, ob sie den Betrieb ihrer Eltern übernimmt, habe sie gesagt: „Okay, ich mach es – aber unter meinen Bedingungen.“

Seitdem ist doch ein bisschen Silicon Valley in Geisa eingekehrt. 2019 stieg Dingfelder als Co-Chefin mit ein. Zwei Frauen an der Spitze eines Maschinenbaubetriebs, Mitbestimmung, Duzen, Teilzeitmodelle für alle. Das spricht sich in der Region herum, was im Rennen um Fachkräfte unbezahlbar ist. Vielleicht ist nun die Viertagewoche eine Art „next big thing“.

Aber eben nicht für alle. Norbert Bach von der TU Ilmenau erzählt, dass er neulich eine Werkstatt besucht habe. Der Betrieb hatte die Viertagewoche eingeführt, dafür mussten die Mitarbeiter aber zehn Stunden am Tag arbeiten. „Die haben gesagt: Da tut mir der Rücken so weh, da bringt mir der freie Freitag auch nichts“, sagt Bach. Bislang kann sein Team nur vorläufige Ergebnisse vorweisen. Die Firmen melden zwar weniger Krankheitstage. Doch ob das mit der Viertagewoche zutun hat oder eine saisonale Schwankung ist, lasse sich noch nicht beurteilen. Die Betriebe beobachten auch weniger Störungen bei der Arbeit und mehr Flexibilität. Aber: Mehr Bewerbungen hätten die Betriebe in Thüringen nicht bekommen.

„Ich bin skeptisch, ob es betriebswirtschaftlich umsetzbar ist, die Arbeitszeit zu verkürzen“, sagt Bach. Ein kleiner Betrieb wie Deguma könne die Produktivität hochschrauben. Anders sei das bei einer voll automatisierten Produktion mit hohen Stückzahlen, wo die Effizienz sowieso schon am Anschlag ist. Würden Betriebe die Arbeitszeiten verkürzen, müssten sie neue Mitarbeiter einstellen, um die Maschinen durchgehend betreiben zu können. Die gibt es nicht. Oder aber sie stoppen die Maschinen einen Tag lang, was bei Betrieben mit hohem Wettbewerbsdruck kaum möglich ist. Das sei nur denkbar, wenn ganze Branchen auf eine Viertagewoche umstellen würden, sagt Bach.

Es ist nicht so, dass es so etwas noch nie gegeben hätte. Nach dem Krieg arbeiteten Beschäftigte im Schnitt 48 Stunden, sechs Tage die Woche. 1965 blühte die Wirtschaft, und die Zeit war reif für die Fünftagewoche. 1994 führte VW sogar die Viertagewoche ein – als Sparmaßnahme. Die Mitarbeiter bekamen zehn Prozent weniger Gehalt bei zwanzig Prozent weniger Arbeit. 2006 schaffte VW das Modell wieder ab.

Belgien verankerte die Viertagewoche Ende 2022 gesetzlich. Mitarbeiter können wählen, ob sie ihre wöchentliche Arbeitszeit auf vier oder fünf Tage aufteilen. Alternativ können sie Stunden reduzieren, dann gibt es aber auch weniger Gehalt. Spanien testet in einem staatlich finanzierten Versuch die Einführung der Viertagewoche bei vollem Lohn. Und 2024 soll auch in Deutschland der bisher größte Modellversuch stattfinden. Mehr als 50 Firmen aus verschiedenen Branchen machen mit, sechs Monate lang.

2900

Mitarbeiter in 61 Firmen nahmen an einem Feldversuch in England teil: Sie arbeiteten weniger – und waren leistungsfähiger

Und vielleicht verhilft auch der Fortschritt dem Modell zum Durchbruch. Bald könnte es Roboter geben, die Wände streichen, und künstliche Intelligenz, die Texte wie diesen schreibt. Vielleicht fallen dann Stellen weg. Doch bis es so weit ist, braucht die Wirtschaft Arbeitskräfte, um die Transformation zu stemmen. Und die Viertagewoche bleibt wohl den Betrieben vorbehalten, die sie sich auch leisten können.

Deguma hat den Versuch verlängert, vorerst bis Frühjahr 2024. Vieles lasse sich noch nicht beurteilen, sagt Dingfelder. Die Bewerberzahlen seien weniger stark gestiegen als erhofft, aber die geringere Anzahl an Krankheitstagen helfe gegen den Personalengpass. Sie hat ausgerechnet, dass ihre Arbeiter nur noch 800 Arbeitsstunden brauchen, um eine Maschine zu fertigen, früher waren es 2000. „Die Frage ist: Liegt es daran, dass sie motivierter drangehen? Oder dass sie mittlerweile mehr Erfahrung haben?“

Deguma baut schließlich noch nicht lange eigene Maschinen. Schütz und Dingfelder haben einiges umgekrempelt. Jetzt auch noch die Viertagewoche. Das ist ganz schön viel Revolution für einen kleinen Betrieb. Am Ende sei es ja so, sagt Dingfelder: „Ich kann ständig darüber nachdenken, was ich in fünf oder zehn Jahren machen will. Oder ich kann es einfach tun.“