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Aufschrift Made in Germany auf einem Produkt

Springen lernen

05. Februar 2024
ZEIT Redaktion

Mit der Innova­tions­agentur Sprin-D soll Rafael Laguna de la Vera dafür sorgen, dass die Zukunft wieder made in Germany wird. Kann das klappen?

von Daniel Erk

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2023. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“

Das Kanzleramt riecht nach Bratwurst. Auf der Westloggia des Dienstsitzes von Olaf Scholz, mit Blick über Spree und Tiergarten, grillen tätowierte Catering­leute trotz heftigster Regengüsse Würste und Fleisch; drinnen, im achten Stock, sitzen „150 Gründer­innen und Gründer, Enabler und Investoren“, wie es später in der Presse­mitteilung heißt, auf den Stufen vor den Räumen des Bundeskanzlers.

In dieser „Skylobby“ findet an diesem grauen Sommertag das „1. Start-up-Forum Ostdeutschland“ statt, unter den Rednern: Carsten Schneider, der Ostbeauf­tragte der Bundes­regierung, der zu der Veranstaltung eingeladen hat. Die SPD-Bundestags­abge­ordnete Verena Hubertz, die früher mal ein Start-up für Kochrezepte leitete. Und Rafael Laguna de la Vera, der Mann, auf dem nicht nur im von Bratwurst­duft erfüllten Kanzleramt sehr, sehr große Hoffnungen ruhen.

Laguna, so nennen ihn alle, hat mit 16 sein erstes Software­unter­nehmen gegründet, ist seit über 20 Jahren Investor und vor allem durch seine Erfolge im Bereich Open Source und Linux bekannt. Seit 2019 ist er Gründungs­direktor einer Bundes­agentur namens Sprin-D – der Name ist eine wort­spieler­ische Komposition aus den Begriffen Sprung, Innovation und Deutschland. Seine Aufgabe: dafür sorgen, dass die Zukunft wieder made in Germany wird. Zum Start, erzählt Laguna, habe ihm die damalige Bundes­kanzlerin Angela Merkel mitgegeben: Herr Laguna, hauen Sie nicht in den Sack! Was wohl so viel heißen sollte wie: Scheitern ist keine Option.

Laguna trägt an diesem Tag, wie sehr oft, ausschließlich Schwarz: schwarze Sneaker, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, ein schwarzes Jackett und ein schwarzes, kantiges Brillen­gestell, dazu einen grau melierten Dreitage­bart, der den fast 60-Jährigen jünger wirken lässt, als er ist.

Auch an diesem Tag stellt sich Laguna mit seiner Lieblings­pointe vor: „Mein Name ist Rafael Laguna de la Vera“, sagt er. „Und wie Sie an meinem Namen sofort merken, bin ich gebürtiger Leipziger.“ Das ist natürlich ein etwas plumper Witz – und doch ist es Laguna ernst damit. Er will, dass die Menschen aus Wirt­schaft und Politik hinhören, dass sie, und sei es für einen kleinen Gag, ihre Klischees hinterfragen. Und er will gute Laune verbreiten. Ohne gute Laune, da ist er sich sicher, wird das nämlich nichts mit den Sprung­inno­vationen.

Laguna ist in Leipzig geboren und hat bis zu seinem zehnten Lebensjahr in der DDR gelebt, 1974 durfte die Familie aufgrund seines spanischen Vaters in den Westen ausreisen. Er wuchs im Sauerland auf, studierte Informatik in Dortmund und absolvierte 1998 einen Business-Master an der renommierten US-amerika­nischen Harvard Business School. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon drei Soft­ware­firmen gegründet und seine Anteile bereits wieder verkauft.

Es ist eine volle Woche für Laguna: Neben dem Start-up-Forum Ostdeutsch­land ist er am Montag zu Gast bei einem Parlamen­tarischen Abend des CDU-Wirt­schafts­rats, ist am Dienstag beim „Creative Destruction Lab“ einer Wirtschafts­hoch­schule und bei einer Veran­staltung namens „Sovereign Cloud Stack Summit“, wo er vorträgt, warum digitale Souverä­nität für Innovation, Frieden und Demo­kratie so wichtig sei. Und am Mittwoch erörtert er beim „Tag der inno­vativen Gesund­heits­industrie“ mit der Bundes­ministerin für Bildung und Forschung, Bettina Stark-Watzinger, wo eigentlich Inno­vationen herkommen. Und was Sprung­inno­vationen überhaupt sind.

Dass die Innovationen nämlich „springen“ sollen, hat zwei Gründe. Der offizielle: weil es immer wieder Inno­vationen gibt, die nicht bloß durch das Optimieren von Prozessen, günstigeres Produzieren und ständiges Verbessern irgendwelcher Techno­logien entstehen. Sondern die echte Sprünge markieren und das Leben grundsätzlich verändern: Impfungen, das Auto, Mikrochips, das Internet. In dem Buch Sprung­inno­vation – Wie wir mit Wissen­schaft und Technik die Welt wieder in Balance bekommen, das Laguna mit dem Wissen­schafts­journalisten Thomas Ramge verfasst hat, heißt es etwas pompös: „›Innovare‹ heißt ›erneuern‹. Es heißt nicht ›ein bisschen besser machen‹.“

In Deutschland klafft eine Lücke zwischen Forschung und Wirtschaft, in der viele gute Ideen versinken

Der andere, inoffizielle Grund: weil in Deutschland eine Lücke klafft. Und zwar zwischen der Grund­lagen­forschung deutscher Universitäten und dem Research & Development der Unternehmen, die die Erkenntnisse erst übernehmen, wenn sie einen Markt und eine Refinan­zierung erkennen. In dieser Lücke, das ist die Vermutung, versinken zu viele gute Ideen. Und kommen deswegen nicht in der Wirtschaft an.

Das spiegelt sich sehr eindrücklich in Zahlen: Nach Berechnungen der KfW ist die Quote der Innovatoren im Mittel­stand zuletzt auf 40 Prozent gesunken. Trotz des Hypes um künstliche Intelligenz, trotz der Bestrebungen, nachhaltiger zu wirtschaften. Und laut einer Studie von IW Consult für die Bertelsmann Stiftung vom Mai ist der Anteil der „besonders innovativen“ Unternehmen in Deutschland in den vergangenen drei Jahren von 25 auf 19 Prozent zurückgegangen. Was auch daran liegt, dass die Firmen ihre Zusammen­arbeit mit Hoch­schulen und Forschungs­instituten nicht etwa intensiviert haben, sondern sogar schleifen lassen, wie die repräsentative Befragung unter 1000 Unter­nehmern zeigt. Die Frage, die Laguna beantworten soll, lautet also: Wie kommen Innovationen über diesen Graben zwischen Wissen­schaft und Wirt­schaft, zwischen Forschung und Finanzierung?

Nach seinem Vortrag steht er auf den Stufen zwischen ostdeutschen Erfindern einer neuartigen Beinprothese, die so konstruiert ist, dass sie in Entwick­lungs­ländern bezahlbar wäre. Und rechts neben ihm steht jemand mit einer Umlaufmappe einer Bundes­behörde. Damit wäre Lagunas Aufgabe schon ganz gut beschrieben: Er ist Mittler zwischen der großen, oft büro­kra­tischen Politik – und dem deutschen Erfindergeist.

Für all das gibt es, was die Lage für Laguna nicht einfacher macht, ein großes – manche sagen: ein zu großes – Vorbild: die 1958 von US-Präsident Eisenhower gegründete Defense Advanced Research Projects Agency der USA, kurz Darpa. Sie ist so etwas wie der Brutkasten all jener Dinge, die die US-Wirtschaft, speziell Firmen aus dem Silicon Valley, in den letzten 50 Jahren so erfolgreich gemacht haben. Die Bilanz ist, man kann es eigentlich nicht anders formulieren: irre. Die Darpa hat in den Fünfziger­jahren die Erfindung von Spionage­satelliten gefördert, aus denen später GPS hervorging. In den Sechzigern entwickelte sie erste Vorläufer des Internets. In den Achtzigern investierte die Agentur Gelder in die Entwicklung von Sprach­erkennungs­software. 2004 veranstaltete sie Autorennen von fahrerlosen Fahrzeugen, der Grundstein des autonomen Fahrens. Und 2013 investierte die Darpa 25 Millionen Dollar in eine kleine, unbekannte Firma, die glaubhaft machen konnte, dass ihre Idee – wenn sie denn funktionierte – das Impfen für immer verändern würde. Der Name der Firma: Moderna. Die Idee: mRNA-Impfstoffe.

„Wenn dann Leute die Geschichte erzählen: Silicon Valley, freier Markt – so ein Quatsch. Mehr geht nicht an Subven­tions­politik“, sagt Laguna. „Die ganzen Unter­nehmen im Silicon Valley haben jede Menge Geld für Research und Funding bekommen und hatten dank des Militärs die Auftrags­bücher voll.“

Die Antwort auf die Frage, wie die Forschung springen lernen soll, könnte also lauten: mit Steuergeld. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Viel wichtiger ist: ohne politische Einmischung. Und das ist Lagunas vielleicht größte Aufgabe: den großen Drachen der deutschen Bürokratie zu erlegen – oder wenigstens zu zähmen. Dass das nicht leicht werden würde, sei von Anfang klar gewesen: „Wenn du der Bürokratie sagst: ›Du musst dich entbürokratisieren‹, ist das, als würdest du den Fröschen sagen, sie sollen den Teich austrocknen“, sagt er und lacht.

Schon bei der Art und Weise, wie die Agentur rechtlich etabliert wurde, erzählt Laguna, sei die Regierung Merkel nicht den Vorschlägen der Gründungs­kommission gefolgt. Mit der Konsequenz, dass Sprin-D quasi jeden Bleistift und jeden Klammer­apparat nach den Regeln des Bundes­rechnungs­hofes abrechnen musste. Selbst Bundes­kanzlerin Merkel erklärte, das Set-up sei „sehr deutsch“ und die zu erwartenden Ergebnisse seien „nicht so dramatisch“. Da half das vergleichs­weise ordentliche Anfangsbudget von zehn Milliarden Euro für zehn Jahre wenig. „Daher“, merkte Merkel zwei Jahre nach der Gründung etwas spitz an, „ist der Sprung noch relativ klein.“

Es gibt nicht nur bürokratische Probleme, sondern auch inhalt­liche Kritik: Als Sprin-D mehr als 19 Millionen Euro in die Datenbank-Software CortexDB investierte, recherchierte die Hackerin Lilith Wittmann, die unter anderem durch die Aufdeckung von Daten­lücken bei der CDU bekannt geworden war, dass die Firma während ihrer zehnjährigen Existenz weder Gewinne erwirt­schaftet noch einen erkenn­baren technologischen Vorteil gegenüber anderen, vergleichbaren Systemen erreicht habe. „Der Staat gibt also mal wieder eine größere Summe für eine totale Quatsch­tech­nologie aus“, schrieb Wittman damals auf Twitter. „So was passiert, wenn der Staat VC spielt“, also als Wagnis­kapital­geber auftrete.

34Mrd. Euro

haben Deutschlands Mittelständler 2021 in die Entwicklung von Innovationen investiert

Doch es tut sich was. Sprin-D hat in den letzten drei Jahren über 1200 Projekt­vorschläge begutachtet und mehr als 60 davon positiv bewertet. 13 Tochterfirmen hat die Agentur gegründet und hält derzeit fünf große Forschungs­wett­be­werbe, sogenannte Challenges, ab, bei denen ursprünglich 33 Teams im Wettstreit Frage­stellungen bearbeiteten; 24 davon sind noch im Rennen.

Einen kleinen „Chip-Manufacturing-Boom“, sagt Laguna, hat seine Agentur ausgelöst, mittlerweile glauben die globalen Chip­her­steller wieder an den Standort Deutschland, wenigstens ein bisschen: Der taiwanische Halbleiter­hersteller TSMC errichtet mit Bosch und Infineon ein neues Werk in Dresden und investiert nach Angaben der Bundes­regierung mindestens zehn Milliarden Euro. Der Chip­hersteller Intel investiert gut 17 Milliarden Euro in eine neue Fabrik in Magdeburg, die mindestens 10.000 Arbeits­plätze schaffen soll. Zudem wurde das Budget der Agentur aufgestockt, auf 160 Millionen Euro pro Jahr, für 2024 hat die Bundes­regierung sogar 240 Millionen Euro vorgesehen. Verglichen mit dem Budget der Darpa und gemessen an der Einwohner­zahl Deutschlands stehe man so schlecht nicht da: „Wir verdoppeln unser Engagement jedes Jahr. Das Tempo könnten wir sicherlich noch drei, vier Jahre halten.“

Den größten Erfolg konnte Laguna vor wenigen Wochen verzeichnen: das Sprin-D-Freiheits­gesetz, das Ende Juli vom Kabinett beschlossen wurde und noch dieses Jahr vom Bundes­tag verabschiedet werden soll. Etwas bürokratisch heißt es im Kabinetts­entwurf, das Gesetz solle „Entschei­dungs­kompe­tenzen bündeln“, „überjährige Haus­halts­füh­rung“ ermöglichen, um „auf Änderungen bei hoch­risiko­reichen Projekten unmittelbar reagieren“ zu können. Es sehe „eine Einschränkung des Besser­stellungs­verbotes“ vor, was heißt, dass Laguna seine Mitarbeiter besser bezahlen darf als sonst üblich im öffentlichen Dienst. Bei aller Zurück­haltung: Damit hat Laguna den Drachen Bürokratie relativ weitgehend an die Kette bekommen. Und, da ist er optimistisch, das soll erst der Anfang sein. „Wenn erst einmal die ersten Leucht­turm­projekte da sind und zeigen, was man kann, wird das Grund­prinzip der Agentur besser zu verstehen sein“, sagt Laguna. „Und dann wird es auch politisch einfacher, die notwendigen Mittel für die großen Innovationen zu bekommen.“

Denn die braucht Laguna – und die braucht Deutschland. Mit ihrem Aufhol­versuch ist Sprin-D nicht allein. „Eine wachsende Zahl von Regierungen hofft, Amerikas Darpa zu kopieren“, stellte der Economist 2021 fest. Japan arbeitet an einer Innovations­agentur namens Moonshot Research & Development Programme (Budget: eine Milliarde Dollar für die ersten fünf Jahre), Großbritannien hat die Advanced Research and Invention Agency gegründet, und vergangenen Dezember hat der US-Kongress auf Initiative von Präsident Biden der Einrichtung einer neuen, Arpa-H genannten Agentur zugestimmt, die sich um Gesund­heits­fragen kümmern und, nach Möglichkeit, den Krebs für immer besiegen soll.

Auch die Projekte, die Sprin-D fördert, klingen – zumindest für Unbedarfte – nach leuchtendem Futurismus, nach Science-Fiction und den Wimmel­bildern voller Schnellzüge, Hochhäuser und Flugkapseln aus der Buchreihe „Das neue Universum“.

Da wären die SpiNNaker2-Chips: „Multi­prozessor­systeme für die ereignis­basierte Echt­zeit­verarbeitung“, letztlich Chips, die das menschliche Gehirn nachahmen. Oder die Smart Materials von SolyPlus, steuerbare Materialien mit mechanischen, chemischen oder pharma­kologischen Eigen­schaften, deren Weiter­ent­wicklung finanziert wird. Oder die „passgenauen Viren­fallen“ der Sprin-D-Tochter Capsitec, die mittels „DNA-Origami“ zu Wirks­toffen gegen Influenza und Sars-CoV-2 weiterentwickelt werden sollen.

Weil all das furchtbar komplex ist, erzählt Laguna bei Veran­staltungen gerne zwei andere Geschichten: die des Dateiformats MP3, das die Fraunhofer-Gesellschaft in den Achtziger­jahren entwickelte, aber das erst durch den iPod von Apple zum Verkaufs­schlager wurde. Und die des 92-jährigen Ingenieurs Horst Bendix, der Laguna bei der Eröffnung von Sprin-D eine Kladde mit technischen Zeichnungen überreichte – für ein Windrad, das dreimal so viel Energie liefern soll wie herkömmliche Windräder und dessen Konzept Sprin-D weiterverfolgt. Diese Beispiele verstehen alle: Wirt­schafts­vertreter, Journalisten, Politiker.

In einem Interview mit Capital hat Laguna, für ihn eher untypisch, sich hinreißen lassen, zu sagen: „Wir müssen innovieren, dass es nur so knallt.“ Reicht dafür das Geld? Reichen die Frei­heiten? Reicht die Unterstützung aus Politik, Gesell­schaft und Wirt­schaft? Und ist allen klar, dass es nicht darum geht, ob Innovationen kommen – sondern darum, ob noch irgendetwas Bahn­brechendes in Deutschland erfunden wird?

Das ist nicht so klar, wie es sein sollte. Beim Parlamen­tarischen Abend der Landes­verbände Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen des CDU-Wirt­schafts­rats wird, kurz bevor Laguna spricht, Günther Oettinger etwas ungelenk mit „the floors is your“ auf die Bühne gebeten, sofort setzt er zu einer dahin­geschwäbelten Schimpf­tirade auf die Regierung und die Viertage­woche an. Haben wir noch nie so gemacht, wo kämen wir da hin. „Markt­wirtschaft, Eigentum und Leistung sind unsere Werte“, donnert der frühere EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesell­schaft. Später verkündet ein sächsischer CDU-Staatssekretär: „Der Staat ist niemals der bessere Unternehmer.“

Für Laguna ist das ein kniffeliger Moment. Einerseits könnte er viel dazu sagen, zu Inno­vations­bereit­schaft, zu der Welt von gestern und der Welt von morgen und zu ideologischen Scheu­klappen. Andererseits ist genau das nicht seine Aufgabe: Kontroversen austragen, Widerstände brechen, Politik machen. Stattdessen stellt sich Laguna de la Vera als der Mann aus Leipzig vor und erzählt von Horst Bendix und dem 300-Meter-Windrad. Er weiß vermutlich: Seine Energie ist anderswo besser eingesetzt. Er muss die Politik nicht bekehren. Dafür zu sorgen, dass sie sich raushält, reicht vollkommen aus.