Taxonowiebitte?
ZEIT RedaktionDie EU will die Wirtschaft umbauen, damit sie klimaneutral wird. Also hat sie ein System entwickelt, um nachhaltige Aktivitäten zu klassifizieren. Für manche klingt die Idee fortschrittlich, für andere abschreckend. Entkommen kann man ihr nicht
Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 3/2023“. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.
Exakt 33 Arbeitstage hat der Unternehmer Christian Jöst im vergangenen Jahr gemeinsam mit seinen Assistentinnen damit verbracht, Fragebogen um Fragebogen auszufüllen. 33 Tage, in denen er sich nicht ums eigentliche Geschäft kümmern konnte. Verwendet sein Unternehmen Asbest? Gibt es einen Disziplinarmaßnahmenkatalog für Mitarbeiter? Wie hoch sind die CO2-Emissionen – und geht von den Produkten eine radioaktive Strahlung aus?
Strahlung, Asbest, Disziplinarmaßnahmen? Für Jöst, 49 Jahre alt, schwarze Haare, Dreitagebart und ausgerüstet mit einer dicken, schwarzen Brille, sind das Fragen, die – sagen wir mal – jetzt nicht unbedingt seinen Geschäftsalltag bestimmen. Er ist Chef von Jöst Abrasives, einem Familienunternehmen mit Sitz in Wald-Michelbach in Südhessen, und sitzt außerdem im Sustainable-Finance-Beirat der Bundesregierung. Seine Firma produziert Schleifmittel und -geräte und exportiert sie in 30 Länder. „Big Boy“ heißt eines der Produkte, mit dem sich große Arbeitsplatten, Türblätter oder kleine Räume schleifen lassen. Gut elf Millionen Euro setzte die Firma damit zuletzt um. Radioaktiv strahlt bei solch einem Unternehmen eigentlich gar nichts. Einen Disziplinarmaßnahmenkatalog hat Jöst auch nicht. „Was soll ich da reinschreiben“, fragt er, „fünf Stockschläge bei einem Fehler?“
Wozu also dann all der Aufwand?
Früher war die Welt einfacher. Ein Unternehmen wünschte sich ein Produkt, ein Mittelständler wie Jöst lieferte Maschinen oder Teile zu, und der Firmenkunde wickelte das Geschäft mit seinem Endkunden ab. Heute kann das deutlich komplizierter werden. Inzwischen wollen große Firmen häufig genau wissen, wie Zulieferer es mit dem Klimaschutz und weiteren Faktoren halten. Wie viel CO2 emittiert die Firma? Wird Ökostrom genutzt? Und wie energieeffizient sind die Maschinen? Auch geht es um soziale Aspekte, etwa: Lässt sich Kinderarbeit in der kompletten Lieferkette ausschließen? All diese Fragen, die Jöst nun immer wieder gestellt bekommt, dienen einem Zweck: herauszufinden, wie nachhaltig sein Unternehmen aufgestellt ist, in Umweltfragen wie auch in sozialen. Beantwortet er sie nicht, bekommt er auch keinen Auftrag.
Die Fragen resultieren aus neuen Auflagen für große Unternehmen. In Deutschland etwa ist es das Lieferkettengesetz, über dessen Regeln viele Firmen klagen. Weit anspruchsvoller aber sind einige Verordnungen der Europäischen Union, und auch die gelten hierzulande. Die EU will bis 2050 klimaneutral sein. Deshalb muss sich die Wirtschaft wandeln. Also hat die EU-Kommission den „Green Deal“ beschlossen. Er besteht unter anderem aus einer ganzen Reihe von Rechtsakten. Die bekannteste Verordnung ist sicherlich die im Juli 2020 in Kraft getretene EU-Taxonomie, ein Regelwerk, das definiert, welche Wirtschaftstätigkeiten als nachhaltig gelten.
Die EU-Taxonomie ist damit entscheidend für den Finanzsektor. Denn auch der muss berichten, wie seine Investitionen auf die Nachhaltigkeit einzahlen. Wenn Banken wissen, wie grün ein Unternehmen ist, können sie es gezielt mit Krediten fördern. Im Idealfall erleichtert die EU-Taxonomie also Unternehmen den Zugang zu Geld. Man kann es aber auch umgekehrt sehen: Geldhäuser können Kredite verweigern oder höhere Zinsen verlangen, wenn sie eine Firma für nicht nachhaltig genug halten. Es hängt also viel ab von der Frage, was im Sinne der Taxonomie nachhaltig ist.
Oft ist die Einstufung komplex. Denn bewertet werden nicht Firmen als Ganzes, sondern ihre einzelnen Aktivitäten. Der Bau von Windrädern gilt etwa als nachhaltig, die Produktion von Verbrenner-Autos nicht. Positiv auf die Bilanz kann sich aber auswirken, wenn man sich eine Fotovoltaik-Anlage auf das Dach der Kantine setzt: Unternehmen müssen also ihre gesamten Prozesse und Investitionen analysieren – vom Diensthandy für die neue Mitarbeiterin bis zum Kraftstoffverbrauch des Lieferanten.
Das bedeutet: Es gibt zahlreiche individuelle Details; die Taxonomie ist trotz ihres Umfangs von über 500 Seiten und diversen Anhängen noch nicht vollständig. Für eine Reihe von Maschinen gibt die Taxonomie etwa keine CO2-Grenzwerte vor, ab wann diese als nachhaltig gelten. Maschinenbauer müssen daher darlegen, dass ihre Maschine die effizienteste am Markt ist, um sie als nachhaltig einzustufen. Was aber, wenn es gar kein Konkurrenzprodukt gibt, womit sie sich vergleichen lässt? Eine praktikable Antwort auf diese Frage gibt es noch nicht.
Bisher galt die EU-Taxonomie nur für große, an der Börse gelistete Unternehmen mit über 500 Mitarbeitern und für die Finanzbranche. Doch das ändert sich nun. Und das liegt am Zusammenspiel der Taxonomie mit der CSRD, einer Regelung zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (englisch: Corporate Sustainability Reporting Directive). Noch so ein Begriff, der abschreckt, dem man aber nicht mehr entkommt.
Die CSRD wird ab dem kommenden Jahr schrittweise eingeführt und legt die Schwellen fest, ab denen Unternehmen Nachhaltigkeitsdaten ermitteln und darüber berichten müssen – auch im Sinne der EU-Taxonomie. Von der CSRD und somit auch der Taxonomie werden Unternehmen betroffen sein, wenn sie zwei der drei folgenden Kriterien erfüllen: Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro, Nettoumsatzerlöse von über 40 Millionen Euro oder mehr als 250 Beschäftigte.
In Deutschland trifft das direkt auf gut 15.000 Unternehmen zu. Doch indirekt sind noch viel mehr Firmen betroffen, wie Industrie- und Handelskammern sowie Unternehmensberatungen seit Längerem warnen. Denn wenn ein großer Konzern zum Beispiel ermitteln muss, wie viele CO2-Emissionen er durch seine Produkte verursacht, dann muss er dazu auch seine Lieferanten befragen. Der Unternehmer Jöst wird also, obwohl er gar nicht selbst in der Pflicht ist, zukünftig wohl noch mehr Zeit mit Fragebögen verbringen müssen. Zwar muss er aktuell noch keinen ausführlichen Nachhaltigkeitsbericht schreiben – seine CO2-Bilanz sollte er aber kennen.
„Diese umfasst Emissionen, die Kunden selbst direkt verursachen und die durch die Energieträger entstehen, auf die sie setzen“, erläutert Carola Menzel-Hausherr von der Frankfurt School. Als Scope-1- und Scope-2-Emissionen wird das in der entsprechenden Systematik bezeichnet. Wer also im Betrieb auf Elektromobilität setzt und Ökostrom bezieht, dürfte eine etwas bessere Bilanz vorlegen können. „Die Emissionen umfassen jedoch auch Scope 3 – also alle Klimagase, die entlang der ganzen Wertschöpfungskette ausgestoßen werden“, gibt Menzel-Hausherr zu bedenken. Und die zu ermitteln ist, vorsichtig formuliert, komplex.
Menzel empfiehlt Unternehmen, ein Umweltmanagementsystem einzuführen. Dann seien sie in der Lage, Kunden und Banken die benötigten Informationen zu liefern. Anbieter, die Firmen beim Ermitteln ihrer Emissionen unterstützen, finden sich viele. Auch gibt es kleinere Tools für einen ersten Schnellcheck – diese liefern zwar keine belastbaren Ergebnisse, zeigen aber auf, was da auf ein Unternehmen zukommt. Für eine komplette Umweltbetriebsprüfung bietet sich laut Menzel zum Beispiel das Eco Management and Audit Scheme (EMAS) der EU an. Heißt konkret: Ein Gutachter kommt und durchleuchtet die Firma.
Wir müssen nicht nur in Nachhaltigkeit investieren, sondern auch nachhaltig investieren.
Ursula von der Leyen
Die Röhrig Granit GmbH lässt sich bereits seit 2004 Jahr für Jahr so zertifizieren. Das Familienunternehmen um den Geschäftsführer Marco Röhrig betreibt drei Steinbrüche im Süden von Hessen und liefert nach eigenen Angaben grob in einem Radius von 150 Kilometern aus. Für die Scope-1- und Scope-2-Emissionen kann die Firma bereits einen Durchschnittswert vorlegen. „Wir wollen das aber zukünftig je Produkt ausweisen, das ist viel aussagekräftiger“, erläutert Röhrig. Um Scope-3-Emissionen zu erfassen, hat sein Unternehmen selbst wiederum Fragebögen an seine Geschäftspartner verschickt. „Wir mussten dabei feststellen, dass gerade einmal ein Prozent unserer Geschäftspartner eine CO2-Bilanz vorlegen konnte“, erzählt er. Seiner Firma blieb daher nichts anderes übrig, als die Scope-3-Emissionen zu schätzen. Mit der EU-Taxonomie und der CSRD musste sich der Unternehmer zwar noch nicht direkt auseinandersetzen, er ist zu klein. „Wir erleben aber, dass in Ausschreibungen immer häufiger nach dem CO2-Fußabdruck gefragt wird“, berichtet er.
Viele mittelständische Unternehmen sorgen sich vor diesem Aufwand, die kleineren von ihnen haben zumeist keine eigene Nachhaltigkeitsabteilung. „Sie wissen gar nicht, wie sie das angehen sollen“, sagt Katharina Hurka, die für die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK) in Brüssel sitzt und sich mit EU-Regulierungen beschäftigt. Sie rät Managern, sich unbedingt mit anderen auszutauschen, die schon mehr Erfahrungen gemacht haben. Außerdem sagt Hurka: „In vielen Unternehmen wird es nötig sein, Personal einzustellen.“
Wer keines findet, hat noch eine andere Möglichkeit. Laut Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft, in dem sich Unternehmen wie der Bergsportausrüster Vaude und die Online-Suchmaschine Ecosia zusammengetan haben, gibt es viele Fortbildungsangebote. „Nachhaltigkeit sollte Teil der modernen Geschäftsstrategie sein“, sagt sie. Schon kleine Schritte würden helfen: „Auch als Unternehmen kann ich mein Konto bei einer nachhaltigen Bank haben.“ Wie Mitarbeiter zur Arbeit kommen, könne ebenfalls ein großer Hebel sein. Katharina Reuter findet sogar, dass Firmen die neuen Richtlinien als Chance begreifen sollen und nicht als bloße Pflicht zum Erfüllen nerviger Auflagen: „Es ist eine Investition in die Zukunftsfähigkeit jedes Unternehmens.“
Der Unternehmer Christian Jöst wartet nur noch darauf, dass die sich auszahlt.