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Vertraust du noch, oder misst du schon?

01. März 2023
ZEIT Redaktion

Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden: In Deutschland muss erfasst werden, wer wie lange arbeitet. Bei Unternehmern sorgt das für Frust.

von Anna Friedrich

Der Herbst begann mit einem Paukenschlag: Mitte September entschied das Bundes­arbeits­gericht (BAG), dass Unternehmen die Arbeits­zeit ihrer Mitarbeiter systematisch erfassen müssen. Nicht nur Über­stunden, sondern die komplette Arbeits­zeit. Jetzt ist die Regierung gefragt, das Urteil in ein Gesetz zu gießen. Zwar ist noch gar nicht klar, wann die Pflicht zur Arbeits­zeit­erfassung kommt, doch schon jetzt sorgt das #Stechuhrurteil, wie es in sozialen Netzwerken hundertfach verschlag­wortet wurde, für hitzige Diskussionen. „Mich hat überrascht, wie hochemotional das Thema diskutiert wird“, sagt die Unternehmerin Anna Weber, die ihrem Ärger auf der Plattform LinkedIn Luft gemacht und Hunderte Kommentare erhalten hat. Weber, 41, führt gemeinsam mit ihrem Bruder den Klein­kind­bekleidungs­händler BabyOne. Für die Unternehmerin ist klar: Das Urteil sei eine „Ohrfeige für alle, die Vertrauens­arbeits­zeit praktizieren oder großzügige Homeoffice-Regelungen haben“.

Im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dass die EU-Mitglieds­staaten ein System zur Arbeits­zeit­erfassung einführen müssen. Zwar steht dieses Vorhaben auch im Koalitions­vertrag der Regierung – genau wie die Absicht, flexible Arbeits­zeit­modelle wie etwa die Vertrauens­arbeits­zeit weiter zu ermöglichen. Doch passiert ist lange nichts. Nun ist zwar klar, dass die Pflicht kommt, aber nicht, wann und in welcher Form. Eine Einheits­lösung für alle dürfte schwierig werden.

Viel Unruhe gibt es deswegen unter den 25.000 Mitglieds­unternehmen des Deutschen Mittelstands-Bunds. Sie befürchten, „dass eine Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeits­zeit zu einem Verlust an Flexibilität und zu erhöhter und unnötiger Bürokratie führt“, sagt Marc S. Tenbieg, geschäfts­führender Vorstand des DMB. In kleinen und mittelgroßen Unternehmen beruhe die Einhaltung der Arbeits­zeit auf gegen­seitiger Verantwortung der Arbeitnehmer und Arbeit­geber, sagt Tenbieg, „und das funktioniert bislang gut“.

Die strenge Zeiterfassung kommt am Ende zweier Ausnahme­jahre, in denen sich die Arbeitswelt fundamental verändert hat. Erst musste jeder, der konnte, zu Hause arbeiten. Dann entwickelte sich in vielen Firmen eine hybride Arbeits­welt, in der gerade jüngere Unternehmer neue Raum­konzepte ausprobieren und digitale Tools einführen, um flexibler zu arbeiten – selbst in Branchen, die für Tradition stehen.

Kerstin Hochmüller etwa führt die Marantec Group, die seit Jahrzehnten Antriebe und Steuerungs­systeme für alle Arten von Toren herstellt. Im Büro müssen ihre Mitarbeiter stechen, daheim notieren sie ihre Arbeits­zeiten und schicken sie an die Personal­abteilung, die sie im System erfasst, erzählt Hochmüller. Das sei nicht nur aufwendig, sondern auch „komplett konträr zu unserer Kultur, vertrauens­voll miteinander zu arbeiten“. Deswegen wollte sie eigentlich zur Vertrauens­arbeits­zeit wechseln.

Die Gewerkschaften indes begrüßen das Urteil. „Diese Feststellung ist lange über­fällig“, sagt Anja Piel, Mitglied im Bundes­vorstand des Deutschen Gewerkschafts­bundes. „Die Arbeits­zeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Über­stunden bleibt seit Jahren auf besorgnis­erregend hohem Niveau.“ In der Tat haben die Deutschen im Jahr 2021 820 Millionen bezahlte und 890 Millionen unbezahlte Überstunden gemacht, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufs­forschung ermittelt.

Es gibt auch Unternehmer, die das Urteil zumindest in Teilen begrüßen. „Für einen Großteil der Arbeitnehmer in Deutschland kann Zeit­erfassung ein Vorteil sein“, kommentiert der Inhaber einer Schmuckmarke bei LinkedIn. „Bei Rollen, die physische Präsenz erfordern, kann eine zentrale Zeit­erfassung die Effizienz und auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter steigern.“ Seine 50 Mitarbeiter in der Auftrags­abwicklung wünschten sich eine Zeit­erfassung.

Manche Unternehmer finden, das Urteil sei nicht praktikabel

Bei Anna Weber von BabyOne herrscht noch Vertrauens­arbeits­zeit. Sie beschäftigt 160 Mitarbeiter in der Zentrale in Münster, hinzu kommen 350 Mitarbeiter in 30 Filialen in Deutschland und Österreich. Der Rest der 105 BabyOne-Läden wird von Franchise-Nehmern geführt. Eine Stechuhr gebe es nicht. Im Laden hielten sich die Mitarbeiter an die Schicht­pläne. In der Zentrale sei es flexibler: Mitarbeiter könnten selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten. „Wer beim Joggen auf gute Ideen kommt, soll das unbedingt tun“, sagt die Unternehmerin Weber. „Für uns zählen die Ergebnisse, nicht die dafür aufgewendete Zeit.“

Sobald das neue Gesetz kommt, dürfte das nicht mehr möglich sein: Jede Minute Arbeitszeit muss dann streng fest­gehalten werden. „Arbeite ich, wenn ich jogge und dabei meine nächste Präsentation im Kopf aufsage? Zählt die Dusche danach auch mit, wenn mir dort neue Ideen für die Sortiments­gestaltung kommen?“, fragt Anna Weber. „Wir kreisen unnötig um die Zeitfrage, ohne uns auf die Arbeits­ergebnisse zu fokussieren. Das bringt uns als Unternehmen nicht voran.“ Das Urteil sei nicht praktikabel.

Sie glaubt auch nicht, dass eine strikte Erfassung nötig ist, um Mitarbeiter vor Ausbeutung zu schützen. „Wenn ich meine Angestellten ausbeuten würde, wären die schneller weg, als ich gucken könnte.“ Das könne sich in Zeiten des Fach­kräfte­mangels kein Unternehmen leisten. Für sie hat die Fürsorge­pflicht des Arbeitgebers nichts mit Stunden­aufschreiben zu tun.

Stattdessen gibt es zur flexiblen Arbeitszeit einen fest­gelegten Rahmen dazu: Analog zum Arbeits­zeit­gesetz dürfen die BabyOne-Mitarbeiter nur eine bestimmte Zahl an Stunden am Stück arbeiten, müssen Pausen und Ruhephasen einhalten. Kontrolliert wird das aber nicht. Die Team- und Abteilungs­leiter hätten außerdem „ein Auge darauf“, wenn jemand regelmäßig abends im Büro sitze, und sprächen diejenigen darauf an. Wem es bei der Arbeit nicht gut geht, der liefert nach Webers Erfahrung eher schlechte Ergebnisse, als über Gebühr zu arbeiten. „Dann schauen wir auf die Gründe: Hat derjenige zu wenig Zeit für die Aufgabe? Zu wenig Wissen? Zu wenig Ressourcen?“

Die Verpflichtung zum Aufschreiben der Arbeitszeit löse das Problem der Überforderung nicht, meint Weber. Arbeitgeber seien eher gefordert, Entlohnungs­systeme besser zu machen, Talente mehr zu fördern, Themen anzugehen, „die uns nach vorne bringen“. Sie will ein Umfeld schaffen, in dem die Leute „Bock haben, Ziele zu erreichen“.

Kleine Unternehmen fürchten mehr Bürokratie

Zumal da die Einführung eines elektronischen Systems zur Zeiterfassung gerade kleine und mittlere Unternehmen vor technische und bürokratische Hürden stelle und ein Kosten­faktor sei, sagt der DMB-Vorstand Tenbieg. Der Gesetz­geber müsse folglich darauf achten, dass kleine und mittel­große Firmen nicht strukturell benachteiligt würden. Sein Verband plädiert dafür, gesetzlich von einer täglichen zu einer wöchentlichen Höchst­arbeits­zeit umzustellen, um Arbeit­gebern und Arbeit­nehmern mehr Flexibilität einzuräumen.

Und auch diejenigen, die bereits die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfassen, stehen jetzt vor neuen Heraus­forderungen. Kerstin Hochmüller von Marantec muss nun dafür sorgen, dass ihre 600 Leute die Arbeitszeit auch zu Hause elektronisch erfassen können. Zwei Personalerinnen haben sich mehrere Wochen mit dem Thema beschäftigt, um eine neue Betriebs­vereinbarung zu entwerfen. „Wir müssen, um rechts­sicher zu sein, Arbeits­modelle definieren, zwischen Tele­arbeits­platz und flexiblem Arbeiten unterscheiden, Themen wie Datenschutz und Arbeits­platz­bestimmungen mitdenken“, sagt die Unternehmerin. Jetzt muss noch der Betriebs­rat grünes Licht geben.

Hochmüller findet den Aufwand hoch und unzeit­gemäß: „Wir sprechen von Motivation und Leistung und sind davon überzeugt, dass Flexibilität und Vertrauen die Voraus­setzungen dafür sind. Stattdessen werden wir damit konfrontiert, zu beweisen, dass wir niemanden ausbeuten“, sagt die Unternehmerin, „statt in die Zukunft gehen wir zurück ins vergangene Jahrhundert.