Vertraust du noch, oder misst du schon?
ZEIT RedaktionDas Bundesarbeitsgericht hat entschieden: In Deutschland muss erfasst werden, wer wie lange arbeitet. Bei Unternehmern sorgt das für Frust.
Der Herbst begann mit einem Paukenschlag: Mitte September entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG), dass Unternehmen die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter systematisch erfassen müssen. Nicht nur Überstunden, sondern die komplette Arbeitszeit. Jetzt ist die Regierung gefragt, das Urteil in ein Gesetz zu gießen. Zwar ist noch gar nicht klar, wann die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung kommt, doch schon jetzt sorgt das #Stechuhrurteil, wie es in sozialen Netzwerken hundertfach verschlagwortet wurde, für hitzige Diskussionen. „Mich hat überrascht, wie hochemotional das Thema diskutiert wird“, sagt die Unternehmerin Anna Weber, die ihrem Ärger auf der Plattform LinkedIn Luft gemacht und Hunderte Kommentare erhalten hat. Weber, 41, führt gemeinsam mit ihrem Bruder den Kleinkindbekleidungshändler BabyOne. Für die Unternehmerin ist klar: Das Urteil sei eine „Ohrfeige für alle, die Vertrauensarbeitszeit praktizieren oder großzügige Homeoffice-Regelungen haben“.
Im Mai 2019 hatte der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dass die EU-Mitgliedsstaaten ein System zur Arbeitszeiterfassung einführen müssen. Zwar steht dieses Vorhaben auch im Koalitionsvertrag der Regierung – genau wie die Absicht, flexible Arbeitszeitmodelle wie etwa die Vertrauensarbeitszeit weiter zu ermöglichen. Doch passiert ist lange nichts. Nun ist zwar klar, dass die Pflicht kommt, aber nicht, wann und in welcher Form. Eine Einheitslösung für alle dürfte schwierig werden.
Viel Unruhe gibt es deswegen unter den 25.000 Mitgliedsunternehmen des Deutschen Mittelstands-Bunds. Sie befürchten, „dass eine Pflicht zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit zu einem Verlust an Flexibilität und zu erhöhter und unnötiger Bürokratie führt“, sagt Marc S. Tenbieg, geschäftsführender Vorstand des DMB. In kleinen und mittelgroßen Unternehmen beruhe die Einhaltung der Arbeitszeit auf gegenseitiger Verantwortung der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sagt Tenbieg, „und das funktioniert bislang gut“.
Die strenge Zeiterfassung kommt am Ende zweier Ausnahmejahre, in denen sich die Arbeitswelt fundamental verändert hat. Erst musste jeder, der konnte, zu Hause arbeiten. Dann entwickelte sich in vielen Firmen eine hybride Arbeitswelt, in der gerade jüngere Unternehmer neue Raumkonzepte ausprobieren und digitale Tools einführen, um flexibler zu arbeiten – selbst in Branchen, die für Tradition stehen.
Kerstin Hochmüller etwa führt die Marantec Group, die seit Jahrzehnten Antriebe und Steuerungssysteme für alle Arten von Toren herstellt. Im Büro müssen ihre Mitarbeiter stechen, daheim notieren sie ihre Arbeitszeiten und schicken sie an die Personalabteilung, die sie im System erfasst, erzählt Hochmüller. Das sei nicht nur aufwendig, sondern auch „komplett konträr zu unserer Kultur, vertrauensvoll miteinander zu arbeiten“. Deswegen wollte sie eigentlich zur Vertrauensarbeitszeit wechseln.
Die Gewerkschaften indes begrüßen das Urteil. „Diese Feststellung ist lange überfällig“, sagt Anja Piel, Mitglied im Bundesvorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes. „Die Arbeitszeiten der Beschäftigten ufern immer mehr aus, die Zahl der geleisteten Überstunden bleibt seit Jahren auf besorgniserregend hohem Niveau.“ In der Tat haben die Deutschen im Jahr 2021 820 Millionen bezahlte und 890 Millionen unbezahlte Überstunden gemacht, hat das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung ermittelt.
Es gibt auch Unternehmer, die das Urteil zumindest in Teilen begrüßen. „Für einen Großteil der Arbeitnehmer in Deutschland kann Zeiterfassung ein Vorteil sein“, kommentiert der Inhaber einer Schmuckmarke bei LinkedIn. „Bei Rollen, die physische Präsenz erfordern, kann eine zentrale Zeiterfassung die Effizienz und auch die Zufriedenheit der Mitarbeiter steigern.“ Seine 50 Mitarbeiter in der Auftragsabwicklung wünschten sich eine Zeiterfassung.
Manche Unternehmer finden, das Urteil sei nicht praktikabel
Bei Anna Weber von BabyOne herrscht noch Vertrauensarbeitszeit. Sie beschäftigt 160 Mitarbeiter in der Zentrale in Münster, hinzu kommen 350 Mitarbeiter in 30 Filialen in Deutschland und Österreich. Der Rest der 105 BabyOne-Läden wird von Franchise-Nehmern geführt. Eine Stechuhr gebe es nicht. Im Laden hielten sich die Mitarbeiter an die Schichtpläne. In der Zentrale sei es flexibler: Mitarbeiter könnten selbst entscheiden, wann und wo sie arbeiten. „Wer beim Joggen auf gute Ideen kommt, soll das unbedingt tun“, sagt die Unternehmerin Weber. „Für uns zählen die Ergebnisse, nicht die dafür aufgewendete Zeit.“
Sobald das neue Gesetz kommt, dürfte das nicht mehr möglich sein: Jede Minute Arbeitszeit muss dann streng festgehalten werden. „Arbeite ich, wenn ich jogge und dabei meine nächste Präsentation im Kopf aufsage? Zählt die Dusche danach auch mit, wenn mir dort neue Ideen für die Sortimentsgestaltung kommen?“, fragt Anna Weber. „Wir kreisen unnötig um die Zeitfrage, ohne uns auf die Arbeitsergebnisse zu fokussieren. Das bringt uns als Unternehmen nicht voran.“ Das Urteil sei nicht praktikabel.
Sie glaubt auch nicht, dass eine strikte Erfassung nötig ist, um Mitarbeiter vor Ausbeutung zu schützen. „Wenn ich meine Angestellten ausbeuten würde, wären die schneller weg, als ich gucken könnte.“ Das könne sich in Zeiten des Fachkräftemangels kein Unternehmen leisten. Für sie hat die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers nichts mit Stundenaufschreiben zu tun.
Stattdessen gibt es zur flexiblen Arbeitszeit einen festgelegten Rahmen dazu: Analog zum Arbeitszeitgesetz dürfen die BabyOne-Mitarbeiter nur eine bestimmte Zahl an Stunden am Stück arbeiten, müssen Pausen und Ruhephasen einhalten. Kontrolliert wird das aber nicht. Die Team- und Abteilungsleiter hätten außerdem „ein Auge darauf“, wenn jemand regelmäßig abends im Büro sitze, und sprächen diejenigen darauf an. Wem es bei der Arbeit nicht gut geht, der liefert nach Webers Erfahrung eher schlechte Ergebnisse, als über Gebühr zu arbeiten. „Dann schauen wir auf die Gründe: Hat derjenige zu wenig Zeit für die Aufgabe? Zu wenig Wissen? Zu wenig Ressourcen?“
Die Verpflichtung zum Aufschreiben der Arbeitszeit löse das Problem der Überforderung nicht, meint Weber. Arbeitgeber seien eher gefordert, Entlohnungssysteme besser zu machen, Talente mehr zu fördern, Themen anzugehen, „die uns nach vorne bringen“. Sie will ein Umfeld schaffen, in dem die Leute „Bock haben, Ziele zu erreichen“.
Kleine Unternehmen fürchten mehr Bürokratie
Zumal da die Einführung eines elektronischen Systems zur Zeiterfassung gerade kleine und mittlere Unternehmen vor technische und bürokratische Hürden stelle und ein Kostenfaktor sei, sagt der DMB-Vorstand Tenbieg. Der Gesetzgeber müsse folglich darauf achten, dass kleine und mittelgroße Firmen nicht strukturell benachteiligt würden. Sein Verband plädiert dafür, gesetzlich von einer täglichen zu einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit umzustellen, um Arbeitgebern und Arbeitnehmern mehr Flexibilität einzuräumen.
Und auch diejenigen, die bereits die Arbeitszeit ihrer Mitarbeiter erfassen, stehen jetzt vor neuen Herausforderungen. Kerstin Hochmüller von Marantec muss nun dafür sorgen, dass ihre 600 Leute die Arbeitszeit auch zu Hause elektronisch erfassen können. Zwei Personalerinnen haben sich mehrere Wochen mit dem Thema beschäftigt, um eine neue Betriebsvereinbarung zu entwerfen. „Wir müssen, um rechtssicher zu sein, Arbeitsmodelle definieren, zwischen Telearbeitsplatz und flexiblem Arbeiten unterscheiden, Themen wie Datenschutz und Arbeitsplatzbestimmungen mitdenken“, sagt die Unternehmerin. Jetzt muss noch der Betriebsrat grünes Licht geben.
Hochmüller findet den Aufwand hoch und unzeitgemäß: „Wir sprechen von Motivation und Leistung und sind davon überzeugt, dass Flexibilität und Vertrauen die Voraussetzungen dafür sind. Stattdessen werden wir damit konfrontiert, zu beweisen, dass wir niemanden ausbeuten“, sagt die Unternehmerin, „statt in die Zukunft gehen wir zurück ins vergangene Jahrhundert.