Der Matthäus-Effekt im Bildungsverlauf
„Wer hat, dem wird gegeben“: Welchen Werdegang Menschen in Deutschland einschlagen, hängt nach wie vor stark vom sozioökonomischen Hintergrund ab.
Die Bildungsbiografien in Deutschland ändern sich: Kinder kommen heute früher in die Kita, immer mehr Schülerinnen und Schüler schließen die Schule mit dem Abitur ab, und Weiterbildung nimmt in der beruflichen Karriere einen größeren Raum ein. Das zeigt auch der Nationale Bildungsbericht 2020. Der Bericht wird alle zwei Jahre vom Bundesbildungsministerium und der Kultusministerkonferenz herausgegeben.
Zugleich machen die dort vorgestellten Zahlen aber auch deutlich, dass die Bildungsschere immer weiter auseinandergeht: Wer welche Laufbahn in der Schule und in der beruflichen Bildung einschlägt, hängt nicht allein von Noten und Leistungen ab, sondern ist nach wie vor abhängig vom sozioökonomischen Hintergrund. Es gilt der in der Soziologie vielfach beschriebene Matthäus-Effekt – abgeleitet von dem Satz „Wer hat, dem wird gegeben“ aus dem Matthäus-Evangelium.
Übergänge sind im Bildungsverlauf „neuralgische Phasen“
Die unterschiedlichen Ausgangslagen im Bildungsverlauf machen sich insbesondere bei Bildungsübergängen bemerkbar – also beim Übergang von der Kita in die Grundschule, zwischen Grundschule und weiterführender Schule und beim Übergang von der Schule in den Ausbildungsmarkt oder das Studium.
Die Grundschulforscherin Gabriele Faust hat die Übergänge als „neuralgische Phasen“ bezeichnet. Neuralgisch, weil „zu diesen Zeitpunkten unter Unsicherheit Bildungsentscheidungen zu treffen sind, die möglicherweise zu langfristigen sozialen und migrationsgekoppelten Chancenungleichheiten führen, und weil sie für die Kinder und Familien Herausforderungen mit sich bringen, die durch Anpassungsleistungen bewältigt werden müssen“.
Die sprachliche Heterogenität in Bildungseinrichtungen wächst
Eine besonders große Herausforderung ist der Eintritt in die Schule. Kinder kommen oft mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in die Schule. Ein wesentlicher Grund für Übergangsprobleme ist dabei der Sprachstand. Die sprachliche Heterogenität hat sich im frühkindlichen Bereich zuletzt weiter erhöht. 2015 haben laut Bildungsbericht 18 Prozent der Drei- bis Sechsjährigen in Kindertageseinrichtungen zu Hause kein Deutsch gesprochen, 2019 waren es bereits 22 Prozent. In den Bundesländern Bremen, Berlin und Hessen liegt der Anteil sogar bei einem Drittel.
Um den Übergang zwischen Kita und Grundschule zu erleichtern, gibt es inzwischen aber Kooperationsmodelle zwischen Kita und Grundschule. An der Grundschule am Buntentorsteinweg in Bremen wird die Einschulung zum Beispiel abhängig vom individuellen Entwicklungsstand flexibel gehandhabt. Das heißt, nicht alle Vorschulkinder werden nach den Sommerferien automatisch zu Erstklässler:innen, sondern manche Kinder starten erst mal für einen begrenzten Stundenumfang in der Schule und bleiben die restliche Zeit noch in der Kita. Nach und nach wird der Schulbesuch dann ausgedehnt.
Kinder aus Akademikerfamilien bekommen eher eine Gymnasialempfehlung
Um Übergangsprobleme im Bildungsverlauf aufzufangen und die Anschlussfähigkeit zwischen den Bildungsstufen sicherzustellen, gibt es auch entsprechende Kooperationen zwischen Grundschulen und weiterführenden Schulen. Die große Herausforderung an dieser Schnittstelle besteht darin, dass die Verteilung auf verschiedene Schularten in Deutschland sehr früh stattfindet. In den meisten Bundesländern startet das gegliederte Schulsystem bereits nach der vierten Klasse.
Bei der Entscheidung, auf welche Schule ein Kind dann wechselt, spielt der sozioökonomische Hintergrund des Elternhauses eine wichtige Rolle. „In Deutschland werden sozial selektive Bildungsempfehlungen gegeben“, sagt der Soziologe Jörg Dollmann vom Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung im Interview mit dem Deutschen Schulportal. Kinder aus Akademikerfamilien würden eher eine Gymnasialempfehlung bekommen als Kinder aus Nichtakademikerfamilien.
Bei vier von fünf Schüler:innen in der Sekundarstufe I bleibt es laut Bildungsbericht dann bei der einmal getroffenen Entscheidung für die weiterführende Schule. 20 Prozent wechseln die Schulform, dabei geht es bei elf Prozent nach oben, also auf eine höhere Schulform.
Eltern haben starken Einfluss auf den Bildungsverlauf ihrer Kinder
Vielleicht der größte Bruch im Bildungsverlauf ist der zwischen Schule und Ausbildung oder Studium. Das liegt auch daran, dass hier flexible Übergänge kaum vorgesehen sind. Und die Unsicherheit bei den Jugendlichen ist offenbar auch sehr groß.
Für die Untersuchung „Schule, und dann?“ im Auftrag der Vodafone Stiftung wurden Schüler:innen in Deutschland befragt, wie es um ihre Berufsorientierung steht. Demnach hat nur knapp ein Drittel der Schulabgänger:innen eine konkrete Vorstellung von der beruflichen Zukunft. „Vielen Schülern fällt die Berufswahl eher schwer. Fast jeder Zweite, unabhängig von der besuchten Schulart, empfindet die Entscheidung, was er später beruflich machen möchte, als ziemlich oder sogar ausgesprochen schwierig“, heißt es in der Untersuchung.
56 Prozent fühlen sich auch nicht ausreichend über ihre beruflichen Möglichkeiten informiert. Bei der Berufswahl suchen die Jugendlichen daher meist den Schulterschluss mit ihren Eltern. Hier schlägt dann der sozioökonomische Hintergrund wieder durch: Eltern mit höherer Schulbildung wünschen sich meist ein Studium für ihr Kind. Eltern mit einfachem Bildungsabschluss raten öfter zu einer betrieblichen Ausbildung.
Zahlen aus dem Nationalen Bildungsbericht 2020 belegen, dass Abiturient:innen aus Akademikerfamilien selbst mit schwächeren Schulnoten eher studieren. Mit besten Abschlussnoten studieren 96 Prozent der Studienberechtigten aus Akademikerfamilien und 87 Prozent aus Nichtakademikerfamilien. Von den Abiturient:innen mit schwächsten Abschlussnoten studieren immer noch 71 Prozent aus Akademikerfamilien, allerdings nur 57 Prozent aus Nichtakademikerfamilien.