ZEIT für X
Bierkrug

Zahlen die das?

30. Mai 2023
ZEIT Redaktion

Strom, Gas und Rohstoffe sind deutlich teurer geworden. Viele Unternehmer fragen sich, wie sie die gestiegenen Kosten weitergeben und ihre Preise erhöhen können, ohne Kunden zu vergraulen.

von Niclas Seydack

Redaktioneller Beitrag aus: „ZEIT für Unternehmer Ausgabe 1/2023. Geschäftspartner der ZEIT Verlagsgruppe haben auf die journalistischen Inhalte der ZEIT Redaktion keinerlei Einfluss.“

Manchmal sorgt sich der Münchner Wiesnwirt Christian Schottenhamel vor bestimmten Bier­preisen, die er „magische Zahlen“ nennt. Beträge, bei denen Durstige schlag­artig sagen: Dann trink ich mein Bier halt woanders. Das war im Jahr 2014 so, als im Oktober­fest­zelt seiner Familie die Maß erstmals über zehn Euro kostete. Neulich war es wieder so weit. Schottenhamel, 60 Jahre alt, musste in seinem Paulaner am Nockherberg – ein rustikales Wirtshaus mit Biergarten – den Bierpreis auf fünf Euro für den halben Liter erhöhen. Zum ersten Mal. Es ging nicht anders. Die Energie­preise, die Preise für Fleisch und Bier sind enorm gestiegen. Fünf Euro für den halben Liter also – wieder so eine magische Zahl, sagt Schottenhamel. Wieder die Bedenken. Aber, das wundert ihn selbst, bisher hat er das Gefühl: Des basst scho. „Kein einziger Gast hat sich beschwert“, sagt er. Kein Bier wurde weniger getrunken. Schottenhamel holt sein Handy aus der Tasche, um die Reservierungen für den Abend zu prüfen: „Alles ausgebucht.“

8.3%

8,3% mehr als noch im Januar 2022 kostete ein Bier im Dezember 2022. Trotzdem stieg der Absatz gegen­über 2021 im Laufe des Jahres.

Viele Unternehmer fragen sich gerade, ob sie steigende Kosten an ihre Kunden weiter­geben können. Die Erzeuger­preise sind 2022 um gut 30 Prozent gestiegen, so drastisch wie noch nie seit Erfassung der Daten durch das Statistische Bundesamt. Laut einer Studie des Ifo-Instituts, für die 6000 Unternehmen befragt wurden, haben sie im Mittel gerade einmal ein Drittel dieser Kosten auf die Preise drauf­geschlagen. Natürlich müsste es eigentlich mehr sein.

Bloß sind die, die ihre Produkte kaufen sollen, ja selbst gebeutelt von einer Rekord­inflation. Und sie kaufen dann vielleicht weniger oder wechseln zur Konkurrenz. Schottenhamel und die anderen Unternehmer müssen sich über etwas den Kopf zerbrechen, das Volkswirte die „Preis­elastizität der Nachfrage“ nennen. Sie gibt an, wie stark die Nach­frage sinkt, wenn der Preis steigt. Es gibt Produkte, da passiert das kaum, etwa bei Sprit oder Brot. Ohne sie geht es eben nicht. Bei Bio-Lebens­mitteln ist es schon anders: Man kann ja auf konventionelle ausweichen.

Schottenhamel hätte natürlich Alternativen. Statt den Preis seiner Produkte zu erhöhen, könnte er die Qualität oder die Menge reduzieren. Mast­schwein statt bio, 0,4 Liter statt der klassischen Hoiben. Nach einer Umfrage der Zeitschrift Absatz­wirtschaft und der Beratung Anxo Management Consulting lehnt das ein Großteil der Führungs­kräfte aber ab – Schottenhamel auch. Doch wenn er an Qualität und Menge festhält, muss er eben den Preis erhöhen, damit sich sein Geschäft weiter rechnet. Bloß, wie gelingt eine Preis­erhöhung, ohne dass die Kunden sich abwenden?

Christian Schottenhamel schaut gerne und oft bei seinen Münchner Gastro-Kollegen rein – „ich glaub, man sieht’s auch“, sagt er. Gerade in letzter Zeit hat ihn etwas überrascht. Bei den Sterne­köchen ist es trotz Corona, Krieg und Inflation voll. Und in Schottenhamels Paulaner am Nockherberg ist das ähnlich, obwohl es keinen Luxus bietet: „Wir sind volksnah, wir wollen, dass sich jeder Geld­beutel bei uns wohl­fühlt.“ Man nimmt ihm ab, dass er kein Problem damit hat, wenn ein kauziger Opi bei ihm drei Stunden an einem Bier nuckelt. Schottenhamel kann und will sich solche Gäste auch erlauben.

Zur Wahrheit gehört aber auch: Bei Schottenhamel machen sich die, die seltener ins Restaurant gehen, womöglich einfach noch nicht bemerkbar. Sein Paulaner­garten, in dem das Unternehmen seine berühmten Fernseh­spots dreht, ist für viele Touristen das, was für Feinschmecker die Sterneküche ist: ein Sehnsuchtsort. „Es hilft natürlich, so eine Geschichte erzählen zu können“, gibt er zu und lässt sich eine Speisekarte bringen. Darauf steht: „I love BY – Bei uns kommt Heimat auf den Tisch“.

Zusätzlich zu Gerichten und Preisen – Saftgulasch vom heimischen Ochsen für 26 Euro oder Schweins­braten für 15,50 Euro – zeigt die Karte Fotos vom Bauernhof, der das Fleisch mit Bio-Siegel liefert. Neben dem Steinpilz-Zwiebel­rost­braten mit Kartoffeln und Speck­bohnen, 38 Euro, sieht man den Azubi, der am „Xaver“ Fleisch mariniert, dem Grill in der Küche, den Schottenhamel nach dem jüngsten Sohn benannt hat. Diese Geschichten, so stellt sich Schottenhamel das vor, erklären den Kunden, warum es bei ihm eben etwas teurer ist – und gerade noch etwas teurer wird. Aber solange die Preis­steigerungen verständlich gemacht würden und moderat ausfielen, sagt Schottenhamel, „fühlt sich da auch keiner über den Tisch gezogen. Die Leute spüren ja, dass es überall so ist.“

Ist das wirklich so? Anruf bei Martin Gornig vom Deutschen Institut für Wirtschafts­forschung (DIW). Der Ökonom sagt: „So eine Akzeptanz für Preis­erhöhungen wie momentan habe ich noch nie gesehen. Wenn man vor fünf Jahren gesagt hätte: Mein Produkt kostet ab jetzt 30 Prozent mehr, wäre der Kunde sofort wieder aus dem Laden raus­gegangen.“ Ein Grund dafür, dass es heute anders ist: Alle wüssten, dass es am Krieg in der Ukraine liege und nicht an der Gier der Anbieter. Und die Leute bekämen einen Schuldigen mitgeliefert: den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Dazu kommen branchenspezifische Besonderheiten. In der Baubranche etwa sei die Nachfrage schneller gestiegen, als das Angebot wachsen konnte, erklärt der Ökonom, Preis­erhöhungen seien gut durchsetzbar. Niemand will in ein Haus einziehen, das keine Toilette hat oder dem der Dachstuhl fehlt. Das gelte, sagt Gornig, auch für die Kunden in der Industrie. Die sogenannten Hidden Champions, die oft kaum bekannten Markt­führer, könnten die Preise leicht erhöhen, weil Kunden oft exakt deren Teile für die Herstellung der eigenen Produkte benötigten. Preis­erhöhungen akzeptiert also, Typ eins, derjenige, der nicht anders kann.

Der zweite Typ, den Gornig beschreibt, sind all die, die es sich leisten können, mehr zu bezahlen. Damit bestätigt er die Beobachtung des Wirts Schottenhamel. Wer beim Sternekoch acht Gänge bestellt, dem ist es egal, ob die 300 oder 350 Euro kosten. „Im Luxus­bereich ist es ja oftmals noch ein Ausweis besonderen Wertes, wenn ein Produkt besonders teuer ist.“ Wer sich etwas gönnen will und genug hat, der tut es eben trotzdem.

Es gibt einen weiteren Grund, warum Preis­erhöhungen akzeptiert werden. Viele Menschen, sagt Gornig, hätten während der Pandemie Geld angespart. Schlichtweg, weil die Gelegenheit fehlte, es im Urlaub oder im Restaurant auszugeben. Die Sparquote der Haushalte in Deutschland stieg 2021 laut Statistischem Bundesamts auf den historischen Höchstwert von 18,2 Prozent, und nach Angaben der Bundes­bank wuchs auch das Geld­vermögen der Deutschen in der Pandemie deutlich. Das heißt: Die Menschen des dritten Typs verfügen nun über Ersparnisse und kaufen Dinge, die ihnen früher zu teuer gewesen wären.

Was aber, wenn die Ersparnisse weg sind und Nachzahlungen für Strom und Gas ins Haus flattern? Bricht dann die Nachfrage ein? Gornig hält diese Sorge für über­trieben. Zum einen glaubt er, dass sich die Real­lohn­verluste in Grenzen halten werden. Zum anderen lobt er die Bundes­regierung für die Gas- und Strom­preis­bremse. Sie habe die Menschen beruhigt. Und wer keine Angst davor hat, wegen seines Heiz­verhaltens bankrott­zugehen, kauft weiter ein und besucht Restaurants. Das sei gut, denn der private Konsum treibe die Konjunktur. Viele Menschen akzeptieren also offenbar, dass wegen des Kriegs in der Ukraine nun einmal alles teurer wird.

Eine Ausnahme macht Gornig allerdings. Er nennt es „das Verhalten der Grenzkunden“ – also all jener, die jetzt schwanken, ob sie sich etwas leisten wollen, was sie nicht unbedingt brauchen. Es sind oft diejenigen, die nicht über größere Ersparnisse verfügen. Oder die zuletzt ihre Reserven aufgebraucht haben und nun sparsamer werden müssen.

Einer, der viel mit solchen Grenzkunden zu tun hat, ist der Unternehmer Florian Sieber, Chef des Spiel­waren­herstellers Simba-Dickie Group. Beim Besuch in der Zentrale in Fürth hat Sieber, 37 Jahre alt, gute Laune. Gerade findet nebenan in Nürnberg zum ersten Mal seit der Pandemie wieder die Spielzeugmesse statt, die größte der Welt. Sein Unternehmen zeigt dort, was es zu bieten hat: die Bobby-Cars von BIG, die Wasser­bahnen von AquaPlay und die Model­leisen­bahnen von Märklin; Sieber hat den Modellbauer 2013 übernommen.

Der Firmenchef erzählt von den turbulenten vergangenen drei Jahren. 2020 sei „ein weltweites Rekord­jahr für die Spiel­zeug­branche“ gewesen. Die Leute hatten viel Zeit zu Hause. Eltern, die Haupt­ziel­gruppe von Sieber, mussten den Nachwuchs in den eigenen vier Wänden bespaßen. 2021 folgte ein Jahr mit hoher Nachfrage und eingeschränktem Angebot durch angeschlagene Liefer­ketten aus China. 2022 war es dann wieder anders: Eine Nachfrage-Delle traf auf weiter schwierige Bedingungen in der Lieferkette. Das Resultat: sieben Prozent Umsatzrückgang, gut 50 Millionen Euro weniger als im Jahr zuvor. Trotz eines guten Weihnachts­geschäfts. „Das ist schade“, sagt Sieber. „Aber angesichts von allem, was passiert ist, bin ich zufrieden.“

0.2%

0,2% mehr kostete Spielzeug im Dezember 2022 im Vergleich zum Januar 2022 – trotz Inflation. Für die Hersteller ist das ein Problem.

Sieber hat die Preise zuletzt im Frühjahr 2021 erhöht, zwischen vier und zehn Prozent hat er auf die Spielzeuge drauf­geschlagen. Eigentlich hätte er sie im Herbst erneut verteuern müssen. Aber er hat sich anders entschieden: „Bei angespannter Kaufkraft können wir keine Preise erhöhen.“ Eltern würden sich in diesen Zeiten zweimal überlegen, ob das alte Bobby-Car nicht noch einen Sommer durchhält. Besonders junge Eltern hätten oft nur wenig Rücklagen, sagt er. Sie reagierten auf Preis­erhöhungen sensibel. Ökonomen würden sagen: Ihre Nachfrage ist besonders preis­elastisch.

Und sie ist deutlich preiselastischer als die von Siebers zweiter Zielgruppe: den sogenannten „Kidults“. Dabei handelt es sich um Erwachsene, vor allem Männer, mit gutem Einkommen. Sie machen mittlerweile etwa 15 Prozent des Firmen­umsatzes aus. Diese Menschen hätten kein Problem damit, für 150 Euro eine Hightech-Wasser­pistole zu kaufen, deren Wasser­strahl sich elektronisch verstärken lässt und die über ein Display verfügt, das den Wasserstand angibt.

Ähnlich verhalten sich die Sammler der Modellbau-Marke Märklin, die Sieber während des Gesprächs gerne „unsere Modell­bahn­freunde“ nennt. Für sie hat er das Märklineum bauen lassen, ein Museum, das 35.000 Modell­bahn­freunde im Jahr besuchen. Ihnen erklärt Sieber die Preis­erhöhungen im firmen­eigenen Märklin Magazin. Gerade in den Produktions­werken in Osteuropa seien lang­fristige Verträge mit Energie­anbietern unüblich. Er müsse halt zahlen, was die verlangen. Und das sei im letzten Jahr ein „niedriger sieben­stelliger Betrag“ zusätzlich gewesen. Dennoch habe Märklin seinen Absatz im Jahr 2022 sogar leicht steigern können. Ein Märklin-Fan, der seine Sammlung ein Leben lang aufgebaut hat, wechselt nicht plötzlich zum Konkurrenten, weil der ein paar Euro günstiger ist. Sieber ist zudem überzeugt, dass so eine Modell­eisenbahn in diesen Zeiten noch aus einem anderen Grund gefragt ist: „Je schlimmer die Welt gefühlt ist, desto lieber flüchtet man vor ihr“, sagt Sieber – etwa „in die selbst gebaute Modellbau-Welt, in der alles so funktioniert, wie man es mag“. Das Beispiel zeigt: Wer als Unternehmer höhere Preise verlangen möchte, braucht nicht nur Kunden. Er braucht Fans.