„Wir brauchen an den Schulen endlich multiprofessionelle Teams.“
Eva-Maria Osterhues-Bruns vom Grundschulverband erklärt im Interview, was im kommenden Schuljahr auf die Grundschulen zukommt. Sie rechnet mit mehr förderbedürftigen Erstklässler:innen, denen aufgrund der Einschränkungen während der Pandemie wichtige Vorkenntnisse und Fertigkeiten fehlen.
Wenn im kommenden Schuljahr 2022/23 die Erstklässler:innen eingeschult werden, müssen sich die Grundschulen auf einen ganz besonderen Jahrgang einstellen. Durch die Einschränkungen während der Coronapandemie bringen die Kinder verstärkt Defizite in Sprache, Motorik und sozialem Miteinander mit. Eva-Maria Osterhues-Bruns vom Grundschulverband erklärt im Interview, was das für die Grundschulen bedeutet und was diese jetzt brauchen.
Studio ZX: Pandemiebedingt kommen die Erstklässlerinnen und Erstklässler teilweise mit anderen Voraussetzungen in die Schule als noch vor zwei Jahren. Wie stellen sich Grundschulen darauf ein?
Eva-Maria Osterhues-Bruns: Grundschulen müssen sich schon seit Jahren auf eine sehr heterogene Schülerschaft bei der Einschulung einstellen. Das ist also nicht neu, allerdings verstärken die Folgen der Corona-Pandemie diese Tatsache noch einmal. Größer geworden sind vor allem Sprachdefizite, das zeigen unsere Beobachtungen. Dabei sind meist jene Kinder betroffen, die vorher schon Schwierigkeiten hatten. Aber auch logopädische Aspekte spielen verstärkt eine Rolle, etwa wenn Kinder immer wieder bestimmte Laute nicht richtig aussprechen, zum Beispiel Kreppe statt Treppe sagen. Normalerweise können Sprachdefizite durch eine logopädische Therapie vor dem Schuleintritt relativ einfach behoben werden. Doch diese Therapien haben während der Pandemie häufig nicht stattgefunden. Aber auch der teilweise geringe Wortschatz einzelner Kinder ist recht auffällig. Ihnen fehlen Worte für Begrifflichkeiten oder Tätigkeiten, um sich gezielt sprachlich verständigen zu können. So wird auch das Führen von Gesprächen schwieriger. Wachsende Defizite machen sich zudem im sozialen Miteinander der Kinder bemerkbar. Vielen Einschulungskindern wird es schwerfallen, zuzuhören, wenn andere reden, und sich auch mal zurückzunehmen. Normalerweise lernen sie diese Fähigkeiten in der Kita. Auch der verstärkte Bewegungsmangel hat Auswirkungen. Fehlende Körperspannung ist ein Thema, und die Grob- oder Feinmotorik bereitet einigen Kindern Schwierigkeiten. Darauf müssen Schulen reagieren.
Wachsende Defizite machen sich im sozialen Miteinander der Kinder bemerkbar. Vielen Einschulungskindern wird es schwerfallen, zuzuhören, wenn andere reden, und sich auch mal zurückzunehmen.
Welche Strategien haben Grundschulen, damit im kommenden Schuljahr umzugehen?
Auf jeden Fall ist der Austausch mit den Kitas im Vorfeld der Einschulung wichtig. Auch wenn die Zusammenarbeit mit den Kindergärten Aufgabe der Grundschule ist, steht beim konkreten Austausch der Datenschutz teilweise im Weg. Ohne Einverständnis der Eltern dürfen Informationen nicht weitergegeben werden. Viele Grundschulen beginnen daher die Schule auch mit einer umfassenden Diagnostik der Kinder.
Eva-Maria Osterhues-Bruns ist beim Grundschulverband als Fachreferentin für Pädagogische Praxis tätig. Sie ist zudem stellvertretende Schulleiterin an einer Grundschule in Niedersachsen.
Sollte eine solche Diagnostik für alle Grundschulen verbindlich vorgeschrieben werden?
Die Diagnostik nützt wenig, wenn sie nur Selbstzweck ist. Sie ist nur sinnvoll, wenn daraus tatsächlich Schlüsse für die individuelle Förderung gezogen werden. Zudem reicht ein einmaliger Test nicht aus. Neben dieser Anfangsdiagnose müssen Lehrkräfte prozessbegleitend immer wieder schauen, wo die Kinder stehen. Entscheidend ist der Blick auf die Lernentwicklung. Das ist eine Frage der Lernkultur. Allzu häufig steht noch der Blick auf wenig aussagekräftige Noten im Vordergrund.
Welche pädagogischen Konzepte haben sich bewährt, wenn es darum geht, einer heterogenen Schülerschaft in der Schulanfangsphase gerecht zu werden?
Das gleichschrittige Lernen nach dem Muster „Wir lernen jetzt alle das E“ funktioniert nicht mehr. Einige können schon lesen, andere kennen noch keine Buchstaben. Grundschulen müssen differenziert arbeiten. Dafür gibt es verschiedene Konzepte. In jahrgangsübergreifenden Klassen beispielsweise wird dieses differenzierte Arbeiten gestärkt. Für die Kinder hat das Modell den Vorteil, dass sie schneller und langsamer lernen können, ohne den Klassenverband für das Überspringen oder Wiederholen wechseln zu müssen. Das soziale Miteinander wird unterstützt durch Unterrichtsangebote, bei denen Kinder zu zweit oder in der Gruppe mit unterschiedlichen Aufgaben an einem Thema arbeiten.
Das gleichschrittige Lernen nach dem Muster ‚Wir lernen jetzt alle das E‘ funktioniert nicht mehr. Grundschulen müssen differenziert arbeiten.
Viele erfolgreiche Grundschulen arbeiten mit Helfersystemen, in denen sich Kinder gegenseitig beim Lernen unterstützen. Wichtig ist es, immer auch die Eltern mitzunehmen, zum Beispiel in gemeinsamen Feedbackgesprächen mit den Kindern. Eltern können die Entwicklung zu Hause unterstützen, etwa durch Sprach- oder Bewegungsanlässe.
Der Bewegungsmangel ist zu einem gravierenden Problem geworden. Ist es noch sinnvoll, Kinder in der Schule vor allem sitzend zu unterrichten?
Bewegung gehört nicht nur in die Hofpause, sondern auch in den Unterricht. An vielen Schulen gibt es schon sogenannte Bewegungspausen, in denen beispielsweise Bewegungslieder gesungen oder rhythmische Sprechverse durch Bewegung unterstützt werden. Aber auch Entspannungssequenzen haben hier ihren Platz. Das sollte verstärkt werden. Wichtig ist es, die Schulgebäude entsprechend auszustatten. Kinder brauchen unterschiedliche Lernumgebungen, nicht nur den Klassenraum mit Tischen und Stühlen. Auch der Schulhof muss verschiedene Bewegungsmöglichkeiten eröffnen. Ein asphaltierter Schulhof bietet wenig Möglichkeiten, Bewegungserfahrungen zu sammeln. Hier sollten die Schulträger verstärkt investieren.
Schülerinnen und Schüler aus benachteiligten Familien sind besonders stark betroffen. Welche Unterstützung benötigen die Grundschulen?
Ein erster Schritt, um diesen Kindern zu helfen, können Aufholprogramme sein. Schulen benötigen dann zusätzliches Personal in den Klassen oder für Ferienangebote wie Schwimmkurse oder geöffnete Schulbibliotheken während der Ferien. Aber das reicht noch nicht. Wir brauchen an den Schulen endlich multiprofessionelle Teams, mit Fachkräften aus den Bereichen Logopädie, Ergotherapie, Psychologie sowie Sozial- und Sonderpädagogik. Und die Lehrkräfte müssen vertraglich geregelte Zeiten haben, in denen sie sich mit diesen Teams austauschen.
Außerdem sollten Schulen anders gebaut oder umgebaut werden. Für die individuelle Förderung braucht es unterschiedliche Funktions- und Bewegungsräume. Das ist auch im Hinblick auf den Ganztagsausbau ein sehr wichtiger Aspekt.