Leichte Sprache für mehr Teilhabe
Wie bitte? In dieser Reihe zeigen wir, wie komplexe Informationen so aufbereitet werden können, dass jede:r sie versteht. Heute: Leichte Sprache.
„Das Land Niedersachsen ist ein freiheitlicher, republikanischer, demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat.“ Sätze wie dieser aus der Niedersächsischen Landesverfassung sind für die meisten Menschen schwer zu verstehen – und für Menschen mit einer geistigen oder einer Lernbehinderung gar nicht. Einer von ihnen ist Detlef Erasmy.
„Menschen wie Detlef, die wichtige Informationen aufgrund ihrer Behinderung nicht oder nur schwer verstehen, können an unserer Demokratie nicht richtig teilhaben“, erklärt Marion Klanke. Die 38-Jährige ist Leiterin des Büros für Leichte Sprache in Bremen und setzt sich in dieser Funktion seit mehr als fünf Jahren dafür ein, dass Informationen in Leichter Sprache die Teilhabe für Menschen mit geistiger Behinderung oder mit Leseschwierigkeiten ermöglichen.
Detlef Erasmy, 64, wurde 2014 der Bundesverdienstorden vom damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck verliehen. Er hatte sich für eine Verkleinerung des Schwerbehindertenausweises eingesetzt. Viele störten sich daran, dass dieser die Behinderung der tragenden Person durch das auffällige Format sofort zu erkennen gab. Erasmy sammelte Tausende von Unterschriften und trug das Anliegen in die zuständigen Gremien – bis es im Jahr 2013 umgesetzt wurde.
Millionen Menschen profitieren von Leichter Sprache
Zum Gespräch mit ZEIT für Demokratie hat sie den ehemaligen Angestellten Detlef Erasmy mitgebracht, der bis zu seinem Renteneintritt vor wenigen Wochen als Textprüfer Teil des Teams war. Lange Sätze, Fremdwörter, umständlicher Satzbau – all das erschwert es dem 64-Jährigen, Textinhalte zu begreifen. So wie Erasmy geht es laut dem Statistischen Bundesamt in Deutschland rund einer Million Menschen mit geistiger Behinderung. Zählt man noch Analphabet:innen, ältere Menschen und Menschen mit geringen Deutschkenntnissen hinzu, profitieren je nach Quelle sogar über zehn Millionen Menschen von Einfacher oder Leichter Sprache.
Im Büro für Leichte Sprache in Bremen arbeiten neben Marion Klanke vier weitere Übersetzer:innen, die beispielsweise Sprachwissenschaften studiert haben, und zwei Personen mit geistiger Behinderung als Textprüfer:innen zusammen. Unternehmen, Vereine oder Behörden beauftragen beim Büro Texte in Leichter Sprache, oft versehen mit einfachen Erklärgrafiken, die zur Verständlichkeit beitragen. Das Team formuliert die Texte so lange um und prüft sie, bis jeder Satz und jedes Wort verständlich ist. „Dieses Teamwork ist so wichtig, weil unsere beiden Prüfer:innen direkt aus der Zielgruppe stammen. So sehen wir ganz genau, welche Formulierung klappt und welche nicht“, erklärt Klanke. Zwar gebe es Regelwerke für Einfache und Leichte Sprache, allerdings noch keine bundes- oder europaweite Norm, die aber bereits im Gespräch ist.
Immer noch Nachholbedarf
Klanke bemerkt ohnehin einen steigenden Bedarf an Leichter Sprache: „Wir haben so viel zu tun, dass wir einige Anfragen ablehnen müssen.“ Neben der gestiegenen Sensibilität für Menschen mit Behinderung nennt Klanke einen weiteren Grund: Eine EU-Richtlinie über den barrierefreien Zugang zu den Websites und mobilen Anwendungen öffentlicher Stellen verpflichtet seit 2020 zur barrierefreien Gestaltung von Internetangeboten. Dazu gehört auch die Leichte Sprache. So kommt es, dass Detlef Erasmy schon Texte für die Website der Stadt Bremen, die Verwaltungs-Berufsgenossenschaft oder für das Bundesjustizministerium geprüft hat.
Mich macht es immer noch wütend, wenn ich in der Arztpraxis bin oder einen Brief bekomme und nicht verstehe, was los ist.
Detlef Erasmy, Büro für Leichte Sprache
Doch noch heute ist er in vielen Alltagssituationen auf Hilfe angewiesen: „Mich macht es immer noch wütend, wenn ich in der Arztpraxis bin oder einen Brief bekomme und nicht verstehe, was los ist.“ Er müsse dann erst seinen Betreuer fragen, ob er ihm den Inhalt erklären könne. „Ich verstehe zwar das meiste, aber oft eben nicht alles“, ärgert sich Erasmy. Ähnlich hat es Marion Klanke erlebt: Die Literaturwissenschaftlerin hat nach dem Studium als Lektorin in Verlagen gearbeitet und schon damals gemerkt, dass lange, verschachtelte Sätze und Fremdwörter schlau klingen, aber nicht immer schlau sind. „Dass Menschen auf diese Weise ausgegrenzt werden, war für mich eigentlich immer ein Unding“, erinnert sich die 38-Jährige. Sich für eine Sprache einzusetzen, die jede:r versteht, sei ihr spätestens seit ihrem berufsbegleitendem Zweitstudium bei der Forschungsstelle Leichte Sprache der Uni Hildesheim eine Herzensangelegenheit.
Fehlende Sensibilität bei Kritik am „Deppendeutsch“
Doch nicht alle sind von Leichter Sprache begeistert. Als die Wahlbescheide zur Bremer Bürgerschaftswahl 2015 in Leichte Sprache übersetzt wurden, gab es einen regelrechten Aufschrei. Wütende Anrufer:innen beschwerten sich direkt beim Büro für Leichte Sprache, und in den Kommentarspalten im Netz tobte ein Shitstorm. Dort warnten vornehmlich rechte Medien und Blogger:innen, aber auch lokale Politiker:innen und Journalist:innen vor einer „Volksverdummung“. Das Argument: Durch Sprachregelungen wie den Wegfall des Genitivs würde die deutsche Sprache zur „Kindersprache“ oder zum „Deppendeutsch“ verfallen. Ein Bildungsexperte der Universität Bremen kritisierte das Modellprojekt als „bildungsfeindlich“ und als „gefährliche Abwertung der sprachlichen Bildung“.
Menschen, die wichtige Informationen aufgrund ihrer Behinderung nicht oder nur schwer verstehen, können an unserer Demokratie nicht richtig teilhaben
Marion Klanke, Leiterin Büro für Leichte Sprache
Diese Kritik sei für Klanke vor allem ein Zeichen von mangelnder Sensibilität. Sie betont, dass die Leichte Sprache nichts ersetzen, sondern ein Zusatzangebot für Menschen, die auf sie angewiesen sind, sein soll. Wenn der Genitiv das Leseverstehen vieler Menschen erschwere, dann könne man bei zusätzlichen Angeboten darauf verzichten, findet sie. Denn Sprache hat in einem demokratischen System in erster Linie die Funktion, Informationen zugänglich zu machen. Klanke: „Ist dieser Zugang erschwert, funktioniert unser System nicht richtig. ‚Demokratie‘ schließt ja im eigentlichen Wortsinn alle Bürgerinnen und Bürger mit ein – und weder der Zugang durch eine Rollstuhlrampe noch durch einen Text in verständlicher Sprache sollte ein Grund zur Aufregung sein. Denn nur so können alle teilhaben und wir alle voneinander profitieren.“
Teilhabe durch Leichte Sprache
Dafür, dass Menschen mit Behinderung ein Gewinn für die Gesellschaft sein können, ist Detlef Erasmy ein lebendes Beispiel: Der gebürtige Bremer ist ehrenamtlich engagiert, war bei der Bundestagswahl als Wahlhelfer aktiv und hat für seinen Einsatz für die Verkleinerung des Behindertenausweises einen Bundesverdienstorden verliehen bekommen. Möglich macht ihm die Teilhabe auch die Leichte Sprache – etwa bei Wahlunterlagen oder Gesetzestexten. Damit Detlef Erasmy etwa den Paragrafen aus der Niedersächsischen Landesverfassung verstehen kann, hat ihn das Büro für Leichte Sprache wie folgt übersetzt:
„Alle Einwohner in Niedersachsen haben die gleichen Rechte und können frei leben.
Die Einwohner dürfen bei Wahlen entscheiden.
Jeder muss sich an die Gesetze halten.
Jeder bekommt Hilfe, wenn er Hilfe braucht.
Das Land Niedersachsen achtet auf die Umwelt.
So können alle gut und gesund leben.
In der Verfassung steht das so:
Das Land Niedersachsen ist ein freiheitlicher, republikanischer, demokratischer, sozialer und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen verpflichteter Rechtsstaat.“
Das Büro für Leichte Sprache
Hervorgegangen aus der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung Bremen e. V., einem Verein für Angehörige, Fachleute und Freiwillige für ein gutes gemeinsames Leben von Menschen mit und ohne Behinderung. Unter der Leitung von Marion Klanke arbeitet ein sechsköpfiges Team daran, Texte für Websites, Broschüren oder andere Medien in Leichte Sprache zu übersetzen.